vague.

Samstag, 3. September 2022

Ich erinnere mich (9/15)

Ich erinnere mich, dass Boxkämpfe von Mike Tyson oft schon in der ersten Runde zu Ende waren, ich aber dennoch für sie aufstand.

Ich erinnere mich, dass es für mich einen Unterschied machte, ob ich wusste, dass jemand bei der Tour des France gedopt hatte, oder es nur ahnte.

Ich erinnere mich an die Tour de France-Übertragungen in meiner Kindheit, noch schwarzweiß, mit Louis Ocaña.

Ich erinnere mich an "oh boy", "fancy" und "cringe".

Ich erinnere mich an das Jugendwort des Jahres.

Ich erinnere mich an Artikel, in denen den älteren Lesern das Jugendwort des Jahres erklärt wurde.

Ich erinnere mich an "Ok Boomer".

Ich erinnere mich, dass Boomer Beiträge anderer Boomer mit "Ok Boomer" kommentierten.

Ich erinnere mich im Standard-Forum häufigen Kommentar "Sie müssen auf Parties sehr beliebt sein".

Ich erinnere mich an Spanischunterricht.

Ich erinnere mich nur noch an ein paar wenige spanische Redewendungen:"Esto es un robbo", "arriba! arriba!", "no pasaran" und "el pueblo unido jamas sera vincido".

Ich erinnere mich, dass ich den Arabischunterricht nach der dritten Stunde abbrach, weil mir nicht klar war, wie ich herausfinden konnte, ob ich beim Alleinlernen die Wörter richtig aussprach.

Ich erinnere mich an Thomas i punkt.

Ich erinnere mich an Visitenkarten.

Ich erinnere mich, dass ich mir Karten drucken lassen wollte, auf denen nur mein Name, aber nicht meine Adresse stand. Und es dann doch nicht brachte.

Ich erinnere mich, dass der Drucker für meine Visitenkarten Lettern verwendete, die für ein Telefonbuch entwickelt worden waren.

Ich erinnere mich, dass ich nackte Frauen zeichnen konnte. Und deswegen nackte Frauen zeichnen musste. 

Ich erinnere mich, dass ich nicht zeichnen konnte.

Ich erinnere mich an: "Du kannst doch super zeichnen, viel besser als ich". 

Ich erinnere mich, dass ich Leute beneidete, die besser als ich zeichnen konnten.

Ich erinnere mich an: Punkti, Punkti, Strichi, Strichi, fertig ist das Mondgesichti.

Ich erinnere mich an Herodot.



Herodot.

Ich erinnere mich, meine Eltern nie weinen gesehen zu haben.

Ich erinnere mich an Diskussionen in der Schule, ob man in Blue Jeans in die Oper dürfe.

Ich erinnere mich, dass es Blue Jeans hieß, nicht Jeans.

Ich erinnere mich, dass es in Linz gar keine Oper gab.

Ich erinnere mich, dass niemand von uns in die Oper wollte.

Ich erinnere mich, Ministrant geworden zu sein, weil es hieß, man bekomme 20 Schilling pro Messe. 

Ich erinnere mich, dass es für Ministrant nur Gotteslohn gab. 

Ich erinnere mich, dass man von Hamburg nach Berlin flog. 

Ich erinnere mich, dass ich in Tempelhof ankam. 

Ich erinnere mich an das Impfzentrum im ehemaligen Flughafen Tempelhof.



Impfzentrum.

Ich erinnere mich, dass ich für die Aufenthaltsgenehmigung eine Arbeitserlaubnis brauchte, für die ich eine Aufenthaltsgenehmigung brauchte. 

Ich erinnere mich an die Vaterschaftsanerkennung. 

Ich erinnere mich an Linoleumböden. 

Ich erinnere mich an Durchlauferhitzer. 

Ich erinnere mich an unsere Gasvergiftung wegen des kaputten Durchlauferhitzers in der Kreitnergasse. Und wie wir beide in den Schnee vor dem Haus kotzten. 

Ich erinnere mich, dass mich meine Mutter jedes Mal, wenn jemand gestorben war, am Telefon fragte, ob ich mich an ihn oder sie erinnern könne. Und ich jedes Mal "dunkel" sagte, obwohl ich mich nicht erinnern konnte.

Ich erinnere mich, dass sie am Telefon jedes Mal fragte, wie das Wetter bei mir sei.

Ich erinnere mich, dass sie im Winter am Telefon jedes Mal sagte, ich solle eine Mütze aufsetzen.

Ich erinnere mich an Kniffel.

Ich erinnere mich an Uno.

Ich erinnere mich, dass Olaf Scholz nicht wusste, was Uno ist.

Ich erinnere mich an Mastermind.

Ich erinnere mich an iPods.

Ich erinnere mich, dass es hieß, Karl Lagerfeld habe mehrere iPods. Und einen Assistenten, der sie mit Musik füllte.

Ich erinnere mich an meine Enttäuschung, als der iPad mit der zweiten Generation leichter geworden war.

Ich erinnere mich an Software für Laptops, die das Klicken von Schreibmaschinen simulierte. Und das Klingeln, wenn eine neue Zeile anfing.

Ich erinnere mich an Software, mit der man die Auslöschung der Zivilisation durch einen Nuklearkrieg simulieren konnte.

Ich erinnere mich an Software, die Gesichter durch Erdbeeren ersetzen konnte.



Erdbeergesichter.

Ich erinnere mich an Software, die den Computer beim Hochfahren die Fanfare von 20th Century Fox spielen ließ.

Ich erinnere mich an meine Ungeduld, während der Computer hochfuhr.

Ich erinnere mich an die Panik, der Computer werde Arbeitsplätze vernichten.

Ich erinnere mich, dass Computer unendlich viele Arbeitsplätze vernichteten.

Ich erinnere mich, dass ich einem Mädchen in der Parallelklasse imponieren wollte, indem ich eine Probestunde in ihrem Sportverein absolvierte, aber nach dem Zirkeltraining so fertig war, dass mich das Mädchen nicht mehr interessierte.

Ich erinnere mich an das Konzert mit Fats Domino, in dem wir nur waren, weil wir gratis reinkonnten.

Ich erinnere mich an Erwachsene, die auf den Stühlen standen und begeistert Fatsy! Fatsy! brüllten.

Ich erinnere mich an Fatty George.

Ich erinnere mich an Walter Richard Langer.

Ich erinnere mich an die Radiosendung Vokal Instrumental International.

Ich erinnere mich, dass ich Vokal Instrumental International hörte, wenn ich krank war und nicht in die Schule gehen konnte, und mich deswegen bei Jazz lange automatisch kränklich fühlte.

Ich erinnere mich, dass ich nie geweint habe, dafür aber oft fast.

Ich erinnere mich an die Roten-Augen-Flüge am Montagmorgen.

Ich erinnere mich an die Flüge am Freitagabend. Das Gefühl, sie in zwei Stunden endlich wieder sehen zu können. Die Leberkässemmel am Gate. Die Freitagabendflieger, die nach einer Woche alle wieder runterkamen.

Ich erinnere mich an die Taxifahrten vom Flughafen in die Rutschbahn am Freitagabend. Das Gefühl, sie in zehn Minuten endlich wieder zu sehen. 

Ich erinnere mich an die weißen Redaktionsbüros von Vanity Fair. Als würde man im Inneren eines iPods arbeiten.

Ich erinnere mich, dass viele Frauen bei Vanity Fair High Heels trugen.

Ich erinnere mich, dass die High Heels tragenden Frauen bei Vanity Fair sich wie im Stechschritt marschierende Soldatinnen anhörten. 

Ich erinnere mich an die Email einer Bildredakteurin, in der jeder Schläge angedroht wurden, die am Schlusstag High Heels trug. 

Ich erinnere mich an Rodin.



Im Musée Rodin.

Ich erinnere mich an gewischte Wände.

Ich erinnere mich an Landhausstil.

Ich erinnere mich an Reetdachhäuser.

Ich erinnere mich an Bauernhöfe.

Ich erinnere mich an umgebaute Mühlen.

Ich erinnere mich an die Beteuerung "mit dem Auto nur 20 Minuten in die Stadt".

Ich erinnere mich, dass ich immer entweder in einem Bungalow oder in einem Hochhaus leben wollte. Und es nie geschafft habe.

Ich erinnere mich an die Kärglichkeit protestantischer Kirchen.

Ich erinnere mich, wie gut katholische Kirchen rochen. Nach Weihrauch. Nach Kerzen. 

Ich erinnere mich, wie gut die Nacken von kleinen Kindern rochen.

Ich erinnere mich daran, wie gut Frauen rochen.

Ich erinnere mich an den Schuss Parfum, den manche auf dem Klo versprühten.

Ich erinnere mich, dass manche die Spülung zogen, damit man sie nicht beim Pinkeln hören konnte.

Ich erinnere mich an eine Sex and the City-Folge, in der eine der vier nach Hause rannte, weil sie aufs Klo musste und keinen schlechten Eindruck machen wollte. 

Ich erinnere mich an Hotels.

Ich erinnere mich an den Schuhputzautomaten knapp vor dem Aufzug.

Ich erinnere mich an den Einsteckschlitz für die Keycard, mit der auch das Licht anging.

Ich erinnere mich an die Wärmebehälter für das Rührei, die kross gebratenen Frühstücksspeckscheiben und die Miniwürstchen.

Ich erinnere mich an das Käsebrett mit dem angeschnittenen Brie.

Ich erinnere mich an Fernseher, auf dessen Schirm ein grünes oder weißes Sektglas Sektperlen in die Luft perlte.

Ich erinnere mich an das Hotel Amour.



Hotel Amour.

Ich erinnere mich an das Hotel Kummer.



Hotel Kummer.

Ich erinnere mich an den Fluchtwegplan.

Ich erinnere mich an das kleine und das große Handtuch. 

Ich erinnere mich an den Hinweis, dass weltweit täglich Milliarden von Tonnen Handtücher gewaschen werden. 

Ich erinnere mich an den programmierbaren Safe.

Ich erinnere mich an die Minibar-Erdnüsse. 

Ich erinnere mich an die Piccoloflasche Sekt.

Ich erinnere mich an den ausziehbaren Vergrößerungsschminksspiegel.

Ich erinnere mich an den Knick im Kopfkissen.

Ich erinnere mich an das Milchschokolade-Täfelchen auf dem Kopfkissen.

Sie sind nicht angemeldet