vague.

Samstag, 3. September 2022

Ich erinnere mich (10/15)

Ich erinnere mich an "Anspieltipp".

Ich erinnere mich an "in Wien war ich noch nie".

Ich erinnere mich an "das hört sich so charmant an". 

Ich erinnere mich an "dann vermissen Sie doch sicher die Berge".

Ich erinnere mich an Frühstücke in Studentencafés (Milchkaffee, Croissant, Gitanes, Aspirin).

Ich erinnere mich an Generation Golf.

Ich erinnere mich an Tristesse Royale

Ich erinnere mich an Generation X.

Ich erinnere mich an "Generation Praktikum".

Ich erinnere mich an "Ferialpraktikant".

Ich erinnere mich an Ebooks.

Ich erinnere mich an das "haptische Erlebnis" bei "richtigen" Büchern. 

Ich erinnere mich an Too Young.

Ich erinnere mich, dass ich mir manchmal überlegte, wie lange ich noch Zeit für mein Meisterwerk hätte. 

Ich erinnere mich an die Schwerhörigkeit meines Vaters und dass er sich zwischendurch auf die Ohren schlug, um den Sitz seiner Hörgeräte zu verbessern.

Ich erinnere mich an Schulbuchgutscheine.

Ich erinnere mich an einen Arikel über Serge Gainsbourg, in dem es hieß, er habe nach einem Herzinfarkt die Decke der Sanitäter, die ihn ins Krankenhaus bringen wollten, abgelehnt und stattdessen auf seine Kaschmir-Decke gezeigt.



Wimmelbild mit Serge Gainsbourg.

Ich erinnere mich, dass im selben Artikel stand, er habe sich sein Portemonnaie mit Gitanes vollgestopft, weil er wusste, dass er im Krankenhaus keine bekommen würde.

Ich erinnere mich an das Kommunistische Manifest, vorgelesen von Christian Brückner.

Ich erinnere mich an David Staretz.

Ich erinnere mich an Jan Morris und dass ich ihr Buch über Triest in Sidney las.

Ich erinnere mich an die Schallplatte mit Geräuschen, die Embryos im Mutterleib hören – es klang wie die Einstürzenden Neubauten.

Ich erinnere mich an Ich will mal irgendwo hin.

Ich erinnere mich an À nos amours.

Ich erinnere mich an transbeauty.

Ich erinnere mich an Murmel. 

Ich erinnere mich an die Deutsch Amerikanische Freundschaft.

Ich erinnere mich, dass Xao Seffcheque beim DAF-Konzert auf die Bühne kam und sagte, dass die Wiener Punks alle Arschlöcher seien.

Ich erinnere mich, dass Xao Seffcheque daraufhin mit Stühlen beworfen wurde (es war ein bestuhltes Punk-Konzert…).

Ich erinnere mich an die Geschichte, Udo Lindenberg habe in seiner Adressen-Datenbank jede Frau, mit der er geschlafen hatte, mit "wr" markiert – der Abkürzung für "white rain". 

Ich erinnere mich an die Geschichte, es gäbe ein Bordell, in das "alle" Spiegel-Redakteure gingen, und dass es dort manchmal zu unliebsamen Begegnungen kam.

Ich erinnere mich an Zeitschriftenartikel über die Angst, in der Sauna den Chef zu treffen. Und dann nicht recht zu wissen, was man mit ihm reden sollte.

Ich erinnere mich an Zeitungsartikel über Beschwerden von Liquidrom-Besuchern, sie hätten im warmen Wasser Menschen beim Sex gesehen.

Ich erinnere mich an die Anorektikerin im Liquidrom, bei der ich mich erschrocken fragte, wie sie es geschafft hatte, überhaupt noch aus dem Bett zu kommen.

Ich erinnere mich an Schnitzelberge.

Ich erinnere mich, dass mir Atomkraftwerke immer ziemlich egal gewesen sind. Selbst nach Fukushima.

Ich erinnere mich, wie unangenehm mir das Design von Atomkraft-Nein-Danke-Stickern gewesen ist.

Ich erinnere mich, wie unangenehm mir Smileys gewesen sind.

Ich erinnere mich, dass man nach Tschernobyl eine Zeitlang keine Pilze essen sollte.

Ich erinnere mich, dass wir auf dem Urfahraner Jahrmarkt einen Mitschüler trafen, der meiner Mutter erzählte, er habe seine Mutter verloren. Woraufhin sie dachte, sie sei gestorben. Dabei hatte er sie wirklich nur aus den Augen verloren.

Ich erinnere mich, dass ich mit 13, also noch nicht strafmündig, beim Versuch erwischt wurde, im Passage-Kaufhaus eine Schallplatte zu stehlen, um die ich davor eine halbe Stunde herumgeschlichen war.

Ich erinnere, dass die Platte, die ich stehlen wollte, Stuck in the Middle With You von Stealers Wheel war.

Ich erinnere mich, dass ich das Ejakulations-Geräusch auf Relax! von Frankie Goes to Hollywood mit dem Mehrspur-Tonbandgerät meines Bruders so oft aneinander montierte, bis es sich anhörte, als hätte jemand eine anderthalb Minuten lange Ejakulation.

Ich erinnere mich an schwedische Wörter.



Schwedische Wörter.

Ich erinnere mich an "erotische Romane".

Ich erinnere mich, dass in erotischen Romanen manchmal der Autor damit angab, wie oft er in einer Nacht gekommen sei.  

Ich erinnere mich an "multiple Orgasmen".

Ich erinnere mich an "vaginale" und "klitorale" Orgasmen.

Ich erinnere mich an vorgetäuschte Orgasmen.

Ich erinnere mich an "Orgasmuslücken". 

Ich erinnere mich, dass es ständig und überall Artikel über Orgasmen gab.

Ich erinnere mich an Virgil Abloh.

Ich erinnere mich an Alexander McQueen.

Ich erinnere mich an die Zeitschrift Filmkritik.

Ich erinnere mich an die Website Neue Filmkritik.

Ich erinnere mich an unseren letzten Sommer zu dritt.



Im letzten Sommer zu dritt.

Ich erinnere mich an unseren ersten Sommer zu viert.



Im ersten Sommer zu viert.

Ich erinnere mich an Haustauschferien.

Ich erinnere mich an Billigflüge.

Ich erinnere mich an Air Berlin.

Ich erinnere mich Mozartkugeln und Walzer beim Verlassen des Flugzeugs.

Ich erinnere mich an das Eis nach dem Kita-Abholen. Immer Schoko und Mango Lassi.

Ich erinnere mich, wie ich ihr das Fahrradfahren beigebracht habe. 

Ich erinnere mich, wie sie beim Fahrradfahren immer "Ich sehe was, was du nicht siehst" spielen wollte. 

Ich erinnere mich, wie ich ihr das Schwimmen beigebracht habe. 

Ich erinnere mich, wie glücklich es mich oft gemacht hat, dass die meisten Tage gleich verliefen.

Ich erinnere mich, wie unglücklich es mich oft gemacht hat, dass die meisten Tage gleich verliefen.

Ich erinnere mich an uns.

Ich erinnere mich an meine Unfähigkeit, zu Sylvester euphorisch aus mir herauszugehen.

Ich erinnere mich an Artikel über Windeln wechselnde Männer.

Ich erinnere mich, dass ich mich im Sommer manchmal fast übergeben musste, wenn ich Kackwindeln wechselte.

Ich erinnere mich an Tragetücher. Und dass ich sie nicht leiden konnte, weil es war, als müsse man mit einer Wärmeflasche vor dem Bauch herumlaufen. 

Ich erinnere mich an personalisierte Turnschuhe.

Ich erinnere mich an meinen Zivildienst in der Volkshochschule.

Ich erinnere mich, dass ich bei meinem Zivildienst in der Volkshochschule auch für den Kino-Einlass zuständig war und Mixtapes mit Songs aufnahm, die man hörte, während sich der Kinosaal füllte. Und dass sich auf einem dieser Mixtapes ein Stück von Art of Noise mit der Zeile Suicide is painless befand. Und dass ich das irgendwie lustig fand.  

Ich erinnere mich an meinen All I Want is the Means of Production-Weihnachtssweater mit einem Porträt von Karl Marx, auf dem er wie der Weihnachtsmann aussah. Und dass ich das irgendwie lustig fand.

Ich erinnere mich, dass es bei meiner Großmutter noch keinen elektrischen Kühlschrank gab, sondern einen Eiskasten, der mit einem riesigen Eisblock gefüllt wurde, der jede Woche von einem Eisblockfahrer geliefert wurde.

Ich erinnere mich an Onkel Joe.

Ich erinnere mich an Onkel Toni.

Ich erinnere mich an die Frau aus dem Erdgeschoss, die sich innerhalb eines Jahres zu Tode trank, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte.

Ich erinnere mich an die gegrillten und karamellisierten Grapefruits, die es in The Egg gab.



The Egg.

Ich erinnere mich, dass bei uns alle paar Monate neue Wochenend-Essrituale ausbrachen: Gegrillte und karamellisierte Grapefruits. Bratkartoffel. Die Freitagsrippchen. Oder das Sonntagshuhn noch in Hamburg, das man bei einem Stand am Grindel vorbestellen musste.

Ich erinnere mich, dass eines Sonntags jemand Fremder sich das Sonntagshuhn einpacken ließ, das ich vorbestellt hatte. Weil der Standbesitzer so schlau war, den Fremden zu fragen, ob er denn Praschl hieße. Statt ihn einfach nach seinem Namen zu fragen.

Ich erinnere mich, dass mich das noch jahrelang empört hat.

Ich erinnere mich an Witze über betrunkene Tätowierer.

Ich erinnere mich an eine Geschichte, in der ein Tätowierer jemanden einen Kühlschrank auf den Rücken tätowiert hatte. Und an meine  sich augenblicklich einstellende Sehnsucht nach einem Kühlschrank-Tattoo auf dem Rücken.

Ich erinnere mich, lange mit einem Cy Twombly-Tattoo spekuliert zu haben, aber niemanden fand, dem ich zutraute, mir eines zu stechen.

Ich erinnere mich an Seerosen.

Ich erinnere mich an die Stimme von Axel Corti.

Ich erinnere mich an die Stimme von Chet Baker.

Ich erinnere mich an die Stimme von Andy Warhol.

Ich erinnere mich an die Stimme von Ernst Jandl.

Ich erinnere mich an die Stimme von Gisela Müller.

Ich erinnere mich an die Stimme von Sepp Bierbichler.

Ich erinnere mich an die Stimme von Shane MacGowan.

Ich erinnere mich an die Stimme von Barry White. 

Ich erinnere mich an "meine Barry White-Stimme" und dass O. jedes Mal rot wurde.

Ich erinnere mich an "An einem Nebentisch saßen drei Herren, aßen Ragout aus Muscheln, erzählten, scherzten mit der Wirtin, ein heiterer Kreis. "Lieber gut, aber dafür ein Jahr länger," äußerten sie, handhabten das Eßgerät, Gabeln, zwischen Brötchenabbiß, dazu Pokal, dann wieder bogen sie die Schenkel aufwärts und traten aus. An der Schulter gelöste Gliedmaßen, unten Gamaschen. Ein Hund Krause, der gewaschen werden müsse, zum bevorstehenden Fest sei die Säuberung angezeigt, kehrte immer wieder. Aschenzuwachs am Glimmstengel, Saugen, Bemerkungen hin und her — ihnen der Abend, verteilte sich das Ungewisse, gliederte sich die Zeit."

Ich erinnere mich an More Songs about Buildings and Food von den Talking Heads, während K. und ich zehn Jahre, nachdem ich von ihr meinen ersten Zungenkuss und danach nie einen weiteren bekommen hatte, miteinander im Bett lagen, an einem Abend, an dem wir zufällig aus derselben Vorstellung im Stadtkino gekommen und zu ihr nach Hause gefahren waren, wo sie gleich More Songs about Buildings and Food von den Talking Heads aufgelegt hatte, auf deren letztem Lied David Byrne über amerikanische Landschaften singt, die er von einem Flugzeug aus sieht, wie schön die Häuser, das Baseballfeld, die Restaurants, die Parkplätze und so weiter sind, bis er sagt, dass er da nicht wohnen möchte, selbst wann man ihn dafür bezahlen würde, I'm tired of looking / Out the window of the airplane / I'm tired of traveling / I want to be somewhere / It's not even worth talking / About those people down there / Goo, goo, ga, ga, ga / Goo, goo, ga, ga, ga / Goo, goo, ga, ga, ga

Ich erinnere mich (11/15)

Ich erinnere mich an "Glory of love / The glory of love / The glory of love might see you through / Glory of love, uh, huh-huh / The glory of love / Glory of love, glory of love / Glory of love, now, glory of love, now / Glory of love, now, now, now, glory of love / Glory of love, give it to me now, glory of love to see you through"

Ich erinnere mich an Ekkehard Knörer.

Ich erinnere mich an hotelmama.

Ich erinnere mich an Joana Preiss, und dass ich mir nie merken konnte, ob man sie mit einem oder zwei ns schreibt.

Ich erinnere mich an die Lätta-Werbung, in der eine Frau aus einem See kommt und sich mit ihren nackten kühlen Brüsten auf den sonnenwarmen Rücken ihres Freundes legt.

Ich erinnere mich an Baba.

Ich erinnere mich an Bussi baba.

Ich erinnere mich an Sehnsuchtsstiche jedes Mal, wenn ich in Berlin jemanden Bussi baba sagen hörte.

Ich erinnere mich an Roland Barthes.

Ich erinnere mich an Sehnsuchtsstiche jedes Mal, wenn ich bei Roland Barthes von dessen Liebe zu seiner Mutter las.

Ich erinnere mich an Fotos meiner Mutter vor meiner Geburt.



Meine Mutter vor meiner Geburt (die dritte im Boot).

Ich erinnere mich an Genua.

Ich erinnere mich, dass ich in Genua mit verdorbenem Magen ankam und die Stadt zwei Tage lang nur durch das Fenster des Hotels hören konnte. Gleich fiel mir wieder meine Kindheitsfantasie ein, blind zu werden.

Ich erinnere mich an den Geruch von Hafenstädten.

Ich erinnere mich an die vorbeifahrenden Schiffe an der Elbe.

Ich erinnere mich an "Unten am Hafen, wo die großen Schiffe schlafen".

Ich erinnere mich, wie verstört ich war, dass Hamburg nicht am Meer lag, wie ich mir immer eingebildet hatte.

Ich erinnere mich an Duftkerzen.

Ich erinnere mich an Lavendel-Duftsäckchen.

Ich erinnere mich an Duftkissen.

Ich erinnere mich an Pfirsiche.

Ich erinnere mich an das Glück, wenn Pfirsiche so reif waren, dass mir ihr Saft über Hände und Kinn lief.

Ich erinnere mich an Knoblauch.

Ich erinnere mich an die Gier jedes Mal, wenn ich irgendwo Knoblauch roch.

Ich erinnere mich an meinen Großvater, einen winzigen spindeldürren Mann, der kaum etwas sagte und die ganze Zeit an seinem Werkstatttisch saß, um an den Schuhen zu arbeiten, mit denen man ihn beauftragt hatte.

Ich erinnere mich an meine Großmutter, eine winzige dicke Frau, die unaufhörlich im Haus arbeitete.

Ich erinnere mich an meinen Großvater, einen Mann, der nichts arbeitete, weil er eine Kriegsverletzung erlitten hatte, alles einarmig erledigte, beim Suppenessen schlürfte, oft leicht zitterte, und vermögend geheiratet hatte.

Ich erinnere mich an die gestärkten Blusen und gestärkten Haare meiner Großmutter.

Ich erinnere mich an Einweghandschuhe im Supermarkt.

Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, ob man die Bettlerampel mit bloßen Händen anfassen könne.

Ich erinnere mich an die Traurigkeit Fannys während des Lockdowns.



Coronatraurigkeit.

Ich erinnere mich an die Sehnsucht Fannys während des Lockdowns.



Coronasehnsucht.

Ich erinnere mich, dass eine Zeitlang durchsichtige Dinge schick waren: Glastische, transparente Fiberglasboxen, gläserne Molkereien und Manufakturen.

Ich erinnere mich an "Wünsch dir was". Und dass es einen Skandal gab, weil die Tochter einer Kandidatenfamilie sich dafür entschieden hatte, eine transparente Bluse anzuziehen, durch die man ihre Nippel sehen konnte.

Ich erinnere mich, dass ich eine Tasche hatte, die aussah wie erkaltetes Sperma, irgendwie milchig.

Ich erinnere mich an Einkaufsbeutel mit Botschaften.

Ich erinnere mich, dass ich immer wieder den Impuls hatte, Menschen auf die Sätze auf ihren Message-T-Shirts anzusprechen. Und es kein einziges Mal tat.

Ich erinnere mich an Herdwärme.

Ich erinnere mich an den Angestellten der österreichischen Botschaft, der zu uns nach Hause kam, um uns beizubringen, wie man Schnitzel macht.

Ich erinnere mich an eine Schnitzeljagd, bei der wir mit jemandem in einem Viererteam landeten, der uns anschnauzte, weil wir uns beim Kanufahren nicht genügend anstrengten.

Ich erinnere mich, dass der Tag der Schnitzeljagd mit der Nachricht von Lady Di's Tod im Autoradio zu Ende ging.

Ich erinnere mich, wie sehr ich es am Tag von Lady Di's Tod bedauert habe, nicht mehr bei einem Wochenmagazin zu arbeiten.

Ich erinnere mich an Bierkneipen. Männer an Tischen. Geräuschkulisse wie in einem Aquarium. Der Geruch von Bier. Auf den Klos Männer, die sich beim Pissen an die Wand vor ihnen lehnten.

Ich erinnere mich an "Abrahams Wurstkessel" und "mein Freund und Kupferstecher".

Ich erinnere mich an Loafer.

Ich erinnere mich an Slipper.

Ich erinnere mich an Männer, denen es wichtig war, über die Unterschiede von Loafern und Slippern Bescheid zu wissen.

Ich erinnere mich an "never brown after six".

Ich erinnere mich an "kein Alkohol vor sechs".

Ich erinnere mich an "ich schaue immer zuerst auf die Schuhe".

Ich erinnere mich an einen Fernsehbeitrag über eine Frau in Paris, die Maß-Unterwäsche für Frauen schneiderte, sofort dachte ich, das sei der wahre Luxus: ein Fast-Nichts, genau auf den Körper geschnitten.

Ich erinnere mich an Die Spitzenklöpperin.

Ich erinnere mich an die Filme über irgendwie einsame Frauen: Jeanne Dielmann, Die Sanfte, Gloria, Die Spitzenklöpplerin, Die linkshändige Frau.

Ich erinnere mich, dass in Filmen irgendwie einsame Männer immer völlig anders waren als irgendwie einsame Frauen. Nicht so einsam.

Ich erinnere mich, dass ich mir immer wieder vornahm, mehr Gedichte zu lesen, es aber nie tat.

Ich erinnere mich, dass ich mir immer wieder vornahm, mir Opern anzuhören, es aber nie tat.

Ich erinnere mich an Branford Marsalis, wie er auf seinem Hotelzimmersofa saß, sehr laut eine Richard Strauß-Oper hörte und an manchen Stellen vor Begeisterung regelrecht schrie.

Ich erinnere mich an das Zemlinsky-Lied Drei Schwestern.

Ich erinnere mich an das Café Prückel.



Im Café Prückel.

Ich erinnere mich an das Café Landgraf.

Ich erinnere mich die Jukebox im Café Landgraf.

Ich erinnere mich, dass Peter Handke in einem seiner Texte in einer Jukebox eine Single von CCR drückt.

Ich erinnere mich, dass mein Bruder mit 12 zu Weihnachten eine LP von CCR bekam.

Ich erinnere mich, dass ich mit 13 zu Weihnachten School is Out von Alice Cooper bekam. Allerdings ohne das Papierhöschen, von dem ich gelesen hatte, dass die Platte darin eingewickelt war.

Ich erinnere mich an das Wort "Höschen". Und dass ich es verheißungsvoll fand.

Ich erinnere mich daran, dass in Hamburg Menschen "Parfüm" (mit ü) und Jatss (statt "Jazz") sagten. Und dass der englische Name "John" auch deutsch ausgesprochen werden konnte.

Ich erinnere mich an die Bratkartoffeln zum Frühstück, wenn ich bei Okka übernachtet hatte.

Ich erinnere mich an Mitternachtssuppen.

Ich erinnere mich an die Pusztalaiberl beim Warmen Hans, das Gulasch im Drechsler und die Matjesfilets in Erikas Eck am Nachhauseweg.

Ich erinnere mich an Postkarten aus den Sommerferien, auf denen man mit einem X sein Hotelzimmer markierte.

Ich erinnere mich an den alten Mann, bei dem Wolki wohnte und der Postkartenverleger war. Jeden Sommer bereiste er die Länder, die zur Monarchie gehört hatten, um neue Fotos zu machen.

Ich erinnere mich an eine Postkarte mit dem Bildnis Kaiser Franz Josephs, daneben das Kaiserlied in Hebräisch.



Das Kaiserlied.

Ich erinnere mich an die Donau.

Ich erinnere mich, dass ich es oft einfach nicht schaffte, Frauen, in die ich mich verliebt hatte, zu sagen, wie toll ich sie fand, weil ich zu schüchtern war.

Ich erinnere mich an Stella.

Ich erinnere mich an Janosch, wie er in seinem Krankenhausbett lag, Schläuche aus seinen Armen, Überwachungsgeräte, auf die ich starrte.

Ich erinnere mich an Paul.

Ich erinnere mich an Fernliebe.

Ich erinnere mich an mein verlorenes Münchener Jahr.

Ich erinnere mich, mir vorgenommen zu haben, einmal in meinem Leben mit dem Rad die Serpentinen von Alpe d'Huez hochzufahren.

Ich erinnere mich an den Leistungstest in einem Sportcamp auf Fuerteventura bei einem alten englischen Trainer. Den ich nach einer Minute abbrach, weil ich es einfach nicht schaffte, gegen den Widerstand anzutreten, den er mir eingestellt hatte. Dabei war es die leichteste Stufe gewesen.

Ich erinnere mich an Sprachferien.

Ich erinnere mich an Kino-Platzanweiser, die mit Taschenlampe im Dunkeln vorangingen.

Ich erinnere mich, dass es Menschen gab, die jeder mochte, Bov zum Beispiel oder Lars.

Ich erinnere mich an: "Ich bin jetzt Mitte 30, ich geh nicht mehr fremd, ich habe keine Lust mehr, meine Lebensgeschichte zu erzählen."

Ich erinnere mich daran, völlig übermüdet das Baby im Kinderwagen spazierenzufahren, in der Hoffnung, dass es nicht aufwachen werde.

Ich erinnere mich an Witze auf Mülltonnen.

Ich erinnere mich an Witze, die mir meine Kinder erzählten.

Ich erinnere mich, wie aufregend ich es fand, eine Freundin zu haben, die "schon über 30" war.

Ich erinnere mich an lustige Krawatten.

Ich erinnere mich an lustige Socken.

Ich erinnere mich an das Gefühl, ersticken zu müssen, wenn ich eine Krawatte tragen musste, einen Rollkragenpullover anhatte oder mein Gesicht eincremte.

Ich erinnere mich an Slips.

Ich erinnere mich an "Schlüpfer". Und dass Schlüpfer für mich etwas fundamental anderes waren als Slips.

Ich erinnere mich, dass die Eltern in der Kita "Schlüppi" sagten. Ich irgendwann auch.

Ich erinnere mich, dass es selbst in den knappsten Schlüppis viel zu große Etiketten gab, die man erst einmal abschneiden musste.

Ich erinnere mich, dass es irgendwann Journalisten zu geben begann, deren Arbeit darin bestand, Nipple Slips, "Schlüpferblitzer" und "offenherzige" Instagram-Fotos zu Zehn-Zeilen-Artikeln zu verarbeiten.

Ich erinnere mich an MTV.

Ich erinnere mich an Beavis and Butthead.

Ich erinnere mich (12/15)

Ich erinnere mich, dass mir Okka zum Geburtstag die Erstausgabe von Hubert Fichtes Palette schenkte.

Ich erinnere mich, wie leuchtend schön sie während ihrer Schwangerschaften war.

Ich erinnere mich an die überbordende Freude der Kinder jedes Mal, wenn ihre Körper mit Wasser in Berührung kamen.



Wasser.

Ich erinnere mich, dass Hedi lange "tropsdem" und und "napp" sagte. Und ich nicht wollte, dass das aufhörte, weil ich es richtiger fand als "trotzdem" und "knapp".

Ich erinnere mich an Bob Dylan in Pat Garrett and Billy the Kid.

Ich erinnere mich an die Rollschuhe in Heaven’s Gate.

Ich erinnere mich an Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?

Ich erinnere mich an Das Verhängnis der Liebe.

Ich erinnere mich an Vier Nächte eines Träumers.

Ich erinnere mich an L'eau froide.

Ich erinnere mich an Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000.

Ich erinnere mich, dass ich manchmal fast alleine im Kino saß, ein wenig fröstelnd, weil es im leeren Saal zu kalt war, und nur schaute und schaute und dabei glücklich war.

Ich erinnere mich, dass ich im ersten Jahr von Fanny oft bis lange nach Mitternacht auf meinem Laptop Filme anschaute, die ich von Piratenwebsites heruntergezogen hatte, den Rechner auf meinem Bauch wie eine Wärmflasche, und nur schaute und schaute und dem Kinderatem Fannys zuhörte und dabei glücklich war.

Ich erinnere mich an meine Verwunderung, dass aus Kindern Erwachsene wurden.

Ich erinnere mich an meine Wehmut, dass aus Kindern Erwachsene wurden.

Ich erinnere mich an die Egon Schiele-Ausstellung in Zürich, in der ich nur war, weil ich mir die Zeit bis zu meinem Rückflug vertreiben musste: eine sehr alte Frau, die einer sehr jungen Frau erzählte, dass sie "die Zeit" erlebt habe und es damals "genau so war".

Ich erinnere mich an Tracey Emin.

Ich erinnere mich an Annie Ernaux.

Ich erinnere mich an Maria Erlenberger.

Ich erinnere mich an Mary McCarthy.

Ich erinnere mich an Rachel Cusk.

Ich erinnere mich an Tiny Little Things.

Ich erinnere mich an Hanna Engelmeier.

Ich erinnere mich, dass sich Hanna Engelmeier an mich als an jemanden erinnerte, "dessen Tastatur immer von Zigarettenasche bestäubt" war.

Ich erinnere mich an dieses Buch von Emma Kay, in dem sie die Weltgeschichte nacherzählt - nach den Erinnerungen, die sie in ihrem Gedächtnis noch hat.

Ich erinnere mich an "Vote or die".



Vote or Die.

Ich erinnere mich an "Why Biden Must Win".



Why Biden Must Win.

Ich erinnere mich, dass mein Vater beim Begräbnis meiner Mutter Episoden aus meiner Kindheit erzählte, an die ich mich ganz und gar nicht erinnern konnte.

Ich erinnere mich, dass ich mich an kaum jemanden von den Menschen beim Begräbnis erinnern konnte.

Ich erinnere mich, dass ich am Abend nach dem Begräbnis meiner Mutter in einem Liegestuhl an der Donau saß und dachte, dass Linz eigentlich ziemlich schön ist.

Ich erinnere mich, dass Hedi immer wollte, dass ich Gesichter in ihre Pfannkuchen schnitt, Gesichter! Gesichter!

Ich erinnere mich an "Alexa, spiele bitte Ö1 Livestream".

Ich erinnere mich, dass der Ö1-Livestream sich mit "Bis zum nächsten Mal" oder "Auf Wiederhören" verabschiedet.

Ich erinnere mich an einen Artikel, in dem erzählt wurde, ein deutsches Gericht habe einem Mädchen namens Alexa erlaubt, seinen Namen zu ändern, weil es von Menschen belästigt worden war, die ihm Kommandos erteilen wollte.

Ich erinnere mich an "Alexa, spiele Ich bin ein Gummibär".

Ich erinnere mich an den Sohn des Cotopaxi.

Ich erinnere mich, dass mein Vater viele meiner Kinderbücher in einer kommunistischen Buchhandlung kaufte.

Ich erinnere mich, dass die kommunistische Buchhandlung sich in einer Straße namens Biegung befand.

Ich erinnere mich, dass es in Hamburg eine Straße gab, die Durchschnitt hieß. Und dass wir in der Rutschbahn wohnten.

Ich erinnere mich an Madeleines.

Ich erinnere mich an Zahnstocher. Und dass sie irgendwann von den Wirtshaustischen verschwanden. Wahrscheinlich, weil sich alle Leute die Zähne korrigieren hatten lassen.

Ich erinnere mich, dass die Kombination von Salz, Pfeffer, Maggi und Zahnstochern Menage genannt wurde.

Ich erinnere mich an Sex-Vokabel kultivierter Menschen: ménage á trois, a tergo, Intimverkehr.

Ich erinnere mich an die Abkürzungen auf Porno-Websites: CFNM, MILF, MMF, BDSM.

Ich erinnere mich an die Abkürzungen LGBTQIA+, POC und BIPOC.

Ich erinnere mich an "sexistische Kackscheiße".

Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, warum es "sexistische Scheiße" oder "sexistische Kacke" nicht auch taten.

Ich erinnere mich, dass viele Geräte irgendwann zu piepsen begannen.

Ich erinnere mich an den Duft von frisch aus dem Toaster gesprungenen Toast.

Ich erinnere mich an Diner, die aussahen wie in amerikanischen Filmen.

Ich erinnere mich an Pizzerien, die aussahen wie Grotten. Auf den Tischen Kerzen, die in mit Bast umwickelten Rotweinflaschen steckten.

Ich erinnere mich an Buddhas und Räucherstäbchen in chinesischen Restaurants.

Ich erinnere mich an die Ouzos, die in griechischen Restaurants "aufs Haus" gingen.

Ich erinnere mich an "Studentenkneipen".

Ich erinnere mich an die Grappa-Servierwägen in italienischen Restaurants.

Ich erinnere mich an die Käse-Servierwägen in französischen Restaurants.

Ich erinnere mich an Kellner mit riesigen Pfeffermühlen, die sich erkundigten, ob man Pfeffer wolle.

Ich erinnere mich an das Restaurant auf Sylt, in dem man zusammen mit der Speisekarte auch eine Lesebrille bekam.

Ich erinnere mich an zweierlei Speisekarten: für Männer mit Preisen und für Frauen ohne.

Ich erinnere mich, dass ich bei Einladungen immer darauf achtgab, mir "nichts von den teuren Gerichten" auf der Speisekarte auszusuchen.

Ich erinnere mich an forsche Namen von Drinks in "Szenebars": Bomberoder Sperma light.

Ich erinnere mich, dass Sperma light aus Kaffeelikör und Sahne bestand.

Ich erinnere mich an „you gotta fight for your right to party“.

Ich erinnere mich an "Wenn ich groß bin, verklage ich Cops".



Berufsberatung.

Ich erinnere mich an Habsburgergelb.

Ich erinnere mich, dass mich auf Fire Island eine Welle gegen den Meeresboden schleuderte.

Ich erinnere mich an das verwirrende Gefühl, dass sich ein bestimmter Wirbel an meinen Aufprall auf dem Meeresboden erinnern konnte.

Ich erinnere mich an Wasserspender (cool!).

Ich erinnere mich an sprechende Aufzugskabinen (cool!).

Ich erinnere mich an japanische Toiletten (cool!).

Ich erinnere mich an Luft pustende Händetrockner (cool!).

Ich erinnere mich, dass plötzlich auf vielen Fassaden CLIT stand.

Ich erinnere mich, dass plötzlich auf vielen Fassaden Gina Lollobrigida stand.

Ich erinnere mich an virtuelle Kuscheltier-Morgenkreise während des Lockdowns.



Kuscheltiermorgenkreis.

Ich erinnere mich an die Schalen mit dem Futter für das Rentier des Weihnachtsmanns auf dem Balkon. Das ich dann heimlich so präparierte, als wäre es dagewesen.



Rentierproviant.

Ich erinnere mich an "und ich hab ihm zuerst die Arme um den Hals gelegt und ihn zu mir niedergezogen dass er meine Brüste fühlen konnte wie sie dufteten ja und das Herz ging ihm wie verrückt und ich hab ja gesagt ja ich will Ja".

Ich erinnere mich an "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen".

Ich erinnere mich an die Krepppapierkrägen beim Friseur.

Ich erinnere mich an den Wunsch, mich beim Friseur rasieren zu lassen, mit einem "richtigen Rasiermesser". Und dass meine Angst, auf einem Friseurstuhl verbluten zu müssen, größer war.

Ich erinnere mich an sich magisch hebenden und senkenden Stühle beim Friseur.

Ich erinnere mich an schulterlange Haare. In dem Jahr, in dem Punk mit schulterlangen Haaren Schluss machte.

Ich erinnere mich an die Schattensilhouetten, die meine Hände an die Wand werfen konnten - einen Vogel und einen Wolf.

Ich erinnere mich, dass man auf der Straße jemanden nach der Zeit fragte.

Ich erinnere mich an schweinchenrosa Kaugummiblasen.

Ich erinnere mich, dass es als schlimm galt, wenn Frauen "in der Öffentlichkeit" Kaugummi kauten. Und als noch schlimmer, wenn sie dabei den Mund nicht zumachten.

Ich erinnere mich an meine Verwunderung darüber, dass Leckmuscheln Leckmuscheln und Flutschfinger Flutschfinger hießen. Im Ernst?

Ich erinnere mich, wie glamourös ich Schließfächer auf Bahnhöfen fand, in denen man sein Gepäck aufbewahren konnte, während man noch einmal "in die Stadt ging".

Ich erinnere mich an meine Enttäuschung, als sich herausstellte, dass die Altersweitsichtigkeit meine Kurzsichtigkeit nicht verringerte.

Ich erinnere mich, dass ich mir Augenfarben nie merken konnte. Selbst bei Menschen, die ich jeden Tag und denen ich jeden Tag in die Augen sah.

Ich erinnere mich an mein Unvermögen, Prominente zu erkennen, wenn sie auf der Straße an uns vorübergingen oder im Restaurant am Nebentisch saßen.

Ich erinnere mich, dass ich bei Interviews manchmal erschrak, wenn ein Prominenter aussah wie auf den Fotos.

Ich erinnere mich, dass ich mich lange darüber wunderte, dass Filmschauspieler "in Wirklichkeit so klein" waren. Bis ich mich daran gewöhnt hatte. Dann wunderte ich mich darüber, wenn jemand groß war.

Ich erinnere mich an mein Unvermögen, Anbaggerversuche zu erkennen.

Ich erinnere mich, dass am Paradise Beach auf Mykonos ein Schwuler bei mir zu landen versuchte und ich "wie nett ist der denn!" dachte. Und Claudia mich hinterher auslachte.

Ich erinnere mich, dass ich mir manchmal wünschte, gay zu sein, weil es mir irgendwie glamourös vorkam.

Ich erinnere mich an die Assistenten im Haus von David Hockney. Wie gut sie aussahen!

Ich erinnere mich an die Whirlpool-Einbauer im Haus von Armistead Maupin. Wie gut sie aussahen!

Ich erinnere mich, dass ich nicht verstand, was für Frauen an Männerhintern besonders sein sollte.

Ich erinnere mich dass mich Aussagen von der Art "George Clooney ist schwul, das sieht man doch" total irritierten, weil ich es nie sah.

Ich erinnere mich, dass mir Sex mittendrin manchmal total albern und überbewertet vorkam. Und dann nicht wusste, was ich tun sollte.

Ich erinnere mich (13/15)

Ich erinnere mich, dass ich für Fummeleien im Auto zu groß war.

Ich erinnere mich, dass ich mich manchmal fragte, wie es wohl für Frauen war, dass ich so groß war.

Ich erinnere mich, dass ich manchmal einige Zeit brauchte, bis ich mich auf einen neuen Körper eingestellt hatte.

Ich erinnere mich, dass ich oft nicht die Antworten gab, die mir einfielen.

Ich erinnere mich, dass ich in einer Dachwohnung, in der ich ein halbes Jahr wohnte, im Sommer nachts nackt vor dem offenen Kühlschrank saß, weil es viel zu heiß war, um einschlafen zu können.

Ich erinnere mich, dass in einer Wohnung der Mietvertrag untersagte, die Tapeten zu verändern. Sie waren so hässlich, dass ich sie aus den zwei Fotos, die ich dort aufgenommen habe, herausgeschnitten habe.

Ich erinnere mich, dass ich erst beim Auszug aus dem Studentenwohnheim, in dem ich für ein paar Monate wohnte, erzählte, mein Zimmermitbewohner sei nie aufgetaucht. Und dafür einen Anschiss bekam, der mir nichts mehr ausmachte.

Ich erinnere mich, dass man "Beziehungen" brauchte, um einen Platz im Studentenwohnheim zu bekommen.

Ich erinnere mich an "Parteibuchwirtschaft".

Ich erinnere mich an "die rote und die schwarze Reichshälfte".

Ich erinnere mich, dass uns die erste Wohnung, in der ich in Hamburg lebte, mit der Begründung gekündigt werden sollte, wir hätten "Wollmäuse". Und ich nicht wusste, was Wollmäuse sind.

Ich erinnere mich an die Schriftstellerin über uns, bei der es aussah wie auf Biedermeier-Gemälden, obwohl sie viel jünger als ich war.

Ich erinnere mich an den Geologen unter uns, dessen Ehe in die Brüche ging, nachdem sich bei einem Abendessen ein Gast an dessen Anwesenheit im Berghain-Darkroom erinnert hatte.

Ich erinnere mich an den Engländer im Haus, der seiner Frau monatelang vorgemacht hätte, er arbeite als Englischlehrer, bis seine Geschichte platzte und die Frau nach England zurückzog.

Ich erinnere mich an Sommerfüße.






Sommerfüße.


Ich erinnere mich an Louis de Funes. Und dass ich ihn kein bisschen lustig fand.

Ich erinnere mich an Jacques Tati. Und dass ich ihn kein bisschen lustig fand.

Ich erinnere mich an Jerry Lewis. Und dass ich nicht verstehen konnte, warum ihn in der Filmkritik Schreiber, auf deren Urteile ich etwas gab, für lustig hielten.

Ich erinnere mich an Steve Martin. Und dass ich ihn doch ein bisschen lustig fand.

Ich erinnere mich, dass es über Buster Keaton hieß, sein Gesicht zeige nie Regungen.

Ich erinnere mich, dass es über Humphrey Bogart hieß, er habe in den Kussszenen in Casablanca auf einem Podest gestanden, weil er so klein war.

Ich erinnere mich, dass es über alle möglichen Filmschauspieler hieß, sie hätten sich bei den Dreharbeiten ineinander verliebt.

Ich erinnere mich, dass es über alle möglichen Filmschauspieler hieß, sie hätten bei den Dreharbeiten wirklich Sex miteinander gehabt.

Ich erinnere mich, dass es über alle möglichen Filmschauspieler hieß, sie hätten ihre Actionszenen selbst gedreht.

Ich erinnere mich, dass es über Filmschauspielerinnen hieß, sie hätten ein "Po-Double" gehabt.

Ich erinnere mich, dass es über eine Filmschauspielerin hieß, sie habe schon als "Hand-Double" gearbeitet.

Ich erinnere mich an Filmschauspieler*innen, die für ihre Rollen in kürzester Zeit wahnsinnig viel zu- oder abnahmen.

Ich erinnere mich, dass es von Filmschauspielerinnen hieß, sie hätten schon ein paar Wochen nach ihrer Entbindung wieder ihren Vorschwangerschafts-Body gehabt.

Ich erinnere mich an Paparazzifotos von alten Männern in Speedos und jungen Frauen ohne Bikinioberteil.

Ich erinnere mich an Paparazzifotos von "Dellen" auf den Oberschenkeln von Hollywoodstars.

Ich erinnere mich an "Orangenhaut".

Ich erinnere mich an "Anti-Cellulite-Cremes".

Ich erinnere mich, dass bei Amica Anti-Cellulite-Cremes "Arschcremes" genannt wurden.

Ich erinnere mich an Anzeigenboykotte.

Ich erinnere mich, dass man hin und wieder auf einer Einzelseite noch das Produkt eines Anzeigenkunden unterbringen sollte.

Ich erinnere mich an Theresa.



Theresa.

Ich erinnere mich an das Wort "Liebes-Aus" in Themenkonferenzen.

Ich erinnere mich, dass in einer Themenkonferenz jemand von einer Prominenten erzählte, sie sei ganz sicher schwanger, weil sie bei einer Party versonnen ihren Bauch gestreichelt hatte.

Ich erinnere mich an "Mietwagenlady Regine Sixt".

Ich erinnere mich an "Sir Peter Ustinov" und "Sir Elton John".

Ich erinnere mich an "Herr/Frau Magister".

Ich erinnere mich an "Herr Doktor" in Kaffeehäusern, weil ich eine Brille trug. Manchmal auch "Herr Professor".

Ich erinnere mich an "junger Mann", obwohl ich schon deutlich über 50 war.

Ich erinnere mich an "weißer alter Mann".

Ich erinnere mich an das Wort "N-Wort".

Ich erinnere mich, dass ich in meinem Leben das Wort "N-Wort" um ein Vielfaches öfter gehört habe als das N-Wort selbst.

Ich erinnere mich, dass immer öfter die Rede von "jungen Frauen" war.

Ich erinnere mich, dass Fanny die Freiheitsstatue "Freiheitsfrau" nannte.



Freiheitsfrau.

Ich erinnere mich an "riots, not diets".



Freiheitsfrau.

Ich erinnere mich an die Muster und Farben von Pradahosen und dass ich ein paar Monate brauchte, bis sie auch mir gefielen.

Ich erinnere mich, dass mich Arschgeweihe nicht so störten, wie sie mich hätten stören sollen.

Ich erinnere mich an Eiswägen, die vor den Spielplätzen in New York klingelten und Kinder-Stampeden auslösten.

Ich erinnere mich an die Zeitschriften-Wägen an Stränden an der Côte d'Azur, die per Lautsprecher durchgaben, es gäbe ein Paket "pour Monsieur", eines "pour Madame" und etwas für die ganze Familie.

Ich erinnere mich an Physical von Olivia Newton-John.

Ich erinnere mich an die Kiekser in manchen Liedern, die ich nur wegen dieser Kiekser unwiderstehlich fand.

Ich erinnere mich an uptalk.

Ich erinnere mich an das resting bitch face.

Ich erinnere mich an Peper Harow und an die Gärtnerin dort, die "Problemjugendlichen" die Liebe zur Welt beibrachte, indem sie ihnen Verantwortung für das Gedeihen von Pflanzen übertrug.

Ich erinnere mich an meinen häufigen Wunsch, jemand völlig anderer zu sein als ich selbst.

Ich erinnere mich an Tagträume, mit einer Gärtnerin zu leben. Oder einer Vogelbeobachterin. Oder einer Tischlerin.

Ich erinnere mich an das Kids Magazine.

Ich erinnere mich an meine Traurigkeit, als sich herausstellte, dass der Typ, der das Kids Magazine machte, wieder einer dieser Typen war, denen es darum ging, Kinder anzufummeln.

Ich erinnere mich, dass ich mir immer wieder vornahm, absolut niemandem mehr zu vertrauen. Und es natürlich nicht schaffte.

Ich erinnere mich an Anti-Facebook-Kampagnen.

Ich erinnere mich an Proteste gegen den neuen Algorithmus von Instagram.

Ich erinnere mich an "digitale Demenz".

Ich erinnere mich an "Ego-Shooter".

Ich erinnere mich an Pop-Up-Fenster, die darüber informierten, dass eine Website Cookies setzte.

Ich erinnere mich an Weblogs.



Weblogs.

Ich erinnere mich, wie elektrisierend es war, als Stefan mir ein Weblog in die Hand gab, das könnte was sein für dich.

Ich erinnere mich an "Monetarisierung von Weblogs".

Ich erinnere mich an "jeder sein eigener Chefredakteur".

Ich erinnere mich an Linklisten.

Ich erinnere mich die Bitten um "Linktausch".

Ich erinnere mich an Polemiken gegen "Link in neuem Fenster öffnen".

Ich erinnere mich an kleine finnische Clubs.

Ich erinnere mich an Camp Catatonia..

Ich erinnere mich an thefrank.

Ich erinnere mich an schaum.

Ich erinnere mich an Gerlinde Lang.

Ich erinnere mich an das Wort "lecker".

Ich erinnere mich, dass in Österreich jemand, der das Wort "lecker" benutzte, als Deutscher identifiziert und verachtet wurde.

Ich erinnere mich an "Piefke".

Ich erinnere mich an "Ösi".

Ich erinnere mich an HC Strache.

Ich erinnere mich an H.C. Artmann.

Ich erinnere mich an "Dr. hc".

Ich erinnere mich an "Herr Ingenieur".

Ich erinnere mich an "dem Inschinör ist nichts zu schwör".

Ich erinnere mich an Orchideenfächer und MINT-Studien.

Ich erinnere mich an "taxifahrende Soziologen".

Ich erinnere mich an "früher saßt du im Taxi hinten rechts, jetzt sitzt du im Taxi vorne links".

Ich erinnere mich, dass Joschka Fischer irgendwann Taxifahrer gewesen war, ehe er schließlich Außenminister wurde.

Ich erinnere mich an Der lange Lauf zu mir selbst.

Ich erinnere mich an Mein Kampf, Band 1 - 6. Und dass es in Deutschland nicht Mein Kampf hieß.

Ich erinnere mich, dass mir Karl Ove Knausgård erzählte, er möge Thomas Bernhard.

Ich erinnere mich, dass sich Thomas Bernhard für mich angehört hatte wie ein Wiener Hausmeister.

Ich erinnere mich an die Erzählungen Karl Ignaz Hennetmairs, der Thomas Bernhard einen Hof in Ohlsdorf verkauft und ihn so zum Immobilienbesitzer gemacht hatte.

Ich erinnere mich an die Heldenplatz-Premiere im Burgtheater, bei der ich in einer Loge saß, die der Wiener stern-Korrespondent für mich organisiert hatte, ein umtriebiger Mann, der davor für Bruno Kreisky, die Kronenzeitung und RTL gearbeitet hatte und selbstverständlich irgendwann zum Professor ernannt wurde.

Ich erinnere mich, dass mir der Friseur, der Gert Voss die Haare für Peymanns Richard III-Inszenierung geschnitten hatte, erzählte, danach hätten wahnsinnig viele Männer in Wien denselben Schnitt gewollt.

Ich erinnere mich (14/15)

Ich erinnere mich, dass ich an einem Strand auf Dscherba lag und ein paar Handtücher weiter jemand aufgeregt sagte, in Amerika sei etwas passiert.

Ich erinnere mich an das World Trade Centre.



World Trade Center.

Ich erinnere mich an einen Artikel über unangemessene Reaktionen auf 9/11. Jemand erzählte, er habe sich gewünscht, sein Vater wäre unter den Toten, weil es dann leichter gewesen wäre, ihn nicht mehr zu hassen.

Ich erinnere mich an "Hey!".

Ich erinnere mich an "Awopbopaloobop Alopbamboom".

Ich erinnere mich, dass ich passierten Spinat nicht mochte und ihn deswegen so lange mit Ketchup verdünnte, bis er nicht mehr nach passiertem Spinat schmeckte.

Ich erinnere mich an Schinkenfleckerl. An Serbisches Reisfleisch. An gefüllte Paprika. Dass ich mir immer mal wieder vornahm, das Essen aus meiner Kindheit für sie zu kochen. Und es dann nie tat.

Ich erinnere mich an Helene. Wir gingen ein paar Mal miteinander aus, ohne dass uns einfiel, was wir miteinander reden könnten.

Ich erinnere mich an Frauen, die ihre Pullover um die Hüften gebunden trugen.

Ich erinnere mich an Frauen, die ihre Sonnenbrillen in die Stirn geschoben trugen.

Ich erinnere mich an die Pferdeschwänze in Hamburg, in einer Höhe gebunden, dass sie durch die Fixierbänder von Caps passten.

Ich erinnere mich an die Ponys von Frauen in Berlin-Mitte, wie mit Heckenscheren geschnitten.

Ich erinnere mich an den letzten Tag der Ferien.

Ich erinnere mich an den ersten Tag der Ferien, an dem die Straßen Berlins schlagartig fast leer waren.

Ich erinnere mich an den ersten Schultag nach den Ferien.

Ich erinnere mich an den Geruch von frischen Büchern.

Ich erinnere mich an neue Stifte und neue Hefte in jedem Herbst. Als könnte man neu anfangen.

Ich erinnere mich an "frohs nice".



Frohes Neues!

Ich erinnere mich, dass ich immer wieder dachte, ich sollte endlich meinen Roman schreiben.

Ich erinnere mich, dass ich immer wieder dachte, "nichts zu sagen zu haben".

Ich erinnere mich, dass ich mir ausmalte, Sänger in einer Rockband zu sein.

Ich erinnere mich, dass ich mir ausmalte, nach dem Gewinn meines Lotto-Jackpots ein extrem großzügiger Mäzen zu werden, eine Million für Günter Hack, mindestens.

Ich erinnere mich an den Gang der Models bei den Schauen in Paris.

Ich erinnere mich an Filofax.

Ich erinnere mich an Rolodex.

Ich erinnere mich an den Palm, für dessen Handschriftenerkennung man die "Handschrift" des Palms lernen musste.

Ich erinnere mich an Hitzewellen.

Ich erinnere mich den Himmel über der Wüste.



Der Himmel über der Wüste.

Ich erinnere mich, dass ich in New York einen Tag im MoMa verbrachte, weil ich wusste, dass es dort Air Condition gab.

Ich erinnere mich an das Essen, das man zu Kita-Sommerfesten und Kita-Weihnachtsfesten mitbrachte: Nudelsalat und Zimtschnecken.

Ich erinnere mich, dass plötzlich überall Pesto drin war.

Ich erinnere mich, dass plötzlich überall Rauke drauf war.

Ich erinnere mich an Karamellsalz.

Ich erinnere mich an Kürbiskernöl auf Vanilleeis.

Ich erinnere mich an Regentage. Das wohlige Geräusch der Tropfen, die gegen die Fenster schlugen.

Ich erinnere mich an einen winzigen Zirkus in Chinatown. Man bezahlte einen Dollar und bekam ein paar Mäuse, Flöhe und einen total schlechten Jongleur zu sehen. Der beste Zirkus, in dem ich je war.

Ich erinnere mich an die Zwiebelringe in dem Steakhouse, in das Okka mich zum Geburtstag eingeladen hatte. Die ersten Zwiebelringe meines Lebens, eine Erleuchtung.

Ich erinnere mich an Wangenknochen.

Ich erinnere mich an Schlüsselbeine.

Ich erinnere mich an Michaelisrauten. Und mein Entzücken, dass sich jemand einen Namen dafür ausgedacht hatte.

Ich erinnere mich an "Schlupfnabel" und "Stülpnabel".

Ich erinnere mich an die breiten Schultern von Schwimmerinnen.

Ich erinnere mich an blonden Unterarmflaum.

Ich erinnere mich an "zu viel Zahnfleisch".

Ich erinnere mich an "zu viel Zahnweiß".

Ich erinnere mich an den Botox to go-Typen, der im Arabellapark in der Redaktion vorbeikam.

Ich erinnere mich, dass es in einem Restaurant im Arabellapark als Mittagsangebot einen "Cosmoteller" gab.

Ich erinnere mich an "nahtlose Bräune".

Ich erinnere mich an Bikinistreifen.

Ich erinnere mich an Sommersprossen.

Ich erinnere mich an Frauenlachen im Sommer.

Ich erinnere mich, dass ich im Sommer manchmal, wenn sich eine Frau nach vorne beugte, für einen Sekundenbruchteil ihre Nippel sehen konnte.

Ich erinnere mich, dass man, wenn man zwei Zwanzig-Schilling-Scheine an einer bestimmten Stelle umknickte und aneinander hielt, einen Venushügel zu sehen bekam.

Ich erinnere mich, dass ich mich manchmal fragte, "wie es wohl ist", eine Pussy zu haben, aber keine Ahnung hatte, was man auf diese Frage einigermaßen sinnvoll sagen könnte.

Ich erinnere mich, dass in Reich der Sinne der Haupdarsteller der Hauptdarstellerin in Großaufnahme ein Ei in die Vagina schob und ich mich, mit 17, fragte, wie sie es wieder herausbekommen hatte.

Ich erinnere mich, dass man "Vulva" sagen sollte, nicht immer nur "Vagina" (etwas anderes!). Ich sagte aber eh keines davon.

Ich erinnere mich an Möwen.



Möwe.

Ich erinnere mich an meine Begeisterung, als ich erfuhr, dass Dietmar Bartz auf Wikipedia den Artikel über Ahoi geschrieben hatte.

Ich erinnere mich an Dietmar Brehm.

Ich erinnere mich an Pop Art.

Ich erinnere mich, dass ich auf Reisen gerne alleine in Restaurants aß.

Ich erinnere mich, wie schön Städte nach Nächten waren, in denen es geschneit hatte.

Ich erinnere mich, dass mein Vater Grapefruits und "englischen Senf" mochte.

Ich erinnere mich an Ananasringe aus Konservendosen.

Ich erinnere mich, dass es hieß, Ananassaft würde den Geschmack von Sperma erträglicher machen.

Ich erinnere mich an Sextricks in Frauenzeitschriften.

Ich erinnere mich an "Geruchslockstoffe" und "Kuschelhormone".

Ich erinnere mich an den Ratschlag, sich beim Vögeln jemand anderen vorzustellen.

Ich erinnere mich an Hüttenkäse und dass ich nie wusste, von welcher Hütte die Rede war.

Ich erinnere mich an Liebesbriefe.

Ich erinnere mich an Trennungsbriefe.

Ich erinnere mich an Handbewegung Anführungszeichen Wort Handbewegung Abführung.

Ich erinnere mich an das „Euro-Begrüßungsset“.

Ich erinnere mich, dass mir nach der Euroumstellung lange alles total billig vorkam.

Ich erinnere mich, dass ich manchmal Preise zuerst in D-Mark und danach in österreichische Schillinge umrechnete.

Ich erinnere mich an verrauchte Wirtshäuser.

Ich erinnere mich an Raucherabteile.

Ich erinnere mich an Raucherzonen in Flugzeugen

Ich erinnere mich an Joggerinnen, die an roten Ampeln im Kreis liefen.

Ich erinnere mich an Radfahrer, die sich vor roten Ampeln an Masten festhielten, um kein Bein auf die Erde setzen zu müssen.

Ich erinnere mich an Anzeigenplazierungsbesprechungen.

Ich erinnere mich an die Dotcomkrise. Danach ging es abwärts.

Ich erinnere mich, dass ich manchmal dachte: „Jetzt könnte ich sterben, und alles wäre gut“.

Ich erinnere mich wie glücklich ich oft gewesen bin. image gluecklich

Ich erinnere mich das Kriegstagebuch von Ludwig Wittgenstein.

Ich erinnere mich an „einen Happen essen“.

Ich erinnere mich an „lass uns auf eine Nudel gehen“.

Ich erinnere mich an die Sommer, in denen ich Beifahrer war.

Ich erinnere mich, dass Radio Nostalgie an der Côte d'Azur im Autoradio immer wieder Underneath Your Clothes und I Started a Joke spielte.

Ich erinnere mich an Bars, in denen man sich schreiend unterhalten musste, weil die Musik so laut war.

Ich erinnere mich an die Daniela Bar.

Ich erinnere mich an Skylines.



Skyline.

Ich erinnere mich an den Ankerstern.

Ich erinnere mich an die roten Schuhe, die sie im Ankerstern getragen hat und danach nie mehr wieder.

Ich erinnere mich, dass mir ihre roten Schuhe als eine Art Zeichen erschienen.

Ich erinnere mich an Dancing Shoes.

Ich erinnere mich an I Bet You Look Good on the Dance Floor.

Ich erinnere mich an Frauen, die mit einer Bierflasche in der Hand tanzten.

Ich erinnere mich an Frauen, die sich beim Tanzen exaltierten.

Ich erinnere mich an Rausschmeißerstücke, wenn Discos schließen wollten.

Ich erinnere mich (15/15)

Ich erinnere mich an den Sumoringer, der nachts urplötzlich auf der Straße stand. In einem weißen Sumoringer-Mantel, der in der Dunkelheit fast leuchtete.

Ich erinnere mich an Schwarzweißfilme.

Ich erinnere mich an den Unglauben meiner Kinder, dass früher alle Filme schwarzweiß gewesen sind.

Ich erinnere mich an Winter.

Ich erinnere mich an Winter in meiner Kindheit, in denen so viel Schnee lag, dass ich auf Skiern in die Schule fahren konnte. Und mit der Pöstlingbergbahn zurück. Die eigene Skiträger hatte.

Ich erinnere mich an Fäustlinge.

Ich erinnere mich an den entscheidenden Unterschied zwischen Fäustlingen und Handschuhen. Handschuhe machten einen groß. Wie lange Hosen, Sakkos, richtige Schuhe.

Ich erinnere mich, was für ein Gefummel es jedes Mal war, Kindern Handschuhe anzuziehen.

Ich erinnere mich an meine Ungeduld manchmal, wenn ich die Kinder anzog. Mein Gedrängle, Geschimpfe, Generve, Genervtsein. Das mir ein paar Augenblicke gleich wieder leid tat.

Ich erinnere mich, dass ich über Corona sagte, ich sei sowieso immer im Homeoffice. Und noch nie ein social butterfly gewesen.

Ich erinnere mich an meinen Lagerkoller während Corona.

Ich erinnere mich an meine Beklemmungen in Gruppen. Nie zu wissen, was die richtige Dosierung war. Und sich dann immer für die Dosierung zu entscheiden, die dazu führte, dass mich jeder für uninteressant hielt. Meine Dankbarkeit dann immer, wenn jemand sich dann doch für mich interessierte.

Ich erinnere mich, dass ich im Internet hin und wieder Listen ausfüllte, in welchen Ländern oder Städten ich schon gewesen war und welche Erfahrungen ich schon gemacht hatte.

Ich erinnere mich an meine Wehmut beim Erfahrungen-Ankreuzen: nie Flaschendrehen gespielt!

Ich erinnere mich an Brieffreundschaften in der Schule, die nach zwei, drei Briefen wieder versandeten.

Ich erinnere mich, dass ich manchmal Frauen, in die ich einmal verschossen gewesen war, nach Jahrzehnten hinterher googelte. Und mich freute, wenn sich herausstellte, dass sie immer noch interessant waren.

Ich erinnere mich an Distinktionsbedürfnis-Accessoires für Intellektuelle, die man manchmal zu sehen bekam: Berlinale-Taschen, New Yorker-Stoffbeutel, bei 2001 hatte es sogar Tüten mit einem Portraitfoto von Roger Willemsen gegeben.

Ich erinnere mich an Menschen, die immer das Buch, das sie dabei hatten, gut sichtbar im Café auf den Tisch legten. Man sollte es sehen!

Ich erinnere mich an winzige Eigenheiten von Menschen, die man liebt. Wie jemand beim Lachen grunzte. Eine ganz bestimmte Stirnfalte. Hibbeln.

Ich erinnere mich an diesen Tanz winziger Gesten, ehe es schließlich zu den ersten Küssen kam.

Ich erinnere mich, wie verwirrend unterschiedlich die Zungenküsse der Frauen waren, die sich mit mir küssten.

Ich erinnere mich an Verbotsschilder, auf den „No necking“ oder „No petting“ stand.

Ich erinnere mich, dass niemand je das Wort „Petting“ verwendete. Außer vielleicht die Bravo.

Ich erinnere mich an Sonntagabendmelancholie.

Ich erinnere mich an Jugoslawien. Den ersten Hummer meines Lebens habe ich in Istrien gegessen. In Dalmatien habe ich zum ersten Mal in meinem Leben jemanden kennengelernt, der Nazis erschossen hat, einen alten schneidezahnlosen Herrn, der schöne Lieder sang. Das erste Mal beschwipst bin ich auf Rab gewesen, mit zwölf, Mischmasch nannte sich das, Orangensaft mit Rotwein. In den Tageszeitungen las man manchmal: Wenn einer von den deutschen Touristen nicht an sich halten konnte und ein Lied aus dem Songbook 1939-1945 sang, kam er ins Gefängnis. Zwei Schriften auf den Geldscheinen. Rasnici. Peperoni als Snack im Zug durch Serbien, nie im Leben hätte ich mir anmerken lassen, dass mir das viel zu scharf war.



Jugoslawien.

Ich erinnere mich an Vladimir und Selimir, zwei Gastarbeiterkinder, die kein Wort Deutsch konnten und die man zu uns in die Klasse gesetzt hatte, obwohl sie um einige Jahre älter als wir.

Ich erinnere mich an den Duft von Kaffee.

Ich erinnere mich an den verschmorten Gestank, nachdem mir der Hautarzt eine Warze weggelasert hatte: "So also riecht es, wenn ein Mensch verbrennt".

Ich erinnere mich an Herrn Ganguli, den indischen Kollegen meines Vaters. Einmal kam er zum Abendessen und brachte als Geschenk für uns Kinder zwei Bohnen oder Erbsen, die ausgehöhlt und mit einem winzigen Elefanten auf einem Sockel verschlossen waren; darin: noch viel winzigere Papierelefanten.

Ich erinnere mich an die Schmetterlingssammlung meines Onkels, der nach Südafrika ausgewandert war, um so viel Geld zu verdienen, dass er sich ein Haus in Niederösterreich bauen konnte. In einem Sommer schlief ich in seinem Zimmer und zog nachts die Schubladen mit den Glaskästen auf, in denen die Schmetterlinge waren.

Ich erinnere mich, dass die Welt voller Magie war. Schattentheaterfiguren, Zaubertricks, die Münzen verschwinden ließen.

Ich erinnere mich, dass die Welt voller Schrecken war. Schatten, die über die Decke krochen, wenn nachts ein Auto vorbeifuhr. Träume von Krokodilen. Männer, denen man lieber aus dem Weg gehen sollte.

Ich erinnere mich an Berge.

Ich erinnere mich an Schwefel.



Schwefel.

Ich erinnere mich, dass ich nach zwei, drei Wochen das Jucken unter dem Gips nicht mehr aushielt und mich mit einer Stricknadel kratzte. Was aber auch nicht half.

Ich erinnere mich an den kasachischen Masseur, unter dessen Griffen ich mich anfühlte, als würden die Fasern meiner Schultermuskeln auseinandergeschichtet werden.

Ich erinnere mich an die Handmasseurin in Tokio. Hinterher fühlte sich meine Hand (es war nur die linke) an, als würde sie pulsieren.

Ich erinnere mich an die Reit- und Springturniere, zu denen mein Bruder und ich immer mitmussten, langweiliger als alles andere, zu dem wir mitmussten.

Ich erinnere mich, dass ich jahrelang eine kaum überwindbare Abneigung gegen Filme hatte, in denen Pferde vorkamen.

Ich erinnere mich, dass mein Vater uns zu Speedway-Rennen ins Linzer Stadion mitnahm.

Ich erinnere mich, dass bei einem Reit- und Springturnier der Tod Jochen Rindts in Monza bekannt gegeben wurde und daraufhin fast alle aufstanden, um nach Hause zu fahren

Ich erinnere mich, dass wir beim Tanzen Stücke auflegten, zu denen man irre lange "Blues tanzen" konnte. King Crimson, In the Court of the Crimson King, genug Zeit, um einander ganz nahe zu kommen.

Ich erinnere mich an Mellotrons.

Ich erinnere mich an jazzige Querflöten.

Ich erinnere mich an kitschige Querflöten.

Ich erinnere mich an elektrisch verstärkte Violinen in Rockbands. Und dass sie irgendwie ein Argument gegen Erwachsene waren.

Ich erinnere mich an Rockbands mit Symphonieorchestern.

Ich erinnere mich an die Erleichterung, als die Zeiten von Rockbands mit Symphonieorchester, Mellotrons, E-Violinen und Querflöten endlich vorbei waren.

Ich erinnere mich, dass ich jung war.

Ich erinnere mich, dass ich nie wirklich jung war.

Ich erinnere mich, dass ich irgendwann wusste, alt geworden zu sein.

Ich erinnere mich, dass ich manchmal den Kindern meine Schreibkunststücke vorführte. Mit zwei Händen gleichzeitig, die eine Hand mit der, die andere gegen die Schreibrichtung, oder spiegelverkehrt auf dem Kopf stehend. Eine Folge meiner Umerziehung vom Links- zum Rechtshänder.

Ich erinnere mich an die spiegelverkehrt geschriebenen Buchstaben und Ziffern der Kinder. Wenn ich es ihnen zeigte, sahen sie es nicht, völlig verrückt: Man malte ihnen ein E, sie malten es konzentriert nach, aber spiegelverkehrt, als ∃



Spiegelverkehrt.

Ich erinnere mich an Klappbetten. Für alle Fälle.

Ich erinnere mich an Klappstühle. Für alle Fälle.

Ich erinnere mich an die Schilderung Lloyd deMauses in Klaus Theweleits Männerphantasien: Er habe in seiner Wohnung alles, was Ecken, Kanten und Spitzen hatte, so gepolstert, dass sich Kinder daran nicht verletzen konnten.

Ich erinnere mich, dass es auf den New Yorker Spielplätze Schaukeln für behinderte Kinder gab, aus denen sie nicht fallen konnten. Und dass in Paris die Böden der Spielplätze einen federnden Belag hatten, damit die Stürze nicht so hart ausfielen.

Ich erinnere mich, dass in Berlin jedes Mal, wenn ein Spielplatzgerät kaputt ging, es monatelang nicht ersetzt wurde. Falls überhaupt.

Ich erinnere mich an einen Artikel in der New York Times, dessen Autorin über Berliner Spielplätze schwärmte, Abenteuerorte für free ranging kids.

Ich erinnere mich an den Essay George Nelsons über die Wichtigkeit, beim Designen auch an den subspace von Möbeln zu denken, den man nur zu sehen bekomme, wenn man beispielsweise auf dem Boden liegt und zum Tisch oder einem Stuhl hochschaut. Oder wenn man ein Kind ist.

Ich erinnere mich an einen Text, in dem jemand die Frage stellte, wie man es wohl fände, wie ein Kleinkind auf dem Rücken liegend durch die Gegend geschoben zu werden und nur Wolken zu sehen zu bekommen.

Ich erinnere mich an einen Artikel mit der Beobachtung, dass viele Lastenräder, in denen Kinder transportiert werden, sich genau auf der Höhe der Auspuffrohre befinden, an denen sie vorbeigefahren werden.

Ich erinnere mich an die Geräusche, wenn Kinderkörper mit Gegenständen zusammenprallten. Metallische Echos. Dumpfe Zusammenstöße. Danach Stille. Und erst danach Schreien.

Ich erinnere mich an den Burberry-Anzug, den ich mir von meinem Zivildienersold gekauft und nur ein einziges Mal angezogen habe.

Ich erinnere mich an die Sommerzeit.

Ich erinnere mich an Artikel darüber, wie sinnlos die Sommerzeit sei.

Ich erinnere mich, wie sich in jedem Sommer die Stadt verwandelte, als wäre sie aus ihrer schlechten Laune aufgewacht.

Ich erinnere mich an die Kleinwüchsigentruppe auf Gran Canaria, die Freaks als Zirkusvorstellung inszenierte.

Ich erinnere mich an den Clown von Auschwitz.

Ich erinnere mich, dass ich in Essen in einer Bibliothek in Mikrofilmen von Nazi-Tageszeitungen nach einem Artikel suchte, der von der Zirkustruppe handelte, deren Clown später am Tor von Auschwitz stand. Und dass ich ihn fand.

Ich erinnere mich, dass ich es nicht schaffte, die Geschichte über den Clown von Auschwitz zu schreiben, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich die paar Details, die ich hatte, zusammenbringen und nachprüfen konnte.

Ich erinnere mich an den Eichmannprozess auf youTube.

Ich erinnere mich, dass sich meine Mutter daran erinnerte, in ihrer Kindheit gewusst zu haben, dass behinderte Kinder getötet wurden.

Ich erinnere mich, dass sich mein Vater an die sowjetischen Soldaten erinnerte, die mit ihm gespielt hatten.

Ich erinnere mich, dass meine Mutter Koteletten Beikeles nannte.

Ich erinnere mich, dass es in Österreich Schweinskotelett hieß und nicht Schweinekotelett.

Ich erinnere mich, dass es in Österreich das Cola und das Mail hieß.

Ich erinnere mich an Popbitch.

Ich erinnere mich an Saltyt.

Ich erinnere mich an Flickr.

Ich erinnere mich an Tamagotchis.

Ich erinnere mich an Toca Boca.

Ich erinnere mich an die Bötzis.



Die Bötzis.

Ich erinnere mich an ihre Schultüte.



Schultüte.

Ich erinnere mich an den Oui-Ring.

Ich erinnere mich an Asger Jorn.

Ich erinnere mich an die alte BRD.

Ich erinnere mich an die Bonner Republik. Und dass ich zweimal in Bonn gewesen bin. Einmal in einem Gästehaus der Bundesregierung, um mit Salman Rushdie zu sprechen, während rund um das mit Maschinengewehren bewaffnete Polizisten achtgaben, das zweite Mal bei einer Sitzung, in der über das Jugendverbot irgendeines Buchs verhandelt wurde.

Ich erinnere mich an das Erstaunen Nicolae Ceaușescus, als er merkte, dass die Menschen auf dem Platz unter seinem Balkon mit ihm fertig waren.

Ich erinnere mich an den Mann, der in Peking am Tag des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens den Panzern entgegenging. Mit einer Plastiktüte in der Hand.

Ich erinnere mich an Die Revolution ist ein Aspirin von der Größe der Sonne.

Ich erinnere mich an Katalog von allem.

Ich erinnere mich an Georges Perec.

Ich erinnere mich an Je me souviens von Georges Perec.

Ich erinnere mich an Joe Brainard.

Ich erinnere mich an I Remember von Joe Brainard.

Ich erinnere mich, dass Paul Auster in seinem Vorwort zu I Remember schrieb, dass seit 1975 viele ihre eigenen Versionen von I Remember geschrieben hätten, aber keine von ihnen auch nur in die Nähe des Originals gekommen wäre.

Ich erinnere mich, dass die letzte Erinnerung in I Remember jene an einen Traum ist, in dem er einem Mann aus weichem gelben Käse begegnet, dem er beim Händeschütteln den ganzen Arm abreisst.

Ich erinnere mich an Textmaschinen.

Ich erinnere mich an die Hedi-Maschinen, die Hedi baute, jedes Mal, wenn ihr etwas unterkam, was sie faszinierte: ein Münztelefon, Autos, einen Schokoladenspender, alles aus Papier und sehr viel Klebeband.

Ich erinnere mich an "Das machine is nicht fur gefingerpoken und mittengrabben. Ist easy schnappen der springenwerk, blowenfusen und corkenpoppen mit spitzensparken. Ist nicht fur gewerken by das dummkopfen. Das rubbernecken sightseeren keepen das cottenpickenen hands in das pockets muss. Relaxen und vatch das blinkenlights!!!"



Das machine is nicht fur gefingerpoken.


Donnerstag, 7. Juli 2022

Bücher, die ich gerne lesen würde, 1.

1 Eine Kultur-, Technik-, Wirtschafts-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Durchlöcherung der Erde: Abwasserrohre, Wasserleitungen, Gasrohre, in die Erde verlegte Strom- und Kommunikationsleitungen, Unterseekabel, Ärmelkanaltunnel & etc.

Warum ich das faszinierend fände? Weil ich keine Ahnung davon habe. Nur die Ahnung davon, wie aufwendig, kompliziert, technisch anspruchsvoll, voraussetzungs- und folgenreich das ist. Weil ich gerne wissen würde, wie so etwas "gemacht" (beschlossen, geplant, organisiert, finanziert, politisch entschieden, kartografiert, in Datenbanken abgelegt usw.) wird. Weil ich mir einbilde, dass man aus einer Gesamtschau der Weltdurchlöcherung viel über die Einrichtung von Gesellschaften, Nationen, Ökonomien usw. erfahren könnte.

2 Eine Geschichte der Einflüsse des Internets auf das menschliche Bewusstsein, Gefühlsleben usw.. Was bewirkt es, wenn man fast überall auf Wissen zugreifen kann? Wann haben Menschen begonnen, ihre Handies beim Telefonieren anders zu halten? Wie verändert es Beziehungen (aller Art), wenn man sie von Geräten unterstützt führen kann (ich habe schon zu einer Zeit gelebt, in der man sich zum Beispiel für Ferngespräche verabreden musste und man beim Telefonieren an die Kosten denken musste)? Was bewirkt es, dass man sich selbst tracken kann? All so was, sehr sehr viel mehr davon.

Warum mich das interessiert: Weil ich das gerne endlich in einer panoramatischen Schau beschrieben bekäme, von jemandem, der darüber alles weiß, ständig protokolliert hat, dem Mikro-Details auffallen, aber große Linien nicht entgehen. Und der das alles dicht erzählen kann, ohne jede Apokalypsenangst, aber auch ohne Vernetzungseuphorie.

3 Die Brief Lives von John Aubrey, allerdings über Menschen, die in diesem Jahrhundert gestorben sind. Warum? Weil Nachrufe, Lebensläufe und Würdigungen sein sollten wie bei Aubrey .



Vielleicht gibt es sie schon & ich weiß es nicht, Hinweise willkommen.


Mittwoch, 6. Juli 2022

Going, going, gone.

Letzter Tag in der Grundschule, aus der Tür kommt ein Bündel von 23 SchülerInnen, alle heulen sie, bekomme ich später erzählt, die Lehrerinnen auch, eine sagt, es ist die erste Klasse, die ich verabschieden muss, ich bin in der Früh schon heulend aufgewacht.

Nie wieder wird es so sein, wie es in den letzten sechs Jahren gewesen ist, nie wieder diese Namen am Abendtisch, nie wieder diese Nachmittagsmädchen.

Ab Herbst andere Namen, andere Mädchen, irgendwann auch Jungs, aber nicht mehr die aus den letzten sechs Jahren, und gleich heule ich auch. Das ist doch erst vor zehn Minuten gewesen, dass wir ihr dabei zugesehen haben, wie sie nach vorne gerufen wurde, zu ihrer Klasse, den Walen, mit ihrem ersten Schulranzen am Rücken und ihrer Schultüte und Salut, ihrem Teddybären, der die ersten zwei Jahre jeden Tag mitmusste, und der so hieß, weil sie ihn in Paris gefunden hatte, im Hinausgehen aus einem Gap, verrückt, dass ich das immer noch weiß. Und wie sie dann von ihrer Lehrerin begleitet mit den Walen in ihre Walklasse abzog und wir Eltern auf dem Schulhof auf sie warteten.

Ich bin so glücklich, dass es in diesen letzten sechs Jahren so gewesen ist, wie es war, aus anderen Klassen und Schulen hörten wir immer wieder Geschichten, bei denen man schon vom Zuhören Beklemmungen bekam, aber nicht von den Walen und aus dem Hofgarten, hin und wieder ein paar Tage Krach, hin und wieder seltsame Hausaufgaben und Tests, aber nichts, was sich nicht von selbst wieder auflöste. Lehrerinnen, die die Kinder mochten. Und von ihnen zurückgemocht werden, auch die spröderen, nach einiger Zeit stellte sich immer heraus, dass sie so spröde gar nicht waren. Diese seltsame Coronazeit , in der sich nach einigen Wochen dann doch alles gefangen hatte und die Kids virtuos ihre eigenen Zoom-Calls und Team-Chats anfingen, und TikTokten natürlich, noch virtuoser, manchmal dachte ich bei den Videos: was für irre Montagen!

Die Freundinnen. Und dass sie alle welche waren, nicht alle BFFs natürlich, aber Freundinnen, keine ausgeschlossen, ich glaube, von den Mädchen bei ihr in der Klasse war irgendwann jede mal bei uns, keine Zickereien, die länger als zwei, drei Tage dauerten. Die Jungs, von denen keiner auf harten Brudi machte.

Wie sie irgendwann in diesem Jahr sich dafür entschied, nur noch vegetarisch zu essen, weil sie bei einem der Vorträge in ihrer Klasse ein Video sah, in dem Tiere getötet wurden, ging danach nicht mehr, aber kein Drama, sie erzählte es halt. Wie schön das immer war, wenn die Nachmittagsmädchen da waren, in ihrem Zimmer, Choreos üben, GeWi lernen, an Vorträgen arbeiten, JustDance-Wettbewerbe, reden, kichern, lachen. Wie groß sie geworden ist. Wie überhaupt nicht mehr schüchtern sie ist, es kommt mir seltsam vor, dass sie es je war. Wie unglaublich versiert sie in dieser Zeit geworden ist, in allem, dieser Flow in den letzten anderthalb Jahren, in denen es plötzlich darum ging, Notenschnitte zu reissen, mit denen man sich das Gymi aussuchen kann, und es machte ihr zwar Mühe, manchmal all den Kram, den man sofort zu Recht wieder vergisst, zu lernen, aber es machte ihr nicht die geringste Mühe, ihn bis zu den Tests nicht zu vergessen, irgendwann machte ihr ziemlich alles sogar Spaß, warum auch immer, aber noch besser war sie noch im Größerwerden, Stärkerwerden.

Und jetzt ist das vorbei. Es wird etwas anderes kommen. Aber das jetzt ist vorbei. Gleich heul ich auch.


Montag, 4. Juli 2022
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