vague.

Samstag, 3. September 2022

Ich erinnere mich (11/15)

Ich erinnere mich an "Glory of love / The glory of love / The glory of love might see you through / Glory of love, uh, huh-huh / The glory of love / Glory of love, glory of love / Glory of love, now, glory of love, now / Glory of love, now, now, now, glory of love / Glory of love, give it to me now, glory of love to see you through"

Ich erinnere mich an Ekkehard Knörer.

Ich erinnere mich an hotelmama.

Ich erinnere mich an Joana Preiss, und dass ich mir nie merken konnte, ob man sie mit einem oder zwei ns schreibt.

Ich erinnere mich an die Lätta-Werbung, in der eine Frau aus einem See kommt und sich mit ihren nackten kühlen Brüsten auf den sonnenwarmen Rücken ihres Freundes legt.

Ich erinnere mich an Baba.

Ich erinnere mich an Bussi baba.

Ich erinnere mich an Sehnsuchtsstiche jedes Mal, wenn ich in Berlin jemanden Bussi baba sagen hörte.

Ich erinnere mich an Roland Barthes.

Ich erinnere mich an Sehnsuchtsstiche jedes Mal, wenn ich bei Roland Barthes von dessen Liebe zu seiner Mutter las.

Ich erinnere mich an Fotos meiner Mutter vor meiner Geburt.



Meine Mutter vor meiner Geburt (die dritte im Boot).

Ich erinnere mich an Genua.

Ich erinnere mich, dass ich in Genua mit verdorbenem Magen ankam und die Stadt zwei Tage lang nur durch das Fenster des Hotels hören konnte. Gleich fiel mir wieder meine Kindheitsfantasie ein, blind zu werden.

Ich erinnere mich an den Geruch von Hafenstädten.

Ich erinnere mich an die vorbeifahrenden Schiffe an der Elbe.

Ich erinnere mich an "Unten am Hafen, wo die großen Schiffe schlafen".

Ich erinnere mich, wie verstört ich war, dass Hamburg nicht am Meer lag, wie ich mir immer eingebildet hatte.

Ich erinnere mich an Duftkerzen.

Ich erinnere mich an Lavendel-Duftsäckchen.

Ich erinnere mich an Duftkissen.

Ich erinnere mich an Pfirsiche.

Ich erinnere mich an das Glück, wenn Pfirsiche so reif waren, dass mir ihr Saft über Hände und Kinn lief.

Ich erinnere mich an Knoblauch.

Ich erinnere mich an die Gier jedes Mal, wenn ich irgendwo Knoblauch roch.

Ich erinnere mich an meinen Großvater, einen winzigen spindeldürren Mann, der kaum etwas sagte und die ganze Zeit an seinem Werkstatttisch saß, um an den Schuhen zu arbeiten, mit denen man ihn beauftragt hatte.

Ich erinnere mich an meine Großmutter, eine winzige dicke Frau, die unaufhörlich im Haus arbeitete.

Ich erinnere mich an meinen Großvater, einen Mann, der nichts arbeitete, weil er eine Kriegsverletzung erlitten hatte, alles einarmig erledigte, beim Suppenessen schlürfte, oft leicht zitterte, und vermögend geheiratet hatte.

Ich erinnere mich an die gestärkten Blusen und gestärkten Haare meiner Großmutter.

Ich erinnere mich an Einweghandschuhe im Supermarkt.

Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, ob man die Bettlerampel mit bloßen Händen anfassen könne.

Ich erinnere mich an die Traurigkeit Fannys während des Lockdowns.



Coronatraurigkeit.

Ich erinnere mich an die Sehnsucht Fannys während des Lockdowns.



Coronasehnsucht.

Ich erinnere mich, dass eine Zeitlang durchsichtige Dinge schick waren: Glastische, transparente Fiberglasboxen, gläserne Molkereien und Manufakturen.

Ich erinnere mich an "Wünsch dir was". Und dass es einen Skandal gab, weil die Tochter einer Kandidatenfamilie sich dafür entschieden hatte, eine transparente Bluse anzuziehen, durch die man ihre Nippel sehen konnte.

Ich erinnere mich, dass ich eine Tasche hatte, die aussah wie erkaltetes Sperma, irgendwie milchig.

Ich erinnere mich an Einkaufsbeutel mit Botschaften.

Ich erinnere mich, dass ich immer wieder den Impuls hatte, Menschen auf die Sätze auf ihren Message-T-Shirts anzusprechen. Und es kein einziges Mal tat.

Ich erinnere mich an Herdwärme.

Ich erinnere mich an den Angestellten der österreichischen Botschaft, der zu uns nach Hause kam, um uns beizubringen, wie man Schnitzel macht.

Ich erinnere mich an eine Schnitzeljagd, bei der wir mit jemandem in einem Viererteam landeten, der uns anschnauzte, weil wir uns beim Kanufahren nicht genügend anstrengten.

Ich erinnere mich, dass der Tag der Schnitzeljagd mit der Nachricht von Lady Di's Tod im Autoradio zu Ende ging.

Ich erinnere mich, wie sehr ich es am Tag von Lady Di's Tod bedauert habe, nicht mehr bei einem Wochenmagazin zu arbeiten.

Ich erinnere mich an Bierkneipen. Männer an Tischen. Geräuschkulisse wie in einem Aquarium. Der Geruch von Bier. Auf den Klos Männer, die sich beim Pissen an die Wand vor ihnen lehnten.

Ich erinnere mich an "Abrahams Wurstkessel" und "mein Freund und Kupferstecher".

Ich erinnere mich an Loafer.

Ich erinnere mich an Slipper.

Ich erinnere mich an Männer, denen es wichtig war, über die Unterschiede von Loafern und Slippern Bescheid zu wissen.

Ich erinnere mich an "never brown after six".

Ich erinnere mich an "kein Alkohol vor sechs".

Ich erinnere mich an "ich schaue immer zuerst auf die Schuhe".

Ich erinnere mich an einen Fernsehbeitrag über eine Frau in Paris, die Maß-Unterwäsche für Frauen schneiderte, sofort dachte ich, das sei der wahre Luxus: ein Fast-Nichts, genau auf den Körper geschnitten.

Ich erinnere mich an Die Spitzenklöpperin.

Ich erinnere mich an die Filme über irgendwie einsame Frauen: Jeanne Dielmann, Die Sanfte, Gloria, Die Spitzenklöpplerin, Die linkshändige Frau.

Ich erinnere mich, dass in Filmen irgendwie einsame Männer immer völlig anders waren als irgendwie einsame Frauen. Nicht so einsam.

Ich erinnere mich, dass ich mir immer wieder vornahm, mehr Gedichte zu lesen, es aber nie tat.

Ich erinnere mich, dass ich mir immer wieder vornahm, mir Opern anzuhören, es aber nie tat.

Ich erinnere mich an Branford Marsalis, wie er auf seinem Hotelzimmersofa saß, sehr laut eine Richard Strauß-Oper hörte und an manchen Stellen vor Begeisterung regelrecht schrie.

Ich erinnere mich an das Zemlinsky-Lied Drei Schwestern.

Ich erinnere mich an das Café Prückel.



Im Café Prückel.

Ich erinnere mich an das Café Landgraf.

Ich erinnere mich die Jukebox im Café Landgraf.

Ich erinnere mich, dass Peter Handke in einem seiner Texte in einer Jukebox eine Single von CCR drückt.

Ich erinnere mich, dass mein Bruder mit 12 zu Weihnachten eine LP von CCR bekam.

Ich erinnere mich, dass ich mit 13 zu Weihnachten School is Out von Alice Cooper bekam. Allerdings ohne das Papierhöschen, von dem ich gelesen hatte, dass die Platte darin eingewickelt war.

Ich erinnere mich an das Wort "Höschen". Und dass ich es verheißungsvoll fand.

Ich erinnere mich daran, dass in Hamburg Menschen "Parfüm" (mit ü) und Jatss (statt "Jazz") sagten. Und dass der englische Name "John" auch deutsch ausgesprochen werden konnte.

Ich erinnere mich an die Bratkartoffeln zum Frühstück, wenn ich bei Okka übernachtet hatte.

Ich erinnere mich an Mitternachtssuppen.

Ich erinnere mich an die Pusztalaiberl beim Warmen Hans, das Gulasch im Drechsler und die Matjesfilets in Erikas Eck am Nachhauseweg.

Ich erinnere mich an Postkarten aus den Sommerferien, auf denen man mit einem X sein Hotelzimmer markierte.

Ich erinnere mich an den alten Mann, bei dem Wolki wohnte und der Postkartenverleger war. Jeden Sommer bereiste er die Länder, die zur Monarchie gehört hatten, um neue Fotos zu machen.

Ich erinnere mich an eine Postkarte mit dem Bildnis Kaiser Franz Josephs, daneben das Kaiserlied in Hebräisch.



Das Kaiserlied.

Ich erinnere mich an die Donau.

Ich erinnere mich, dass ich es oft einfach nicht schaffte, Frauen, in die ich mich verliebt hatte, zu sagen, wie toll ich sie fand, weil ich zu schüchtern war.

Ich erinnere mich an Stella.

Ich erinnere mich an Janosch, wie er in seinem Krankenhausbett lag, Schläuche aus seinen Armen, Überwachungsgeräte, auf die ich starrte.

Ich erinnere mich an Paul.

Ich erinnere mich an Fernliebe.

Ich erinnere mich an mein verlorenes Münchener Jahr.

Ich erinnere mich, mir vorgenommen zu haben, einmal in meinem Leben mit dem Rad die Serpentinen von Alpe d'Huez hochzufahren.

Ich erinnere mich an den Leistungstest in einem Sportcamp auf Fuerteventura bei einem alten englischen Trainer. Den ich nach einer Minute abbrach, weil ich es einfach nicht schaffte, gegen den Widerstand anzutreten, den er mir eingestellt hatte. Dabei war es die leichteste Stufe gewesen.

Ich erinnere mich an Sprachferien.

Ich erinnere mich an Kino-Platzanweiser, die mit Taschenlampe im Dunkeln vorangingen.

Ich erinnere mich, dass es Menschen gab, die jeder mochte, Bov zum Beispiel oder Lars.

Ich erinnere mich an: "Ich bin jetzt Mitte 30, ich geh nicht mehr fremd, ich habe keine Lust mehr, meine Lebensgeschichte zu erzählen."

Ich erinnere mich daran, völlig übermüdet das Baby im Kinderwagen spazierenzufahren, in der Hoffnung, dass es nicht aufwachen werde.

Ich erinnere mich an Witze auf Mülltonnen.

Ich erinnere mich an Witze, die mir meine Kinder erzählten.

Ich erinnere mich, wie aufregend ich es fand, eine Freundin zu haben, die "schon über 30" war.

Ich erinnere mich an lustige Krawatten.

Ich erinnere mich an lustige Socken.

Ich erinnere mich an das Gefühl, ersticken zu müssen, wenn ich eine Krawatte tragen musste, einen Rollkragenpullover anhatte oder mein Gesicht eincremte.

Ich erinnere mich an Slips.

Ich erinnere mich an "Schlüpfer". Und dass Schlüpfer für mich etwas fundamental anderes waren als Slips.

Ich erinnere mich, dass die Eltern in der Kita "Schlüppi" sagten. Ich irgendwann auch.

Ich erinnere mich, dass es selbst in den knappsten Schlüppis viel zu große Etiketten gab, die man erst einmal abschneiden musste.

Ich erinnere mich, dass es irgendwann Journalisten zu geben begann, deren Arbeit darin bestand, Nipple Slips, "Schlüpferblitzer" und "offenherzige" Instagram-Fotos zu Zehn-Zeilen-Artikeln zu verarbeiten.

Ich erinnere mich an MTV.

Ich erinnere mich an Beavis and Butthead.

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