vague.

Samstag, 3. September 2022

Ich erinnere mich (13/15)

Ich erinnere mich, dass ich für Fummeleien im Auto zu groß war.

Ich erinnere mich, dass ich mich manchmal fragte, wie es wohl für Frauen war, dass ich so groß war.

Ich erinnere mich, dass ich manchmal einige Zeit brauchte, bis ich mich auf einen neuen Körper eingestellt hatte.

Ich erinnere mich, dass ich oft nicht die Antworten gab, die mir einfielen.

Ich erinnere mich, dass ich in einer Dachwohnung, in der ich ein halbes Jahr wohnte, im Sommer nachts nackt vor dem offenen Kühlschrank saß, weil es viel zu heiß war, um einschlafen zu können.

Ich erinnere mich, dass in einer Wohnung der Mietvertrag untersagte, die Tapeten zu verändern. Sie waren so hässlich, dass ich sie aus den zwei Fotos, die ich dort aufgenommen habe, herausgeschnitten habe.

Ich erinnere mich, dass ich erst beim Auszug aus dem Studentenwohnheim, in dem ich für ein paar Monate wohnte, erzählte, mein Zimmermitbewohner sei nie aufgetaucht. Und dafür einen Anschiss bekam, der mir nichts mehr ausmachte.

Ich erinnere mich, dass man "Beziehungen" brauchte, um einen Platz im Studentenwohnheim zu bekommen.

Ich erinnere mich an "Parteibuchwirtschaft".

Ich erinnere mich an "die rote und die schwarze Reichshälfte".

Ich erinnere mich, dass uns die erste Wohnung, in der ich in Hamburg lebte, mit der Begründung gekündigt werden sollte, wir hätten "Wollmäuse". Und ich nicht wusste, was Wollmäuse sind.

Ich erinnere mich an die Schriftstellerin über uns, bei der es aussah wie auf Biedermeier-Gemälden, obwohl sie viel jünger als ich war.

Ich erinnere mich an den Geologen unter uns, dessen Ehe in die Brüche ging, nachdem sich bei einem Abendessen ein Gast an dessen Anwesenheit im Berghain-Darkroom erinnert hatte.

Ich erinnere mich an den Engländer im Haus, der seiner Frau monatelang vorgemacht hätte, er arbeite als Englischlehrer, bis seine Geschichte platzte und die Frau nach England zurückzog.

Ich erinnere mich an Sommerfüße.






Sommerfüße.


Ich erinnere mich an Louis de Funes. Und dass ich ihn kein bisschen lustig fand.

Ich erinnere mich an Jacques Tati. Und dass ich ihn kein bisschen lustig fand.

Ich erinnere mich an Jerry Lewis. Und dass ich nicht verstehen konnte, warum ihn in der Filmkritik Schreiber, auf deren Urteile ich etwas gab, für lustig hielten.

Ich erinnere mich an Steve Martin. Und dass ich ihn doch ein bisschen lustig fand.

Ich erinnere mich, dass es über Buster Keaton hieß, sein Gesicht zeige nie Regungen.

Ich erinnere mich, dass es über Humphrey Bogart hieß, er habe in den Kussszenen in Casablanca auf einem Podest gestanden, weil er so klein war.

Ich erinnere mich, dass es über alle möglichen Filmschauspieler hieß, sie hätten sich bei den Dreharbeiten ineinander verliebt.

Ich erinnere mich, dass es über alle möglichen Filmschauspieler hieß, sie hätten bei den Dreharbeiten wirklich Sex miteinander gehabt.

Ich erinnere mich, dass es über alle möglichen Filmschauspieler hieß, sie hätten ihre Actionszenen selbst gedreht.

Ich erinnere mich, dass es über Filmschauspielerinnen hieß, sie hätten ein "Po-Double" gehabt.

Ich erinnere mich, dass es über eine Filmschauspielerin hieß, sie habe schon als "Hand-Double" gearbeitet.

Ich erinnere mich an Filmschauspieler*innen, die für ihre Rollen in kürzester Zeit wahnsinnig viel zu- oder abnahmen.

Ich erinnere mich, dass es von Filmschauspielerinnen hieß, sie hätten schon ein paar Wochen nach ihrer Entbindung wieder ihren Vorschwangerschafts-Body gehabt.

Ich erinnere mich an Paparazzifotos von alten Männern in Speedos und jungen Frauen ohne Bikinioberteil.

Ich erinnere mich an Paparazzifotos von "Dellen" auf den Oberschenkeln von Hollywoodstars.

Ich erinnere mich an "Orangenhaut".

Ich erinnere mich an "Anti-Cellulite-Cremes".

Ich erinnere mich, dass bei Amica Anti-Cellulite-Cremes "Arschcremes" genannt wurden.

Ich erinnere mich an Anzeigenboykotte.

Ich erinnere mich, dass man hin und wieder auf einer Einzelseite noch das Produkt eines Anzeigenkunden unterbringen sollte.

Ich erinnere mich an Theresa.



Theresa.

Ich erinnere mich an das Wort "Liebes-Aus" in Themenkonferenzen.

Ich erinnere mich, dass in einer Themenkonferenz jemand von einer Prominenten erzählte, sie sei ganz sicher schwanger, weil sie bei einer Party versonnen ihren Bauch gestreichelt hatte.

Ich erinnere mich an "Mietwagenlady Regine Sixt".

Ich erinnere mich an "Sir Peter Ustinov" und "Sir Elton John".

Ich erinnere mich an "Herr/Frau Magister".

Ich erinnere mich an "Herr Doktor" in Kaffeehäusern, weil ich eine Brille trug. Manchmal auch "Herr Professor".

Ich erinnere mich an "junger Mann", obwohl ich schon deutlich über 50 war.

Ich erinnere mich an "weißer alter Mann".

Ich erinnere mich an das Wort "N-Wort".

Ich erinnere mich, dass ich in meinem Leben das Wort "N-Wort" um ein Vielfaches öfter gehört habe als das N-Wort selbst.

Ich erinnere mich, dass immer öfter die Rede von "jungen Frauen" war.

Ich erinnere mich, dass Fanny die Freiheitsstatue "Freiheitsfrau" nannte.



Freiheitsfrau.

Ich erinnere mich an "riots, not diets".



Freiheitsfrau.

Ich erinnere mich an die Muster und Farben von Pradahosen und dass ich ein paar Monate brauchte, bis sie auch mir gefielen.

Ich erinnere mich, dass mich Arschgeweihe nicht so störten, wie sie mich hätten stören sollen.

Ich erinnere mich an Eiswägen, die vor den Spielplätzen in New York klingelten und Kinder-Stampeden auslösten.

Ich erinnere mich an die Zeitschriften-Wägen an Stränden an der Côte d'Azur, die per Lautsprecher durchgaben, es gäbe ein Paket "pour Monsieur", eines "pour Madame" und etwas für die ganze Familie.

Ich erinnere mich an Physical von Olivia Newton-John.

Ich erinnere mich an die Kiekser in manchen Liedern, die ich nur wegen dieser Kiekser unwiderstehlich fand.

Ich erinnere mich an uptalk.

Ich erinnere mich an das resting bitch face.

Ich erinnere mich an Peper Harow und an die Gärtnerin dort, die "Problemjugendlichen" die Liebe zur Welt beibrachte, indem sie ihnen Verantwortung für das Gedeihen von Pflanzen übertrug.

Ich erinnere mich an meinen häufigen Wunsch, jemand völlig anderer zu sein als ich selbst.

Ich erinnere mich an Tagträume, mit einer Gärtnerin zu leben. Oder einer Vogelbeobachterin. Oder einer Tischlerin.

Ich erinnere mich an das Kids Magazine.

Ich erinnere mich an meine Traurigkeit, als sich herausstellte, dass der Typ, der das Kids Magazine machte, wieder einer dieser Typen war, denen es darum ging, Kinder anzufummeln.

Ich erinnere mich, dass ich mir immer wieder vornahm, absolut niemandem mehr zu vertrauen. Und es natürlich nicht schaffte.

Ich erinnere mich an Anti-Facebook-Kampagnen.

Ich erinnere mich an Proteste gegen den neuen Algorithmus von Instagram.

Ich erinnere mich an "digitale Demenz".

Ich erinnere mich an "Ego-Shooter".

Ich erinnere mich an Pop-Up-Fenster, die darüber informierten, dass eine Website Cookies setzte.

Ich erinnere mich an Weblogs.



Weblogs.

Ich erinnere mich, wie elektrisierend es war, als Stefan mir ein Weblog in die Hand gab, das könnte was sein für dich.

Ich erinnere mich an "Monetarisierung von Weblogs".

Ich erinnere mich an "jeder sein eigener Chefredakteur".

Ich erinnere mich an Linklisten.

Ich erinnere mich die Bitten um "Linktausch".

Ich erinnere mich an Polemiken gegen "Link in neuem Fenster öffnen".

Ich erinnere mich an kleine finnische Clubs.

Ich erinnere mich an Camp Catatonia..

Ich erinnere mich an thefrank.

Ich erinnere mich an schaum.

Ich erinnere mich an Gerlinde Lang.

Ich erinnere mich an das Wort "lecker".

Ich erinnere mich, dass in Österreich jemand, der das Wort "lecker" benutzte, als Deutscher identifiziert und verachtet wurde.

Ich erinnere mich an "Piefke".

Ich erinnere mich an "Ösi".

Ich erinnere mich an HC Strache.

Ich erinnere mich an H.C. Artmann.

Ich erinnere mich an "Dr. hc".

Ich erinnere mich an "Herr Ingenieur".

Ich erinnere mich an "dem Inschinör ist nichts zu schwör".

Ich erinnere mich an Orchideenfächer und MINT-Studien.

Ich erinnere mich an "taxifahrende Soziologen".

Ich erinnere mich an "früher saßt du im Taxi hinten rechts, jetzt sitzt du im Taxi vorne links".

Ich erinnere mich, dass Joschka Fischer irgendwann Taxifahrer gewesen war, ehe er schließlich Außenminister wurde.

Ich erinnere mich an Der lange Lauf zu mir selbst.

Ich erinnere mich an Mein Kampf, Band 1 - 6. Und dass es in Deutschland nicht Mein Kampf hieß.

Ich erinnere mich, dass mir Karl Ove Knausgård erzählte, er möge Thomas Bernhard.

Ich erinnere mich, dass sich Thomas Bernhard für mich angehört hatte wie ein Wiener Hausmeister.

Ich erinnere mich an die Erzählungen Karl Ignaz Hennetmairs, der Thomas Bernhard einen Hof in Ohlsdorf verkauft und ihn so zum Immobilienbesitzer gemacht hatte.

Ich erinnere mich an die Heldenplatz-Premiere im Burgtheater, bei der ich in einer Loge saß, die der Wiener stern-Korrespondent für mich organisiert hatte, ein umtriebiger Mann, der davor für Bruno Kreisky, die Kronenzeitung und RTL gearbeitet hatte und selbstverständlich irgendwann zum Professor ernannt wurde.

Ich erinnere mich, dass mir der Friseur, der Gert Voss die Haare für Peymanns Richard III-Inszenierung geschnitten hatte, erzählte, danach hätten wahnsinnig viele Männer in Wien denselben Schnitt gewollt.

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