vague.

Samstag, 3. September 2022

Ich erinnere mich (15/15)

Ich erinnere mich an den Sumoringer, der nachts urplötzlich auf der Straße stand. In einem weißen Sumoringer-Mantel, der in der Dunkelheit fast leuchtete.

Ich erinnere mich an Schwarzweißfilme.

Ich erinnere mich an den Unglauben meiner Kinder, dass früher alle Filme schwarzweiß gewesen sind.

Ich erinnere mich an Winter.

Ich erinnere mich an Winter in meiner Kindheit, in denen so viel Schnee lag, dass ich auf Skiern in die Schule fahren konnte. Und mit der Pöstlingbergbahn zurück. Die eigene Skiträger hatte.

Ich erinnere mich an Fäustlinge.

Ich erinnere mich an den entscheidenden Unterschied zwischen Fäustlingen und Handschuhen. Handschuhe machten einen groß. Wie lange Hosen, Sakkos, richtige Schuhe.

Ich erinnere mich, was für ein Gefummel es jedes Mal war, Kindern Handschuhe anzuziehen.

Ich erinnere mich an meine Ungeduld manchmal, wenn ich die Kinder anzog. Mein Gedrängle, Geschimpfe, Generve, Genervtsein. Das mir ein paar Augenblicke gleich wieder leid tat.

Ich erinnere mich, dass ich über Corona sagte, ich sei sowieso immer im Homeoffice. Und noch nie ein social butterfly gewesen.

Ich erinnere mich an meinen Lagerkoller während Corona.

Ich erinnere mich an meine Beklemmungen in Gruppen. Nie zu wissen, was die richtige Dosierung war. Und sich dann immer für die Dosierung zu entscheiden, die dazu führte, dass mich jeder für uninteressant hielt. Meine Dankbarkeit dann immer, wenn jemand sich dann doch für mich interessierte.

Ich erinnere mich, dass ich im Internet hin und wieder Listen ausfüllte, in welchen Ländern oder Städten ich schon gewesen war und welche Erfahrungen ich schon gemacht hatte.

Ich erinnere mich an meine Wehmut beim Erfahrungen-Ankreuzen: nie Flaschendrehen gespielt!

Ich erinnere mich an Brieffreundschaften in der Schule, die nach zwei, drei Briefen wieder versandeten.

Ich erinnere mich, dass ich manchmal Frauen, in die ich einmal verschossen gewesen war, nach Jahrzehnten hinterher googelte. Und mich freute, wenn sich herausstellte, dass sie immer noch interessant waren.

Ich erinnere mich an Distinktionsbedürfnis-Accessoires für Intellektuelle, die man manchmal zu sehen bekam: Berlinale-Taschen, New Yorker-Stoffbeutel, bei 2001 hatte es sogar Tüten mit einem Portraitfoto von Roger Willemsen gegeben.

Ich erinnere mich an Menschen, die immer das Buch, das sie dabei hatten, gut sichtbar im Café auf den Tisch legten. Man sollte es sehen!

Ich erinnere mich an winzige Eigenheiten von Menschen, die man liebt. Wie jemand beim Lachen grunzte. Eine ganz bestimmte Stirnfalte. Hibbeln.

Ich erinnere mich an diesen Tanz winziger Gesten, ehe es schließlich zu den ersten Küssen kam.

Ich erinnere mich, wie verwirrend unterschiedlich die Zungenküsse der Frauen waren, die sich mit mir küssten.

Ich erinnere mich an Verbotsschilder, auf den „No necking“ oder „No petting“ stand.

Ich erinnere mich, dass niemand je das Wort „Petting“ verwendete. Außer vielleicht die Bravo.

Ich erinnere mich an Sonntagabendmelancholie.

Ich erinnere mich an Jugoslawien. Den ersten Hummer meines Lebens habe ich in Istrien gegessen. In Dalmatien habe ich zum ersten Mal in meinem Leben jemanden kennengelernt, der Nazis erschossen hat, einen alten schneidezahnlosen Herrn, der schöne Lieder sang. Das erste Mal beschwipst bin ich auf Rab gewesen, mit zwölf, Mischmasch nannte sich das, Orangensaft mit Rotwein. In den Tageszeitungen las man manchmal: Wenn einer von den deutschen Touristen nicht an sich halten konnte und ein Lied aus dem Songbook 1939-1945 sang, kam er ins Gefängnis. Zwei Schriften auf den Geldscheinen. Rasnici. Peperoni als Snack im Zug durch Serbien, nie im Leben hätte ich mir anmerken lassen, dass mir das viel zu scharf war.



Jugoslawien.

Ich erinnere mich an Vladimir und Selimir, zwei Gastarbeiterkinder, die kein Wort Deutsch konnten und die man zu uns in die Klasse gesetzt hatte, obwohl sie um einige Jahre älter als wir.

Ich erinnere mich an den Duft von Kaffee.

Ich erinnere mich an den verschmorten Gestank, nachdem mir der Hautarzt eine Warze weggelasert hatte: "So also riecht es, wenn ein Mensch verbrennt".

Ich erinnere mich an Herrn Ganguli, den indischen Kollegen meines Vaters. Einmal kam er zum Abendessen und brachte als Geschenk für uns Kinder zwei Bohnen oder Erbsen, die ausgehöhlt und mit einem winzigen Elefanten auf einem Sockel verschlossen waren; darin: noch viel winzigere Papierelefanten.

Ich erinnere mich an die Schmetterlingssammlung meines Onkels, der nach Südafrika ausgewandert war, um so viel Geld zu verdienen, dass er sich ein Haus in Niederösterreich bauen konnte. In einem Sommer schlief ich in seinem Zimmer und zog nachts die Schubladen mit den Glaskästen auf, in denen die Schmetterlinge waren.

Ich erinnere mich, dass die Welt voller Magie war. Schattentheaterfiguren, Zaubertricks, die Münzen verschwinden ließen.

Ich erinnere mich, dass die Welt voller Schrecken war. Schatten, die über die Decke krochen, wenn nachts ein Auto vorbeifuhr. Träume von Krokodilen. Männer, denen man lieber aus dem Weg gehen sollte.

Ich erinnere mich an Berge.

Ich erinnere mich an Schwefel.



Schwefel.

Ich erinnere mich, dass ich nach zwei, drei Wochen das Jucken unter dem Gips nicht mehr aushielt und mich mit einer Stricknadel kratzte. Was aber auch nicht half.

Ich erinnere mich an den kasachischen Masseur, unter dessen Griffen ich mich anfühlte, als würden die Fasern meiner Schultermuskeln auseinandergeschichtet werden.

Ich erinnere mich an die Handmasseurin in Tokio. Hinterher fühlte sich meine Hand (es war nur die linke) an, als würde sie pulsieren.

Ich erinnere mich an die Reit- und Springturniere, zu denen mein Bruder und ich immer mitmussten, langweiliger als alles andere, zu dem wir mitmussten.

Ich erinnere mich, dass ich jahrelang eine kaum überwindbare Abneigung gegen Filme hatte, in denen Pferde vorkamen.

Ich erinnere mich, dass mein Vater uns zu Speedway-Rennen ins Linzer Stadion mitnahm.

Ich erinnere mich, dass bei einem Reit- und Springturnier der Tod Jochen Rindts in Monza bekannt gegeben wurde und daraufhin fast alle aufstanden, um nach Hause zu fahren

Ich erinnere mich, dass wir beim Tanzen Stücke auflegten, zu denen man irre lange "Blues tanzen" konnte. King Crimson, In the Court of the Crimson King, genug Zeit, um einander ganz nahe zu kommen.

Ich erinnere mich an Mellotrons.

Ich erinnere mich an jazzige Querflöten.

Ich erinnere mich an kitschige Querflöten.

Ich erinnere mich an elektrisch verstärkte Violinen in Rockbands. Und dass sie irgendwie ein Argument gegen Erwachsene waren.

Ich erinnere mich an Rockbands mit Symphonieorchestern.

Ich erinnere mich an die Erleichterung, als die Zeiten von Rockbands mit Symphonieorchester, Mellotrons, E-Violinen und Querflöten endlich vorbei waren.

Ich erinnere mich, dass ich jung war.

Ich erinnere mich, dass ich nie wirklich jung war.

Ich erinnere mich, dass ich irgendwann wusste, alt geworden zu sein.

Ich erinnere mich, dass ich manchmal den Kindern meine Schreibkunststücke vorführte. Mit zwei Händen gleichzeitig, die eine Hand mit der, die andere gegen die Schreibrichtung, oder spiegelverkehrt auf dem Kopf stehend. Eine Folge meiner Umerziehung vom Links- zum Rechtshänder.

Ich erinnere mich an die spiegelverkehrt geschriebenen Buchstaben und Ziffern der Kinder. Wenn ich es ihnen zeigte, sahen sie es nicht, völlig verrückt: Man malte ihnen ein E, sie malten es konzentriert nach, aber spiegelverkehrt, als ∃



Spiegelverkehrt.

Ich erinnere mich an Klappbetten. Für alle Fälle.

Ich erinnere mich an Klappstühle. Für alle Fälle.

Ich erinnere mich an die Schilderung Lloyd deMauses in Klaus Theweleits Männerphantasien: Er habe in seiner Wohnung alles, was Ecken, Kanten und Spitzen hatte, so gepolstert, dass sich Kinder daran nicht verletzen konnten.

Ich erinnere mich, dass es auf den New Yorker Spielplätze Schaukeln für behinderte Kinder gab, aus denen sie nicht fallen konnten. Und dass in Paris die Böden der Spielplätze einen federnden Belag hatten, damit die Stürze nicht so hart ausfielen.

Ich erinnere mich, dass in Berlin jedes Mal, wenn ein Spielplatzgerät kaputt ging, es monatelang nicht ersetzt wurde. Falls überhaupt.

Ich erinnere mich an einen Artikel in der New York Times, dessen Autorin über Berliner Spielplätze schwärmte, Abenteuerorte für free ranging kids.

Ich erinnere mich an den Essay George Nelsons über die Wichtigkeit, beim Designen auch an den subspace von Möbeln zu denken, den man nur zu sehen bekomme, wenn man beispielsweise auf dem Boden liegt und zum Tisch oder einem Stuhl hochschaut. Oder wenn man ein Kind ist.

Ich erinnere mich an einen Text, in dem jemand die Frage stellte, wie man es wohl fände, wie ein Kleinkind auf dem Rücken liegend durch die Gegend geschoben zu werden und nur Wolken zu sehen zu bekommen.

Ich erinnere mich an einen Artikel mit der Beobachtung, dass viele Lastenräder, in denen Kinder transportiert werden, sich genau auf der Höhe der Auspuffrohre befinden, an denen sie vorbeigefahren werden.

Ich erinnere mich an die Geräusche, wenn Kinderkörper mit Gegenständen zusammenprallten. Metallische Echos. Dumpfe Zusammenstöße. Danach Stille. Und erst danach Schreien.

Ich erinnere mich an den Burberry-Anzug, den ich mir von meinem Zivildienersold gekauft und nur ein einziges Mal angezogen habe.

Ich erinnere mich an die Sommerzeit.

Ich erinnere mich an Artikel darüber, wie sinnlos die Sommerzeit sei.

Ich erinnere mich, wie sich in jedem Sommer die Stadt verwandelte, als wäre sie aus ihrer schlechten Laune aufgewacht.

Ich erinnere mich an die Kleinwüchsigentruppe auf Gran Canaria, die Freaks als Zirkusvorstellung inszenierte.

Ich erinnere mich an den Clown von Auschwitz.

Ich erinnere mich, dass ich in Essen in einer Bibliothek in Mikrofilmen von Nazi-Tageszeitungen nach einem Artikel suchte, der von der Zirkustruppe handelte, deren Clown später am Tor von Auschwitz stand. Und dass ich ihn fand.

Ich erinnere mich, dass ich es nicht schaffte, die Geschichte über den Clown von Auschwitz zu schreiben, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich die paar Details, die ich hatte, zusammenbringen und nachprüfen konnte.

Ich erinnere mich an den Eichmannprozess auf youTube.

Ich erinnere mich, dass sich meine Mutter daran erinnerte, in ihrer Kindheit gewusst zu haben, dass behinderte Kinder getötet wurden.

Ich erinnere mich, dass sich mein Vater an die sowjetischen Soldaten erinnerte, die mit ihm gespielt hatten.

Ich erinnere mich, dass meine Mutter Koteletten Beikeles nannte.

Ich erinnere mich, dass es in Österreich Schweinskotelett hieß und nicht Schweinekotelett.

Ich erinnere mich, dass es in Österreich das Cola und das Mail hieß.

Ich erinnere mich an Popbitch.

Ich erinnere mich an Saltyt.

Ich erinnere mich an Flickr.

Ich erinnere mich an Tamagotchis.

Ich erinnere mich an Toca Boca.

Ich erinnere mich an die Bötzis.



Die Bötzis.

Ich erinnere mich an ihre Schultüte.



Schultüte.

Ich erinnere mich an den Oui-Ring.

Ich erinnere mich an Asger Jorn.

Ich erinnere mich an die alte BRD.

Ich erinnere mich an die Bonner Republik. Und dass ich zweimal in Bonn gewesen bin. Einmal in einem Gästehaus der Bundesregierung, um mit Salman Rushdie zu sprechen, während rund um das mit Maschinengewehren bewaffnete Polizisten achtgaben, das zweite Mal bei einer Sitzung, in der über das Jugendverbot irgendeines Buchs verhandelt wurde.

Ich erinnere mich an das Erstaunen Nicolae Ceaușescus, als er merkte, dass die Menschen auf dem Platz unter seinem Balkon mit ihm fertig waren.

Ich erinnere mich an den Mann, der in Peking am Tag des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens den Panzern entgegenging. Mit einer Plastiktüte in der Hand.

Ich erinnere mich an Die Revolution ist ein Aspirin von der Größe der Sonne.

Ich erinnere mich an Katalog von allem.

Ich erinnere mich an Georges Perec.

Ich erinnere mich an Je me souviens von Georges Perec.

Ich erinnere mich an Joe Brainard.

Ich erinnere mich an I Remember von Joe Brainard.

Ich erinnere mich, dass Paul Auster in seinem Vorwort zu I Remember schrieb, dass seit 1975 viele ihre eigenen Versionen von I Remember geschrieben hätten, aber keine von ihnen auch nur in die Nähe des Originals gekommen wäre.

Ich erinnere mich, dass die letzte Erinnerung in I Remember jene an einen Traum ist, in dem er einem Mann aus weichem gelben Käse begegnet, dem er beim Händeschütteln den ganzen Arm abreisst.

Ich erinnere mich an Textmaschinen.

Ich erinnere mich an die Hedi-Maschinen, die Hedi baute, jedes Mal, wenn ihr etwas unterkam, was sie faszinierte: ein Münztelefon, Autos, einen Schokoladenspender, alles aus Papier und sehr viel Klebeband.

Ich erinnere mich an "Das machine is nicht fur gefingerpoken und mittengrabben. Ist easy schnappen der springenwerk, blowenfusen und corkenpoppen mit spitzensparken. Ist nicht fur gewerken by das dummkopfen. Das rubbernecken sightseeren keepen das cottenpickenen hands in das pockets muss. Relaxen und vatch das blinkenlights!!!"



Das machine is nicht fur gefingerpoken.

Sie sind nicht angemeldet