vague.

Samstag, 3. September 2022

Ich erinnere mich (10/15)

Ich erinnere mich an "Anspieltipp".

Ich erinnere mich an "in Wien war ich noch nie".

Ich erinnere mich an "das hört sich so charmant an". 

Ich erinnere mich an "dann vermissen Sie doch sicher die Berge".

Ich erinnere mich an Frühstücke in Studentencafés (Milchkaffee, Croissant, Gitanes, Aspirin).

Ich erinnere mich an Generation Golf.

Ich erinnere mich an Tristesse Royale

Ich erinnere mich an Generation X.

Ich erinnere mich an "Generation Praktikum".

Ich erinnere mich an "Ferialpraktikant".

Ich erinnere mich an Ebooks.

Ich erinnere mich an das "haptische Erlebnis" bei "richtigen" Büchern. 

Ich erinnere mich an Too Young.

Ich erinnere mich, dass ich mir manchmal überlegte, wie lange ich noch Zeit für mein Meisterwerk hätte. 

Ich erinnere mich an die Schwerhörigkeit meines Vaters und dass er sich zwischendurch auf die Ohren schlug, um den Sitz seiner Hörgeräte zu verbessern.

Ich erinnere mich an Schulbuchgutscheine.

Ich erinnere mich an einen Arikel über Serge Gainsbourg, in dem es hieß, er habe nach einem Herzinfarkt die Decke der Sanitäter, die ihn ins Krankenhaus bringen wollten, abgelehnt und stattdessen auf seine Kaschmir-Decke gezeigt.



Wimmelbild mit Serge Gainsbourg.

Ich erinnere mich, dass im selben Artikel stand, er habe sich sein Portemonnaie mit Gitanes vollgestopft, weil er wusste, dass er im Krankenhaus keine bekommen würde.

Ich erinnere mich an das Kommunistische Manifest, vorgelesen von Christian Brückner.

Ich erinnere mich an David Staretz.

Ich erinnere mich an Jan Morris und dass ich ihr Buch über Triest in Sidney las.

Ich erinnere mich an die Schallplatte mit Geräuschen, die Embryos im Mutterleib hören – es klang wie die Einstürzenden Neubauten.

Ich erinnere mich an Ich will mal irgendwo hin.

Ich erinnere mich an À nos amours.

Ich erinnere mich an transbeauty.

Ich erinnere mich an Murmel. 

Ich erinnere mich an die Deutsch Amerikanische Freundschaft.

Ich erinnere mich, dass Xao Seffcheque beim DAF-Konzert auf die Bühne kam und sagte, dass die Wiener Punks alle Arschlöcher seien.

Ich erinnere mich, dass Xao Seffcheque daraufhin mit Stühlen beworfen wurde (es war ein bestuhltes Punk-Konzert…).

Ich erinnere mich an die Geschichte, Udo Lindenberg habe in seiner Adressen-Datenbank jede Frau, mit der er geschlafen hatte, mit "wr" markiert – der Abkürzung für "white rain". 

Ich erinnere mich an die Geschichte, es gäbe ein Bordell, in das "alle" Spiegel-Redakteure gingen, und dass es dort manchmal zu unliebsamen Begegnungen kam.

Ich erinnere mich an Zeitschriftenartikel über die Angst, in der Sauna den Chef zu treffen. Und dann nicht recht zu wissen, was man mit ihm reden sollte.

Ich erinnere mich an Zeitungsartikel über Beschwerden von Liquidrom-Besuchern, sie hätten im warmen Wasser Menschen beim Sex gesehen.

Ich erinnere mich an die Anorektikerin im Liquidrom, bei der ich mich erschrocken fragte, wie sie es geschafft hatte, überhaupt noch aus dem Bett zu kommen.

Ich erinnere mich an Schnitzelberge.

Ich erinnere mich, dass mir Atomkraftwerke immer ziemlich egal gewesen sind. Selbst nach Fukushima.

Ich erinnere mich, wie unangenehm mir das Design von Atomkraft-Nein-Danke-Stickern gewesen ist.

Ich erinnere mich, wie unangenehm mir Smileys gewesen sind.

Ich erinnere mich, dass man nach Tschernobyl eine Zeitlang keine Pilze essen sollte.

Ich erinnere mich, dass wir auf dem Urfahraner Jahrmarkt einen Mitschüler trafen, der meiner Mutter erzählte, er habe seine Mutter verloren. Woraufhin sie dachte, sie sei gestorben. Dabei hatte er sie wirklich nur aus den Augen verloren.

Ich erinnere mich, dass ich mit 13, also noch nicht strafmündig, beim Versuch erwischt wurde, im Passage-Kaufhaus eine Schallplatte zu stehlen, um die ich davor eine halbe Stunde herumgeschlichen war.

Ich erinnere, dass die Platte, die ich stehlen wollte, Stuck in the Middle With You von Stealers Wheel war.

Ich erinnere mich, dass ich das Ejakulations-Geräusch auf Relax! von Frankie Goes to Hollywood mit dem Mehrspur-Tonbandgerät meines Bruders so oft aneinander montierte, bis es sich anhörte, als hätte jemand eine anderthalb Minuten lange Ejakulation.

Ich erinnere mich an schwedische Wörter.



Schwedische Wörter.

Ich erinnere mich an "erotische Romane".

Ich erinnere mich, dass in erotischen Romanen manchmal der Autor damit angab, wie oft er in einer Nacht gekommen sei.  

Ich erinnere mich an "multiple Orgasmen".

Ich erinnere mich an "vaginale" und "klitorale" Orgasmen.

Ich erinnere mich an vorgetäuschte Orgasmen.

Ich erinnere mich an "Orgasmuslücken". 

Ich erinnere mich, dass es ständig und überall Artikel über Orgasmen gab.

Ich erinnere mich an Virgil Abloh.

Ich erinnere mich an Alexander McQueen.

Ich erinnere mich an die Zeitschrift Filmkritik.

Ich erinnere mich an die Website Neue Filmkritik.

Ich erinnere mich an unseren letzten Sommer zu dritt.



Im letzten Sommer zu dritt.

Ich erinnere mich an unseren ersten Sommer zu viert.



Im ersten Sommer zu viert.

Ich erinnere mich an Haustauschferien.

Ich erinnere mich an Billigflüge.

Ich erinnere mich an Air Berlin.

Ich erinnere mich Mozartkugeln und Walzer beim Verlassen des Flugzeugs.

Ich erinnere mich an das Eis nach dem Kita-Abholen. Immer Schoko und Mango Lassi.

Ich erinnere mich, wie ich ihr das Fahrradfahren beigebracht habe. 

Ich erinnere mich, wie sie beim Fahrradfahren immer "Ich sehe was, was du nicht siehst" spielen wollte. 

Ich erinnere mich, wie ich ihr das Schwimmen beigebracht habe. 

Ich erinnere mich, wie glücklich es mich oft gemacht hat, dass die meisten Tage gleich verliefen.

Ich erinnere mich, wie unglücklich es mich oft gemacht hat, dass die meisten Tage gleich verliefen.

Ich erinnere mich an uns.

Ich erinnere mich an meine Unfähigkeit, zu Sylvester euphorisch aus mir herauszugehen.

Ich erinnere mich an Artikel über Windeln wechselnde Männer.

Ich erinnere mich, dass ich mich im Sommer manchmal fast übergeben musste, wenn ich Kackwindeln wechselte.

Ich erinnere mich an Tragetücher. Und dass ich sie nicht leiden konnte, weil es war, als müsse man mit einer Wärmeflasche vor dem Bauch herumlaufen. 

Ich erinnere mich an personalisierte Turnschuhe.

Ich erinnere mich an meinen Zivildienst in der Volkshochschule.

Ich erinnere mich, dass ich bei meinem Zivildienst in der Volkshochschule auch für den Kino-Einlass zuständig war und Mixtapes mit Songs aufnahm, die man hörte, während sich der Kinosaal füllte. Und dass sich auf einem dieser Mixtapes ein Stück von Art of Noise mit der Zeile Suicide is painless befand. Und dass ich das irgendwie lustig fand.  

Ich erinnere mich an meinen All I Want is the Means of Production-Weihnachtssweater mit einem Porträt von Karl Marx, auf dem er wie der Weihnachtsmann aussah. Und dass ich das irgendwie lustig fand.

Ich erinnere mich, dass es bei meiner Großmutter noch keinen elektrischen Kühlschrank gab, sondern einen Eiskasten, der mit einem riesigen Eisblock gefüllt wurde, der jede Woche von einem Eisblockfahrer geliefert wurde.

Ich erinnere mich an Onkel Joe.

Ich erinnere mich an Onkel Toni.

Ich erinnere mich an die Frau aus dem Erdgeschoss, die sich innerhalb eines Jahres zu Tode trank, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte.

Ich erinnere mich an die gegrillten und karamellisierten Grapefruits, die es in The Egg gab.



The Egg.

Ich erinnere mich, dass bei uns alle paar Monate neue Wochenend-Essrituale ausbrachen: Gegrillte und karamellisierte Grapefruits. Bratkartoffel. Die Freitagsrippchen. Oder das Sonntagshuhn noch in Hamburg, das man bei einem Stand am Grindel vorbestellen musste.

Ich erinnere mich, dass eines Sonntags jemand Fremder sich das Sonntagshuhn einpacken ließ, das ich vorbestellt hatte. Weil der Standbesitzer so schlau war, den Fremden zu fragen, ob er denn Praschl hieße. Statt ihn einfach nach seinem Namen zu fragen.

Ich erinnere mich, dass mich das noch jahrelang empört hat.

Ich erinnere mich an Witze über betrunkene Tätowierer.

Ich erinnere mich an eine Geschichte, in der ein Tätowierer jemanden einen Kühlschrank auf den Rücken tätowiert hatte. Und an meine  sich augenblicklich einstellende Sehnsucht nach einem Kühlschrank-Tattoo auf dem Rücken.

Ich erinnere mich, lange mit einem Cy Twombly-Tattoo spekuliert zu haben, aber niemanden fand, dem ich zutraute, mir eines zu stechen.

Ich erinnere mich an Seerosen.

Ich erinnere mich an die Stimme von Axel Corti.

Ich erinnere mich an die Stimme von Chet Baker.

Ich erinnere mich an die Stimme von Andy Warhol.

Ich erinnere mich an die Stimme von Ernst Jandl.

Ich erinnere mich an die Stimme von Gisela Müller.

Ich erinnere mich an die Stimme von Sepp Bierbichler.

Ich erinnere mich an die Stimme von Shane MacGowan.

Ich erinnere mich an die Stimme von Barry White. 

Ich erinnere mich an "meine Barry White-Stimme" und dass O. jedes Mal rot wurde.

Ich erinnere mich an "An einem Nebentisch saßen drei Herren, aßen Ragout aus Muscheln, erzählten, scherzten mit der Wirtin, ein heiterer Kreis. "Lieber gut, aber dafür ein Jahr länger," äußerten sie, handhabten das Eßgerät, Gabeln, zwischen Brötchenabbiß, dazu Pokal, dann wieder bogen sie die Schenkel aufwärts und traten aus. An der Schulter gelöste Gliedmaßen, unten Gamaschen. Ein Hund Krause, der gewaschen werden müsse, zum bevorstehenden Fest sei die Säuberung angezeigt, kehrte immer wieder. Aschenzuwachs am Glimmstengel, Saugen, Bemerkungen hin und her — ihnen der Abend, verteilte sich das Ungewisse, gliederte sich die Zeit."

Ich erinnere mich an More Songs about Buildings and Food von den Talking Heads, während K. und ich zehn Jahre, nachdem ich von ihr meinen ersten Zungenkuss und danach nie einen weiteren bekommen hatte, miteinander im Bett lagen, an einem Abend, an dem wir zufällig aus derselben Vorstellung im Stadtkino gekommen und zu ihr nach Hause gefahren waren, wo sie gleich More Songs about Buildings and Food von den Talking Heads aufgelegt hatte, auf deren letztem Lied David Byrne über amerikanische Landschaften singt, die er von einem Flugzeug aus sieht, wie schön die Häuser, das Baseballfeld, die Restaurants, die Parkplätze und so weiter sind, bis er sagt, dass er da nicht wohnen möchte, selbst wann man ihn dafür bezahlen würde, I'm tired of looking / Out the window of the airplane / I'm tired of traveling / I want to be somewhere / It's not even worth talking / About those people down there / Goo, goo, ga, ga, ga / Goo, goo, ga, ga, ga / Goo, goo, ga, ga, ga

Sie sind nicht angemeldet