vague.

Samstag, 3. September 2022

Ich erinnere mich (12/15)

Ich erinnere mich, dass mir Okka zum Geburtstag die Erstausgabe von Hubert Fichtes Palette schenkte.

Ich erinnere mich, wie leuchtend schön sie während ihrer Schwangerschaften war.

Ich erinnere mich an die überbordende Freude der Kinder jedes Mal, wenn ihre Körper mit Wasser in Berührung kamen.



Wasser.

Ich erinnere mich, dass Hedi lange "tropsdem" und und "napp" sagte. Und ich nicht wollte, dass das aufhörte, weil ich es richtiger fand als "trotzdem" und "knapp".

Ich erinnere mich an Bob Dylan in Pat Garrett and Billy the Kid.

Ich erinnere mich an die Rollschuhe in Heaven’s Gate.

Ich erinnere mich an Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?

Ich erinnere mich an Das Verhängnis der Liebe.

Ich erinnere mich an Vier Nächte eines Träumers.

Ich erinnere mich an L'eau froide.

Ich erinnere mich an Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000.

Ich erinnere mich, dass ich manchmal fast alleine im Kino saß, ein wenig fröstelnd, weil es im leeren Saal zu kalt war, und nur schaute und schaute und dabei glücklich war.

Ich erinnere mich, dass ich im ersten Jahr von Fanny oft bis lange nach Mitternacht auf meinem Laptop Filme anschaute, die ich von Piratenwebsites heruntergezogen hatte, den Rechner auf meinem Bauch wie eine Wärmflasche, und nur schaute und schaute und dem Kinderatem Fannys zuhörte und dabei glücklich war.

Ich erinnere mich an meine Verwunderung, dass aus Kindern Erwachsene wurden.

Ich erinnere mich an meine Wehmut, dass aus Kindern Erwachsene wurden.

Ich erinnere mich an die Egon Schiele-Ausstellung in Zürich, in der ich nur war, weil ich mir die Zeit bis zu meinem Rückflug vertreiben musste: eine sehr alte Frau, die einer sehr jungen Frau erzählte, dass sie "die Zeit" erlebt habe und es damals "genau so war".

Ich erinnere mich an Tracey Emin.

Ich erinnere mich an Annie Ernaux.

Ich erinnere mich an Maria Erlenberger.

Ich erinnere mich an Mary McCarthy.

Ich erinnere mich an Rachel Cusk.

Ich erinnere mich an Tiny Little Things.

Ich erinnere mich an Hanna Engelmeier.

Ich erinnere mich, dass sich Hanna Engelmeier an mich als an jemanden erinnerte, "dessen Tastatur immer von Zigarettenasche bestäubt" war.

Ich erinnere mich an dieses Buch von Emma Kay, in dem sie die Weltgeschichte nacherzählt - nach den Erinnerungen, die sie in ihrem Gedächtnis noch hat.

Ich erinnere mich an "Vote or die".



Vote or Die.

Ich erinnere mich an "Why Biden Must Win".



Why Biden Must Win.

Ich erinnere mich, dass mein Vater beim Begräbnis meiner Mutter Episoden aus meiner Kindheit erzählte, an die ich mich ganz und gar nicht erinnern konnte.

Ich erinnere mich, dass ich mich an kaum jemanden von den Menschen beim Begräbnis erinnern konnte.

Ich erinnere mich, dass ich am Abend nach dem Begräbnis meiner Mutter in einem Liegestuhl an der Donau saß und dachte, dass Linz eigentlich ziemlich schön ist.

Ich erinnere mich, dass Hedi immer wollte, dass ich Gesichter in ihre Pfannkuchen schnitt, Gesichter! Gesichter!

Ich erinnere mich an "Alexa, spiele bitte Ö1 Livestream".

Ich erinnere mich, dass der Ö1-Livestream sich mit "Bis zum nächsten Mal" oder "Auf Wiederhören" verabschiedet.

Ich erinnere mich an einen Artikel, in dem erzählt wurde, ein deutsches Gericht habe einem Mädchen namens Alexa erlaubt, seinen Namen zu ändern, weil es von Menschen belästigt worden war, die ihm Kommandos erteilen wollte.

Ich erinnere mich an "Alexa, spiele Ich bin ein Gummibär".

Ich erinnere mich an den Sohn des Cotopaxi.

Ich erinnere mich, dass mein Vater viele meiner Kinderbücher in einer kommunistischen Buchhandlung kaufte.

Ich erinnere mich, dass die kommunistische Buchhandlung sich in einer Straße namens Biegung befand.

Ich erinnere mich, dass es in Hamburg eine Straße gab, die Durchschnitt hieß. Und dass wir in der Rutschbahn wohnten.

Ich erinnere mich an Madeleines.

Ich erinnere mich an Zahnstocher. Und dass sie irgendwann von den Wirtshaustischen verschwanden. Wahrscheinlich, weil sich alle Leute die Zähne korrigieren hatten lassen.

Ich erinnere mich, dass die Kombination von Salz, Pfeffer, Maggi und Zahnstochern Menage genannt wurde.

Ich erinnere mich an Sex-Vokabel kultivierter Menschen: ménage á trois, a tergo, Intimverkehr.

Ich erinnere mich an die Abkürzungen auf Porno-Websites: CFNM, MILF, MMF, BDSM.

Ich erinnere mich an die Abkürzungen LGBTQIA+, POC und BIPOC.

Ich erinnere mich an "sexistische Kackscheiße".

Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, warum es "sexistische Scheiße" oder "sexistische Kacke" nicht auch taten.

Ich erinnere mich, dass viele Geräte irgendwann zu piepsen begannen.

Ich erinnere mich an den Duft von frisch aus dem Toaster gesprungenen Toast.

Ich erinnere mich an Diner, die aussahen wie in amerikanischen Filmen.

Ich erinnere mich an Pizzerien, die aussahen wie Grotten. Auf den Tischen Kerzen, die in mit Bast umwickelten Rotweinflaschen steckten.

Ich erinnere mich an Buddhas und Räucherstäbchen in chinesischen Restaurants.

Ich erinnere mich an die Ouzos, die in griechischen Restaurants "aufs Haus" gingen.

Ich erinnere mich an "Studentenkneipen".

Ich erinnere mich an die Grappa-Servierwägen in italienischen Restaurants.

Ich erinnere mich an die Käse-Servierwägen in französischen Restaurants.

Ich erinnere mich an Kellner mit riesigen Pfeffermühlen, die sich erkundigten, ob man Pfeffer wolle.

Ich erinnere mich an das Restaurant auf Sylt, in dem man zusammen mit der Speisekarte auch eine Lesebrille bekam.

Ich erinnere mich an zweierlei Speisekarten: für Männer mit Preisen und für Frauen ohne.

Ich erinnere mich, dass ich bei Einladungen immer darauf achtgab, mir "nichts von den teuren Gerichten" auf der Speisekarte auszusuchen.

Ich erinnere mich an forsche Namen von Drinks in "Szenebars": Bomberoder Sperma light.

Ich erinnere mich, dass Sperma light aus Kaffeelikör und Sahne bestand.

Ich erinnere mich an „you gotta fight for your right to party“.

Ich erinnere mich an "Wenn ich groß bin, verklage ich Cops".



Berufsberatung.

Ich erinnere mich an Habsburgergelb.

Ich erinnere mich, dass mich auf Fire Island eine Welle gegen den Meeresboden schleuderte.

Ich erinnere mich an das verwirrende Gefühl, dass sich ein bestimmter Wirbel an meinen Aufprall auf dem Meeresboden erinnern konnte.

Ich erinnere mich an Wasserspender (cool!).

Ich erinnere mich an sprechende Aufzugskabinen (cool!).

Ich erinnere mich an japanische Toiletten (cool!).

Ich erinnere mich an Luft pustende Händetrockner (cool!).

Ich erinnere mich, dass plötzlich auf vielen Fassaden CLIT stand.

Ich erinnere mich, dass plötzlich auf vielen Fassaden Gina Lollobrigida stand.

Ich erinnere mich an virtuelle Kuscheltier-Morgenkreise während des Lockdowns.



Kuscheltiermorgenkreis.

Ich erinnere mich an die Schalen mit dem Futter für das Rentier des Weihnachtsmanns auf dem Balkon. Das ich dann heimlich so präparierte, als wäre es dagewesen.



Rentierproviant.

Ich erinnere mich an "und ich hab ihm zuerst die Arme um den Hals gelegt und ihn zu mir niedergezogen dass er meine Brüste fühlen konnte wie sie dufteten ja und das Herz ging ihm wie verrückt und ich hab ja gesagt ja ich will Ja".

Ich erinnere mich an "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen".

Ich erinnere mich an die Krepppapierkrägen beim Friseur.

Ich erinnere mich an den Wunsch, mich beim Friseur rasieren zu lassen, mit einem "richtigen Rasiermesser". Und dass meine Angst, auf einem Friseurstuhl verbluten zu müssen, größer war.

Ich erinnere mich an sich magisch hebenden und senkenden Stühle beim Friseur.

Ich erinnere mich an schulterlange Haare. In dem Jahr, in dem Punk mit schulterlangen Haaren Schluss machte.

Ich erinnere mich an die Schattensilhouetten, die meine Hände an die Wand werfen konnten - einen Vogel und einen Wolf.

Ich erinnere mich, dass man auf der Straße jemanden nach der Zeit fragte.

Ich erinnere mich an schweinchenrosa Kaugummiblasen.

Ich erinnere mich, dass es als schlimm galt, wenn Frauen "in der Öffentlichkeit" Kaugummi kauten. Und als noch schlimmer, wenn sie dabei den Mund nicht zumachten.

Ich erinnere mich an meine Verwunderung darüber, dass Leckmuscheln Leckmuscheln und Flutschfinger Flutschfinger hießen. Im Ernst?

Ich erinnere mich, wie glamourös ich Schließfächer auf Bahnhöfen fand, in denen man sein Gepäck aufbewahren konnte, während man noch einmal "in die Stadt ging".

Ich erinnere mich an meine Enttäuschung, als sich herausstellte, dass die Altersweitsichtigkeit meine Kurzsichtigkeit nicht verringerte.

Ich erinnere mich, dass ich mir Augenfarben nie merken konnte. Selbst bei Menschen, die ich jeden Tag und denen ich jeden Tag in die Augen sah.

Ich erinnere mich an mein Unvermögen, Prominente zu erkennen, wenn sie auf der Straße an uns vorübergingen oder im Restaurant am Nebentisch saßen.

Ich erinnere mich, dass ich bei Interviews manchmal erschrak, wenn ein Prominenter aussah wie auf den Fotos.

Ich erinnere mich, dass ich mich lange darüber wunderte, dass Filmschauspieler "in Wirklichkeit so klein" waren. Bis ich mich daran gewöhnt hatte. Dann wunderte ich mich darüber, wenn jemand groß war.

Ich erinnere mich an mein Unvermögen, Anbaggerversuche zu erkennen.

Ich erinnere mich, dass am Paradise Beach auf Mykonos ein Schwuler bei mir zu landen versuchte und ich "wie nett ist der denn!" dachte. Und Claudia mich hinterher auslachte.

Ich erinnere mich, dass ich mir manchmal wünschte, gay zu sein, weil es mir irgendwie glamourös vorkam.

Ich erinnere mich an die Assistenten im Haus von David Hockney. Wie gut sie aussahen!

Ich erinnere mich an die Whirlpool-Einbauer im Haus von Armistead Maupin. Wie gut sie aussahen!

Ich erinnere mich, dass ich nicht verstand, was für Frauen an Männerhintern besonders sein sollte.

Ich erinnere mich dass mich Aussagen von der Art "George Clooney ist schwul, das sieht man doch" total irritierten, weil ich es nie sah.

Ich erinnere mich, dass mir Sex mittendrin manchmal total albern und überbewertet vorkam. Und dann nicht wusste, was ich tun sollte.

Sie sind nicht angemeldet