vague.

Reinspringen

Freitag abends ist es am schönsten. Die einen kommen noch nach Hause, andere gehen schon wieder weg, Wochenendaufgeputschtheit, in den Restaurants am Straßenrand sehe ich Menschen lachen, ich kann sie nicht hören, weil ich meine Playlist in den Ohren habe, in ein paar Minuten zusammengeklopft, Impulsklicken auf Spotify, um dann verwundert festzustellen, wie perfekt der Flow war, auch wenn zweimal Kalabrese hintereinander nicht geht, aber ich will es nicht mehr ändern, auch nicht die zwei, drei Stücke löschen, die ich jedes Mal überspringe. Seit ich verstanden habe, dass sich das erledigen lässt, indem ich auf den linken Ohrhörer tippe, macht das keine Mühe mehr. Immer dieselben Lieder also, immer dieselbe Runde, die Chodo runter, die Greifswalder bis zur Heinrich Roller, hoch zur Wins, die Wins bis zur Chodo, rechts hoch nach Hause, drei Etagen noch, dann erst mache ich die Musik weg, stoppe das Workout auf der Uhr und schaue mir meine Werte an.

Das ist meine Routine jetzt.

Sie hat mir nicht den Arsch gerettet, weil mein Arsch nicht gerettet werden musste, er war immer das Beste an meinem Körper, aber die Seele, das Leben, ich glaube das wirklich, obwohl es doof klingt. Drei Jahre lang, vielleicht auch länger, bin ich an die Schwermut verloren gewesen. Ich hätte sicher eine Therapie gebraucht, aber ich kann mir niemanden vorstellen, mit dem das nicht fürchterlich schiefgegangen wäre. Ich wäre nicht leicht zufriedenzustellen gewesen, nicht aus mir herausgekommen, ich hätte mich getarnt und geziert, oder mich hoffnungslos verliebt, wegen all der Zuwendung, und dabei schlaumeierisch gewusst, wo bei Freud ich über Übertragungen und das hoffnungslose Verlieben nachlesen könnte. Jahre, um irgendwohin zu kommen – und was hätte ich in meinem Alter von etwas, für das ich Jahre bräuchte, ohne die Sicherheit, dass es mir hilft?

Meine Therapie war mein Überdruss am Im-Grau-Angekommen-Sein, die Gelangweiltheit durch meinen Zustand, Selbstverachtung. Das kannst du weiter so machen, dachte ich irgendwann, Jahr um Jahr um Jahr, und du wirst nirgendwo hinkommen dabei. Oder du kannst es lassen. Also ließ ich es.

Ich ging los, immer dieselbe Runde, die mich seit einiger Zeit nicht mehr aus der Puste bringt, weswegen ich jetzt manchmal noch eine Extraschleife anhänge, mit immer denselben Liedern, von denen ich noch nicht genug habe. The River heißt das erste, ich weiß nicht mehr wirklich, wie es bei mir gelandet ist, ich glaube, ich habe es mir per Shazam aus Five Elephant gefischt, wo ich Espresso trinke, wenn mir die Decke auf den Kopf fällt. Ein paar Wochen lang habe ich The River für subtil gehalten, es hatte eine angenehme Bewegung, all i know we are going up on a river can you feel it moving, heißt es darin, ich fand es seltsam, aber auch schön, einen Fluss hinauf statt hinunter zu gleiten. Dann sah ich mir auf YouTube das Video an und musste lachen, weil es überhaupt nicht subtil war, sondern schwer erträglicher Romantik-Bullshit: eine Frau, die einem Mann sagt, wie sehr er für sie das Allergrößte ist und dabei längst aus der Mode gekommene Ergebenheitsgesichtsausdrücke macht, doch sie singt schön & und das Lied gleitet so schön, ich glitt mit ihm.



Es ist bestürzend leicht gewesen, an die Schwermut verloren zu gehen, und immer noch fallen mir, wenn ich jetzt darüber nachdenke, hunderttausend einleuchtende Gründe für sie ein und nur wenige, nicht schwermütig zu werden. Die elende Weltlage, die wie in einem Stafettenlauf jeder Krise eine neue hinterherschickte; die Inflation; die Tobsucht im Internet; die Sicherheit, keine Sicherheiten mehr zu haben; der zähe und immer zäher werdende Endkampf des Journalismus gegen seinen Untergang, ich könnte noch ewig so weitermachen, dazu dieses und jenes eher Persönliche, das ich wahrscheinlich auch einer Therapeutin erst nach Monaten erzählen würde, mal sehen, wie lange es hier dauert. Auch das Altern. Es ist oft ekelig. Wenn man Fotos von Rammstein sieht oder mit den Berichten über die erste, ganz sicher wieder unerhebliche Platte der Rolling Stones nach vielen Jahren konfrontiert wird, sehne ich mich danach, kein weißer alter Mann mehr sein zu müssen. Geht aber nicht. Haare wuchern aus den Ohren, Runzeln fälten am Hals, Flecken flecken die Haut, Alter-Sack-Ächzen immer wieder. Was für ein Elend.

Irgendwann hatte ich herausgefunden, wie man die fürsorglich gemeinte Lautstärkebegrenzung auf dem IPhone aushebeln kann, danach wurde die Routine noch besser. Redbone muss so laut sein, dass man beim Gehen ein wenig mittänzeln mag, die Musik so mächtig, dass man keine Scheu mehr davor hat, bescheuert auszusehen, wenn man seine Lippen STAY WOKE-Bewegungen machen lässt. Ah, Ekstase! Ah, Falsett! & immer noch keine Ahnung, wieso alles Falsettige mich sofort kriegt, Prince die Neville Brothers Klaus Nomi früher, sogar die Bee Gees. Vielleicht hatte meine Schwermut ja auch damit zu tun, dass mein imaginiertes Ich (eine Falsett-Stimme in einem Körper, der Vintage-YSL-Hemden trägt) von meinem tatsächlichen Ich (eine Barry White-Stimme in einem Körper, der glücklich war, als ihm die XXL-Uniqlo-Polos zu passen begannen) deprimierend weit entfernt ist. Tragischerweise lässt sich das durch keinen Beschluss ändern. Tragischerweise werde ich nie als der gelesen werden, der ich eigentlich bin. Tragischerweise werde ich weiter darüber fluchen, dass Identität so etwas Doofes und Subalternes ist. Tragischerweise werde ich beim Fluchen genau wissen, dass ich es nur tue, weil mir meine Identität nervig am Hals hängt.

Beim Gehen und Musikhören und Lippensynchronisieren denke ich viel nach, kein wirkliches Nachdenken, sondern etwas Vageres, das gleich wieder zurückbleibt. Warum Tätowierern nichts Besseres einfällt, dass ich endlich wieder mehr Fisch essen sollte (ich lebe mit Fischphobikern zusammen), dass ich mich endlich mal wieder sturzbetrinken sollte (ich habe schon Jahre keinen Alkohol mehr getrunken, ohne Grund, Absicht und Zweck, hat sich so ergeben), wie schön es wäre, wieder mehr für mich zu schreiben.

Vielleicht mache ich das.

all i know we are going up on a river can you feel it moving

Going, going, gone.

Letzter Tag in der Grundschule, aus der Tür kommt ein Bündel von 23 SchülerInnen, alle heulen sie, bekomme ich später erzählt, die Lehrerinnen auch, eine sagt, es ist die erste Klasse, die ich verabschieden muss, ich bin in der Früh schon heulend aufgewacht.

Nie wieder wird es so sein, wie es in den letzten sechs Jahren gewesen ist, nie wieder diese Namen am Abendtisch, nie wieder diese Nachmittagsmädchen.

Ab Herbst andere Namen, andere Mädchen, irgendwann auch Jungs, aber nicht mehr die aus den letzten sechs Jahren, und gleich heule ich auch. Das ist doch erst vor zehn Minuten gewesen, dass wir ihr dabei zugesehen haben, wie sie nach vorne gerufen wurde, zu ihrer Klasse, den Walen, mit ihrem ersten Schulranzen am Rücken und ihrer Schultüte und Salut, ihrem Teddybären, der die ersten zwei Jahre jeden Tag mitmusste, und der so hieß, weil sie ihn in Paris gefunden hatte, im Hinausgehen aus einem Gap, verrückt, dass ich das immer noch weiß. Und wie sie dann von ihrer Lehrerin begleitet mit den Walen in ihre Walklasse abzog und wir Eltern auf dem Schulhof auf sie warteten.

Ich bin so glücklich, dass es in diesen letzten sechs Jahren so gewesen ist, wie es war, aus anderen Klassen und Schulen hörten wir immer wieder Geschichten, bei denen man schon vom Zuhören Beklemmungen bekam, aber nicht von den Walen und aus dem Hofgarten, hin und wieder ein paar Tage Krach, hin und wieder seltsame Hausaufgaben und Tests, aber nichts, was sich nicht von selbst wieder auflöste. Lehrerinnen, die die Kinder mochten. Und von ihnen zurückgemocht werden, auch die spröderen, nach einiger Zeit stellte sich immer heraus, dass sie so spröde gar nicht waren. Diese seltsame Coronazeit , in der sich nach einigen Wochen dann doch alles gefangen hatte und die Kids virtuos ihre eigenen Zoom-Calls und Team-Chats anfingen, und TikTokten natürlich, noch virtuoser, manchmal dachte ich bei den Videos: was für irre Montagen!

Die Freundinnen. Und dass sie alle welche waren, nicht alle BFFs natürlich, aber Freundinnen, keine ausgeschlossen, ich glaube, von den Mädchen bei ihr in der Klasse war irgendwann jede mal bei uns, keine Zickereien, die länger als zwei, drei Tage dauerten. Die Jungs, von denen keiner auf harten Brudi machte.

Wie sie irgendwann in diesem Jahr sich dafür entschied, nur noch vegetarisch zu essen, weil sie bei einem der Vorträge in ihrer Klasse ein Video sah, in dem Tiere getötet wurden, ging danach nicht mehr, aber kein Drama, sie erzählte es halt. Wie schön das immer war, wenn die Nachmittagsmädchen da waren, in ihrem Zimmer, Choreos üben, GeWi lernen, an Vorträgen arbeiten, JustDance-Wettbewerbe, reden, kichern, lachen. Wie groß sie geworden ist. Wie überhaupt nicht mehr schüchtern sie ist, es kommt mir seltsam vor, dass sie es je war. Wie unglaublich versiert sie in dieser Zeit geworden ist, in allem, dieser Flow in den letzten anderthalb Jahren, in denen es plötzlich darum ging, Notenschnitte zu reissen, mit denen man sich das Gymi aussuchen kann, und es machte ihr zwar Mühe, manchmal all den Kram, den man sofort zu Recht wieder vergisst, zu lernen, aber es machte ihr nicht die geringste Mühe, ihn bis zu den Tests nicht zu vergessen, irgendwann machte ihr ziemlich alles sogar Spaß, warum auch immer, aber noch besser war sie noch im Größerwerden, Stärkerwerden.

Und jetzt ist das vorbei. Es wird etwas anderes kommen. Aber das jetzt ist vorbei. Gleich heul ich auch.

In diesem gloriosen Sommer


In diesem gloriosen Sommer wird sie mir wieder und wieder das Herz brechen, wenn sie in der Badewanne ihre Taucherbrille braucht und dann so auftaucht:

ich ihr dabei zusehe, wie sie Rad fährt, endlich auf ihrem eigenen statt bei mir auf dem Kindersitz, für den sie schon viel zu groß ist, aber ich habs vergeigt, ihr das früher beizubringen in meinem Coronamelancholieherumsumpfen, und fährt jetzt los jeden Morgen und war so stolz, als Ella sich ihr Fahrrad ansah,

wenn sie, immer noch, tropsdem sagt statt trotzdem, weil ich weiß, das wird der letzte tropsdem-Sommer sein,

wenn sie sich aus Papier ein Handy bastelt, auf dem sie mich anruft, mit Spiele-Apps drauf, so wie sie sich alles, was sie gerade braucht, aus Papier baut, das Essen, das Eis, ein Haus, von allem, was es gibt, macht sie sich ihre eigenen Papierversionen, hier, sagt sie, ein Regenbogeneis, willst du, sagt sie, meinen Kalender sehen, und zeigt mir das Heft, das sie sich in der letzten Stunde zurechtgeschnitten und zusammengeklebt und mit Buchstaben vollgeschrieben hat,

wenn sie mir erzählt, dass Lady Bug ihrer Freundin jetzt erzählt hat, dass sie eine Superheldin ist

sie wissen will, wann sie endlich lesen kann, und ich will es ihr nicht zeigen, weil ich Angst habe, dass sie sich dann in der Schule fadisiert

sie mir die Drehscheibe zeigt, die sie in der Kita gebaut haben, die Lebensphase einer Raupe, da das Ei, sagt sie, da ist ein Kokon, sagt sie, da ist ein wunderschöner Zitronenfalter, und werd sie bitten, für mich auch so eine Scheibe mit ihrem Leben zu basteln, und liegt in meinem Arm und schaut sich auf meinem Iphone Fotos an, auf denen sie gerade erst geboren war

das ist der letzte Sommer, der so sein wird, denke ich dann manchmal, das letzte Mal in deinem Leben, jedenfalls 24/7, saug dich voll damit, damit wirst du bis zu deinem Tod auskommen müssen,

ach Hedi, sag ich, sag immer weiter tropsdem, kann ich ein Eis, sagt sie, na klar, sag ich und steh auf und hol ihr eins

Disclaimer.

Vor über zwanzig Jahren habe ich zum ersten Mal damit angefangen, ein Weblog zu schreiben. Stefan hatte uns eines zugelegt, schau mal, mailte er, vielleicht ist das etwas für dich. Also schrieb ich, am 30. Oktober 2001, ohne irgendeinen Plan, worauf das hinauslaufen sollte, zwei kleine Texte:

1. Zwei Sorten Städte

In den einen ist man von Anfang an. In den anderen kommt man nie an. Tokyo: hat nie angefangen, nie aufgehört. Ich weiß gar nicht, wo Tokyo war, oder was, oder wann. Schoss bloß im Kopf zu einer Stadt zusammen. Diese windschiefen Holzställe neben den Stadtautobahnen. Die Hochhäuser in der Entfernung. Kamen nicht näher. Ich auch nicht. Bis ich wieder weg war.

2. 15 Sekunden.

Was für ein Glücksgefühl das war. Eine neue Platte aus der Hülle nehmen. Nur mit den Fingerspitzen anfassen. Jedenfalls bei den ersten paar Malen. Später wurde man nachlässiger. Auflegen. Den Staub vom Saphir pusten. Normalerweise müsste man jetzt den Tonarmhochhebhebel betätigen. Aber so lange kann man nicht warten. Man legt händisch auf. Wird schon nichts schiefgehen. Oder doch. Aber das hört man erst nach zwanzigmal, und vielleicht mag man dann die Platte eh nicht mehr. Wenn man sie mag, ist es einem egal, dass es knackt und knarzt. das erste Stück ist meistens sowieso nicht das beste. Die besseren Stücke haben sie sich früher immer aufgehoben. Wenn bei den CDs dagegen nur ein Stück gut ist, ist es das erste. Weil es bei den meisten CDs, die gemacht werden, auf die ersten 15 Sekunden ankommt. Die Plattenfirmen schicken einem das genauso. Mit einem Begleitbrief, in dem es heißt: Anspieltip - track one. Sie wissen genau, dass wir wissen, dass es Schund ist, dass wir höchstens 15 Sekunden zuhören werden, und wenn es dann nicht rockt, wird die CD nie wieder einen Abtastlaser fühlen. Deswegen ist es das erste Stück. Deswegen sind es die ersten 15 Sekunden des ersten Stückes. Deswegen muss für die ersten 15 Sekunden des ersten Stückes ein Produzent her, der früher geniale Loops gemacht hat. Da hat die Plattenindustrie eine geringe Chance, dass man dem beschissenen Rest doch noch zuhört. Es muss mit einem Effekt losgehen.

Seltsam, denke ich beim Wiederlesen: Das sind zwei Texte, die vom Anfangen handeln, davon, wie etwas – eine Stadt, Musik - losgeht, und davon, wie Leute, die einem etwas verkaufen wollen, versuchen, Anfänge als Versprechen zu designen, damit man bleibt statt gleich wieder anderswohin zu verschwinden. Damals ist mir das nicht aufgefallen.

Damals habe ich einfach immer nur weitergeschrieben. An diesem Endlostext, von dem es hieß, er sei ein Weblog, es dauerte noch, bis Leute es auf Blog verkürzten und es das Verb bloggen gab. Niemand wusste wirklich, was Weblogs waren, werden konnten und würden, worauf sie hinausliefen, wozu sie gut waren, was man mit ihnen anstellen konnte. Weblogs waren damals noch völlig anders als jetzt: Zum Beispiel gab es für Amateure wie mich, die sich nicht selbst etwas programmieren können, noch lange keine Kommentarfunktion. Wenn eine Leserin (ich gendere nicht, aber an den Stellen, an denen ich es könnte, meine ich immer m/w/d) etwas zu dem sagen wollte, was ich geschrieben hatte, musste sie eine Mail schreiben, dann bekam es aber nur ich mit, oder etwas in ihr eigenes Weblog schreiben und einen Link zu dem Text setzen, den sie kommentierte. Das taten gar nicht einmal wenige. Eine Zeitlang, so kam es mir vor, wuchsen Weblogs wie eine Sommerblumenwiese, plötzlich explodierten Farben.

Für mich, der ich zufällig zu einem Weblog gekommen war, war es großartig, etwas völlig Neues. Ich schrieb, was ich wollte, in der Länge und in der Form, die mir einfielen, ich konnte es sofort ins Netz stellen, an einem Ort, den ich mir selbst so eingerichtet hatte, wie ich wollte (ich war nicht so besonders begabt, was Design betrifft, aber ich schaffte es, Texte einigermaßen augen- und lesereundlich zu präsentieren). Und ich schrieb zwar für andere Menschen (statt nur für mich selbst), aber ich kannte sie nicht, wusste nicht, ob ich und von wie vielen ich gelesen wurde, wie sehr sie es mochten oder hassten, man wurde nicht, wie später, beobachtet, bewertet, kommentiert usw., aber manchmal bekam man eine Mail, manchmal machte sich jemand die Mühe, auf seinem eigenen Weblog auf einen einzugehen. Es gab noch keine Weblogerfolgsformeln. Es zwar Leute, die, wie oft in dergleichen Fällen, entweder eine Medienrevolution oder viel Kohle oder beides witterten, aber es gab noch sehr viel mehr, die Weblogs nicht für das neue große Ding hielten.

Deswegen hatte man jede Freiheit, zu tun, was einem einfiel. Selbstverständlich hat man sie noch immer. Aber in einer durchmedialisierten Umgebung, in der „Weblog“ etwas sehr viel anderes bedeutet als vor 20 Jahren, fällt einem vielleicht nicht auf, dass und wie viele Freiheiten man hat.

Mir sind beim Nachdenken darüber, was ich da eigentlich tat und warum es mich so zufrieden machte, damals immer mal wieder Vergleiche eingefallen, die etwas mit Musik zu tun hatten und nichts mit Settings, in denen geschrieben wird. Dass Weblogs so etwas wie Jam Sessions seien, dachte ich: Irgendjemand stellt sich hin, schnappt sich ein Instrument und legt los, andere kommen vorbei, hören zu, spielen mit. Oder dass die frühen Weblogs wie früher Punk waren, go for it, kleine finnische Clubs, es ist wichtig, dass du dich ausdrückst. Es war eine großartige Zeit für mich. Nicht nur hatte ich einen Ort gefunden, an dem ich auf andere Weise schreiben als in meiner Arbeit und dabei etwas über das Schreiben und mich herausfinden konnte. Sondern, und oft wog das schwerer, es gab viele, die das auch taten, auf ihre Weisen, ein riesige Jam Session, und das Schönste war, dass Virtuosen und Krachmacher zusammenspielen konnten.

Ich habe keine Ahnung, ob das heute noch so ist. Wahrscheinlich. Irgendwo anders und nicht mehr so, wie es war, sondern auf ganz andere Weise, aber die Bedürfnisse und die Elektrisiertheit und die Glücksberauschtheit, wenn man durch ein Medium an einen Ort kommt, an dem es einem richtiger geht, sind ja nicht verschwunden.

Ich habe aber eine Ahnung, was mit mir geschehen ist. Nach vielen Jahren, in denen ich fast täglich an diesem Weblog weitergeschrieben hatte (es war umgezogen, es hatte sich Kommentare zugelegt ...), habe ich damit aufgehört. Das hatte nichts damit zu tun, dass das Weblog aufgehört hatte, gut für mich zu sein. Sondern mit den Umständen in meinem Leben. Für mein Weblog nämlich hatte ich mir vorgenommen, mich nicht so weit von meinem Leben zu entfernen, wie es beispielsweise die journalistischen Texte erzwingen, die ich schreibe, ich wollte mich nicht ausstreichen, ich wollte einigermaßen an mir bleiben, Autofiktion, ich sagen, versuchen, wie man sich, ohne allzu narzisstisch zu sein, zwischen Diskretion und Offenheit bewegt, ich wollte mit all dem experimentieren. Doch dann ging das nicht mehr: Ich konnte, wollte, durfte nicht mehr so vieles über mein Leben schreiben, weil das Leben sich geändert hatte, plötzlich musste ich mir zum Beispiel Gedanken darüber machen, wie es ankam, was ich schrieb, ob es möglicherweise verletzte, was ich schrieb (auch wenn es nichts Verfängliches hatte).

Sie merken schon, ich drücke mich schon wieder rum, geht aber nicht anders. Jedenfalls wurde es zu mühsam. Man kann nicht tanzen, wenn man sich dabei ständig fragt, was wohl die Leute denken, die einem dabei zusehen (deswegen kann ich nicht tanzen).

Also hab ich das Weblogschreiben gelassen. Hin und wieder noch einen kleinen Versuch unternommen und dann gleich wieder einschlafen lassen. Es gab ja genug zu tun. Job. Zwei Kinder. Der eigene Bullshit, alles mögliche.

Es hat mir immer wieder gefehlt. So ein kleiner Schmerz, doch dann schüttelt man sich und macht weiter.

Bis der Schmerz und das Fehlen so groß geworden sind, dass ich mich nicht mehr schütteln will.

Also schreibe ich wieder das Weblog. Party like it’s 1999. Mal sehen, wohin ich komme damit. Einen Plan habe ich noch immer nicht. Doch endlich nicht mehr die Vorstellung, dass ich einen haben sollte.

87.

In dem Buch, das ich schriebe, wenn ich es könnte, geschähe vieles, aber selten etwas Großes, ein Strom, ein Kreiseln, ein langer Tag, ein Gehen im Kreis, Tische, an denen sechs, acht, elf Menschen säßen, sprächen, über nichts Wichtiges. Die Zeit verginge, die Sätze vergingen, alles wäre gut, weil es nichts Wichtiges mehr gäbe, je älter ich werde, desto mehr liebe ich das Unwichtige, desto mehr macht mir das Wichtige Angst.

84.

Das Haus hatte drei Etagen, eine Veranda, einen kleinen Garten, vier Badezimmer, einen Whirlpool. Merkwürdiges Internet.

Auf der anderen Seite des Hudson Rivers stand wieder ein World Trade Center. Ein Turm, nicht mehr zwei. „Du musst es jetzt alleine schaffen“, dachte ich.

Als wir im Jahr vor Fannys Geburt in New York gewesen waren, hatten wir noch in eine tiefe Grube gesehen, an den Zäunen Zettel, Flugblätter, Blumen. Nun, am gegenüberliegenden Ufer, schämte ich mich, weil ich bei meinen Versuchen, mir den 11.September vorzustellen, immer die Fähren vergessen hatte, die an jenem Tag Davongekommene aufgenommen und über den Hudson River nach Jersey City evakuiert hatten. An der Waterfront erinnerte eine Tafel an die Feuerwehrmänner, die ums Leben gekommen waren: You went in, when we came out. Ein verbogener Stahlträger, um dessen Nieten Menschen Freundschaftbänder gewickelt hatten, ein Block weiter ein Denkmal für die in Katyn von der Roten Armee ermordeten polnischen Offiziere. Am Tag nach unserer Ankunft kamen wir auf dem Weg zum Spielplatz im Hamilton Park an einem polnischen Veteranenheim vorbei, zwei Wochen später, am Labour Day, begegneten uns auf dem selben Weg zwei alte Männer, die Militäruniformen mit Aufnähern auf den Ärmeln trugen, auf denen „Polska“ stand. Wenn ich in diesen zwei Wochen nachts aufwachte, taperte ich zwei Stockwerke tiefer, um mich mit Zigaretten und dem Kindle auf die Veranda zu setzen und in „Bloodlands“ zu lesen. Ich hatte das Buch schon einmal nach einer Besprechung in der NYRB angefangen und es nach ein paar Tagen wieder weggelegt, weil ich nicht ertrug, wovon es erzählte. Jetzt ging es, vielleicht weil mich der Jetlag mürbe machte. In „Bloodlands“ erzählt Timothy Snyder, wie zwischen 1933 und 1945 in einem Gebiet, das die Ukraine, Weißrussland, die baltischen Staaten, Vorkriegspolen und das westliche Russland umfasst, 14 Millionen Zivilisten getötet wurden - durch die von Stalins Politik ausgelöste Hungersnot in der Ukraine, durch NKWD-Säuberungen, Massendeportationen, ethnische Säuberungen, durch den Holocaust und das Verhungernlassen sowjetischer Kriegsgefangener, durch Erschießungen und Pogrome. Ich konnte mir das alles nicht vorstellen, weder das Sterben noch das Töten, obwohl Snyder beides ausführlich schilderte, so wie ich mir das Töten und Sterben nie vorstellen konnte, auch nicht, wenn ich mir auf YouTube die Videos ansah, von denen es bei Spiegel Online hieß, dass sie im Internet aufgetaucht waren, es dauerte immer nur ein paar Minuten, bis ich sie fand und drei, vier Mal hintereinander abspielte. Es gab daran nichts zu verstehen, jemand kam und schoss  Menschen, die dafür ausgesucht worden waren, in den Hinterkopf oder schlug sie mit einer Schaufel tot oder ließ sie noch ein wenig Gras und Erde fressen, ehe sie verhungerten, oder die Gräber ausheben, in die sie dann hineingeschossen wurden, jemand entführte ein Flugzeug und ließ es in ein Hochhaus stürzen. Wenn nach zwei, drei Stunden die Müdigkeit wieder stärker als die Jetlag-Wachheit war, machte ich den Kindle aus, schloss die Verandatür ab und stieg wieder hoch, um mich zu den beiden ins Bett zu legen und noch ein paar Stunden zu schlafen, Fanny zwischen uns. Meistens wachte ich davon auf, dass ich sie im Badezimmer lachen hörte, Okka hatte Justin Timberlake angemacht oder das Dollar-Lied, wie Fanny es nannte, Dollar Dollar bettelte sie, bis Okka es anmachte, dann tanzte sie zu den ersten anderthalb Strophen, es ging ihr immer nur um den Anfang, das Glück des Wiedererkennens. Warum schläfst du nicht, fragte Okka, Jetlag, sagte ich und erzählte ihr nicht von den „Bloodlands“. Ich hatte nicht wirklich nach New York gewollt, weil ich mir nicht vorstellen hatte können, mit einem zweieinhalbjährigen Kind durch New York zu laufen, und weil es mir seltsam vorgekommen war, so weit zu reisen, um dann auf Spielplätzen zu sitzen. Aber nun war es wie immer, wenn ich in Amerika gewesen war, schon in der Schlange vor der Passkontrolle war ich glücklich. Fanny, die sich den ganzen Flug über bestens unterhalten hatte, versuchte sich mit dem Immigration Officer zu unterhalten, wie sie mit jedem zu sprechen versucht, auf der Zugfahrt von Newark nach  Jersey City fragte sie ständig, ob wir jetzt in Merika seien und freute sich, wenn wir es bejahten. Es war so, wie ich es mir vorgestellt hatte: Zwei Wochen lang tat ich nicht viel anderes, als mit ihr auf Spielplätze zu gehen, die Hälfte der Zeit ohne Okka, die ihre New York-Liste abarbeitete. Ich hatte keine New York-Liste, auch das Vergnügen, mich stundenlang in Buchläden herumzutreiben, war mir abhanden gekommen, das eine Mal, als wir doch zu Barnes & Noble am Union Square gingen, hatte ich nach ein paar Minuten keine Lust mehr, nach Büchern für mich zu suchen und setzte mich lieber zu den beiden in der Kinderbuchabteilung auf den Boden. Wie geht es dir, simste Hanna, ich bin sehr glücklich, simste ich zurück, das hast du mir zuletzt bei Fannys Geburt geschrieben, for the record, simste Hanna, das liegt aber auch daran, dass wir nicht so oft simsen, dachte ich, aber sie hatte recht, in diesem Sommer bin ich glücklich gewesen wie lange nicht mehr. Anderthalb Jahre lang bin ich viel zu oft genervt gewesen, doch jetzt saßen wir bei Nalu, aßen Hamburger und redeten darüber, ob wir die Bücher schreiben sollten, die man von uns wollte, und über die Jobs, die man uns angeboten hatte. Ich schrieb endlich wieder mehr, statt darüber nachzudenken, warum die Geschichten, die ich hatte schreiben wollen, keine Geschichten waren, und mich zu ärgern, wenn sie drei, vier Wochen später in anderen Blättern auftauchten, schlechter, als wenn ich sie geschrieben hätte. Es war wieder so geworden, wie es sein sollte, man telefonierte fünf, zehn Minuten, pingpongte ein wenig, dann legte man los, ohne zu wissen, was sich dabei genau  ergeben würde, meistens ergab sich ja etwas. Die Sonne schien. Wir saßen bei Nalu. Wenn die Kellnerin da war, die ich so mochte, lief Creedence Clearwater Revival oder John Coltrane. Ich schrieb wieder. Fanny tanzte.

Wie immer, wenn ich in anderen Städten bin, hatte ich auch in Jersey City nach zwei, drei Tagen einen Lieblingsplatz gefunden: die Bänke an der Anlegestelle der Hudson River Ferries. Wir saßen da und schauten hinüber nach Manhattan, nur eine Flußbreite von uns getrennt, aber sehr viel entfernter erscheinend. Vielleicht hatte es mit dem milchigen Licht zu tun, in dem die Stadt lag, vielleicht mit ihrer Stille, man hörte kaum etwas von ihr. Die Möwen schrien. Die Fähren hupten. Die Freiheitsstatue hielt ihre Fackel in den Dunst, Fanny nannte sie Freiheitsfrau. Die Spitze des Empire State leuchtete in der Sonne. Auf dem Hudson fuhren Lastkähne und Segelboote. Das World Trade Center stand wieder. Alles war gut. Wenn Fanny sich an den Hochhäusern und den Schiffen und der Freiheitsfrau sattgesehen hatte, setzten wir über. Ein paar Schritte von der Fährstation im Battery Park lag der Spielplatz, den wir am dritten Tag gefunden hatten und in dem sie sofort jubelnd losgerannt war, kein Abwarten, keine Schüchternheit mehr, irgendwann während der Monate, in denen wir mit ihr bei den Ärzten und im Krankenhaus gewesen waren, war sie  groß geworden, kein Baby mehr, sie bestand darauf, wenn wir sie aus Gewohnheit, Nachlässigkeit, Liebesverklebtheit behandelten, als wäre sie noch zweieinhalb statt schon fast drei. Abends, im Haus, kam ich mir manchmal wie das Kind eines alten Ehepaares vor. Die beiden saßen im Chillzimmer, wie Fanny es nannte, auf dem Sofa, aßen Erdnussbuttereis, Okka sah sich Newsroom an, Fanny auf dem Ipad ihre YouTube-Kindervideos, ich lag auf dem Boden. Wenn man mir die Unbändigkeit nicht schon in der Kindheit ausgetrieben hätte, hätte ich in solchen Augenblicken vor Glück lostanzen oder loshüpfen oder losbrüllen müssen, scream the shit out of me.  

Manchmal saß ich bloß da und sah Fanny bei ihren Aufgeregtheiten zu, über die Hochhäuser, die Schiffe, die Freiheitsfrau, die Eichhörnchen im Central Park, die Fontänen im Hamilton Park. Zu den Kollateralschäden, mit denen man nicht rechnet, wenn man ein Kind bekommt, gehört auch die Wehmut. Der Freiheit, dem Unbändigsein, dem Glück, der Euphorie eines Kindes kann man nicht lange zusehen, ohne dass einem immer wieder einfällt: Das wird nicht so bleiben.

Ein dreiviertel Jahr später, in einem Sommer, der schon im Mai begonnen hatte und der großartig zu werden versprach, las und übersetzte ich Truman Capotes Geschichte „A Beautiful Child“, die er 1979 für „Interview“ geschrieben hatte. Sie handelt von einem Tag, den Capote mit Marilyn Monroe verbringt und der an einem Fähranleger am South Street Pier am East River endet. Beim Abschiednehmen wiederholt Marilyn eine Frage, die sie schon früher am Tag gestellt hat: was er über sie sagen würde, wenn ihn jemand fragen würde, wie sie ist, wirklich ist,

I wanted to lift my voice louder than the seagulls’ cries and call her back: Marilyn! Marilyn, why did everything have to turn out the way it did? Why does life have to be so fucking rotten?) TC: I’d say … MARILYN: I can’t hear you. TC: I’d say you are a beautiful child.

Selbstverständlich haben in dem dreiviertel Jahr seit diesem Foto

alle mit ihren jeweiligen Angelegenheiten weitergemacht, [Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock'n'Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter], Griechenland, hieß es, mache Fortschritte, Portugal, hieß es, war über den Berg, Ägypten hatte eine stabile Regierung, Russland hatte Interessen, der Iran war wieder im Spiel, der Maidan sollte endlich wieder geräumt werden. Ich kenne immer noch genügend Menschen, die mir das alles erklären könnten, aber ich kann ich es auch bleiben lassen, mir etwas erklären zu lassen, denke ich. Rationalität hat etwas so Irrationales gerade, sie lässt einem die Dinge erscheinen, als geschähen sie aus vernünftigen Gründen und als müsste man nur an ein paar Schrauben drehen, damit die Welt wahrhaftig rational werden, endlich nicht mehr unter ihren Möglichkeiten bleiben würde. Doch das stimmt nicht.

80.

der Film, der mich interessiert, fängt irgendwo an und hört irgendwo auf, wirkt, als hätte er auch früher oder später anfangen oder aufhören können, eigentlich beginnt er nur zufällig und hört nur zufällig auf. Der Film, der mich interessiert, kennt seine eigene Geschichte nicht so genau, manchmal verliert er sie und findet eine andere, doch er erzählt eine Geschichte und erzählt sie, als wäre sie keine

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