62. Unsortierte Notizen, die goldenen Jahre betreffend.
Wochenends Spielplatzbeklemmungen beim Beobachten der Dreigenerationen-Fünferpulks: 2 Großeltern + 2 Eltern + 1 Kind. Du möchtest nicht das Kind sein, aber du wolltest nie gerne Kind sein. Sag Auto, sag dies, sag jenes. Nein, nein, nein. Wie oft soll ich noch nein sagen, komm jetzt.
Mein Vorsatz, sie so zu behandeln, dass sie sich nicht als Kind fühlen muss, schwer zu bewerkstelligen, weil sie unübersehbar eines ist.
Die Alarmiertheit jedes Mal, sobald jemand für sie automatisch seine Stimme verstellt, nicht, um mit ihr Quatsch zu machen, sondern weil er sich einbildet, mit Kindern könne man anders reden, höher, zeichentrickfilmhafter. So wie man früher mit Migranten anders gesprochen hat als mit den Angehörigen der eigenen Bande.
Schwarze Pädagogik 2012: ein Band aus Liebe und Zuwendung.
Auf dem Spielplatz wochenends viel updressing. Eltern, die sich in Schale geworfen haben, Mädchen mit komplizierten Zöpfen, ein anderes Mädchen in einer hautfarbenen Strumpfhose. Sonntagsstaat, deprimierend, dass es das noch gibt. Das denke ich jetzt oft: Wie deprimierend, dass es das noch gibt.
Ein paar Blocks weiter in die andere Richtung, im Thälmannpark, hat die unsichtbare öffentliche Hand irgendwann im letzten Jahr alle Spielplatzgeräte abgebaut. Jetzt gibt es bloß noch die Minimalausstattung, einen Sandkasten. Für die Kinder der Plattenbaubewohner reicht das, sie brauchen keine Rutschen, Wippen, Schaukeltiere, Trampoline, Klettergerüste.
Andererseits ist eine Sandkiste (wie es in Österreich hieß) exakt das gewesen, was ich in meiner Kindheit hatte, vor 45 Jahren, als es noch mehr Kinder gab und noch nicht so viel von Zukunftsangst und Frühförderungseifer beflügelte Zuwendung. Wo ich aufgewachsen bin, gab es aber auch eine kleine Au (wir nannten es so, obwohl es keine war), ein Maisfeld, Bäume, auf die man klettern konnte, die letzten Ausläufer der Vorstadt, gleich daneben ging die Stadt ins Ländliche über. Die Sandkiste hinter dem Haus war nur für die ganz Kleinen, alle anderen waren auf sie nicht angewiesen, wir wollten runter und losbutschern, Maiskörner aus den Kolben pulen, mit Steinen zermörsern und mit dem Wasser aus der Au-Quelle zu einem Brei anrühren, wir wollten die Bäume hoch, in das Feld Schneisen rennen, uns verstecken. Niemand passte auf uns auf. Niemand saß auf einer Bank und behielt uns im Auge. Wenn sich jemand verletzte, rannte einer los und schlug Alarm. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass viel passiert wäre. Aber das kann auch daran liegen, dass ich ein schlechtes Gedächtnis habe.
Meine Allergien gegen Kindheitsgeschichten, immer noch, auch gegen die, die ich selbst erzähle, gegen Romane und Filme, in denen Kinder vorkommen, die meisten jedenfalls. Kinder sind darin so häufig ein billiger Trick, Urteile über die Welt zu fällen (das weise Kind, das die Welt klarer durchschaut als Erwachsene, das leidende Kind, an dem die Effekte der Handlungen von Erwachsenen sichtbar werden, &sw.). Was mich mehr interessiert: die Individualitäten von Kindern, für die vermutlich kaum jemand Geduld aufbrächte, weil kindliche Individualität eher minimal music oder modaler Jazz oder Raga als ein Dreiminutenpopsong ist; kleinere Übergänge, Variationen von Wiederholung, winzige Verschiebungen, die Schönheit von Schleifen, dazwischen heftige Ausbrüche, Caspar Brötzmann Massaker, Yoko Ono. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich Kinder gerne mag.
Wahrscheinlich ist meine Allergie gegen bestimmte Kindheitsdarstellungen Symptom eines tiefer sitzenden Unbehagens: Ich war nicht gerne Kind, jedenfalls bilde ich mir das ein, so genau weiß ich es nicht, vielleicht bin ich nur ein Erwachsener, der sich einbildet, er wäre ein Kind gewesen, das nicht gerne Kind gewesen ist. Andererseits: kann man sich nachträglich einreden, dass man sich unwohl gefühlt hat, obwohl man sich nicht unwohl gefühlt hat? (Kann man wahrscheinlich, aber so unwohl wie ich mich immer wieder fühle, habe ich es eher mit alten Impulsen zu tun als mit einer Identitätsinszenierung.) Ich merke, dass ich mich auf Kinderfotos schwer ertragen kann, die Person, die da zu sehen ist, wollte ich loswerden, den Haarschnitt (der ein ganz normaler Jungshaarschnitt gewesen ist, den heute noch drei Viertel aller Jungs haben [deprimierend, dass es das noch gibt...]), die Klamotten (das Übliche, das man in der Epoche vor der Kindermarkenmode so trug), die Körperhaltung (lach doch mal...). Vermutlich bin ich nicht so gerne Kind gewesen, wie es von Kindern erwartet wird.
Auch das beginnt mir jetzt aufzufallen: Von Kindern wird häufig erwartet, dass sie GLÜCKLICHE Kinder sind, es ist eine Art Zeichen ihrer seelischen Gesundheit und des Gelingens der Elternkindbeziehung. Das Dumme daran: Kinder können keine Auskunft darüber geben, wie glücklich sie sind, und noch weniger, wie wichtig ihnen das Glücklichsein überhaupt ist. Kinder sind black boxes, in die Erwachsene hineinspaßen, bis sie ihr Kinderlachen bekommen, dann ist für die Erwachsenen alles gut; sie fragen sich eher selten, ob das auch stimmt, Kinderlachen lügt nicht, Kinder sind keine Schauspieler, das ist es ja, was die Erwachsenen so sagenhaft toll an ihnen finden - dass sie so authentisch sind, viel authentischer und unverstellter als sie selbst, die sich unter dem Zwang der Verhältnisse verstellen und anpassen und opportunistisch sein müssen. Bilden sie sich ein. Obwohl sie andererseits ständig mitbekommen, dass Kinder Copy&Paste-Virtuosen sind (immerhin lernt man als Kind so) und deswegen wissen müssten, dass das Kinderlachen und das Kinderglück möglicherweise bloße Konzessionen sind, Nettigkeiten, weil die Erwachsenen es so haben wollen & um in Ruhe gelassen zu werden, wenn sie die paar Dinge tun, die ihre Luftüberwacher beruhigen. Irgendwann dieser Tage gedacht, dass Elternschaft zu großen Teilen Luftüberwachung ist, ständig schweben Drohnen über dir, ständig schaut dir jemand zu und greift von oben her ein; mir gleich wieder vorgenommen, noch mehr zu ihr auf den Boden zu gehen, als ich es ohnehin schon tue.
Ist F. ein glückliches Kind? Weil sie oft lacht? Späße macht? Ich weiß es nicht wirklich, wie sollte ich es wissen können, sie kann es mir nicht sagen. Sehr oft ist sie es nicht. Sehr oft ist sie ein unglückliches Kind, wie jedes Kind, Kinder sind diese Leute, die ständig mit dem Status Quo unzufrieden sind und sich zu Zufriedenheit nicht überreden lassen. Dass sie das Messer nicht bekommt, dass sie nicht einfach losrennen kann, den Autos entgegen, dass sie das und das und auch das nicht tun soll, was sie unbedingt tun will: lauter Frustrationen, ich bin mir sicher sehr viel mehr als Glücksempfindungen, bei jedem Kind. Zu den Beklemmungen des Elternseins gehört es, dass man sich dabei beobachten kann, ständig Verbote auszusprechen, ständig jemandem etwas zu verweigern, ständig Vergnügen, Lust, Ekstase abzukürzen, man ist Überwachungsdrohne, die ständig aus dem Luftraum herabschießt und ins Geschehen eingreift. Vielleicht ist den Erwachsenen auch deswegen das Kinderlachen so kostbar, es lässt sie vergessen, dass sie Diktatoren sind, sie können sich einreden, von ihren Untertanen abgöttisch geliebt zu werden.
Der vergrübelte Schmerz damals, als man mir bei einer Elternsprechstunde über S. sagte, sie sei ein tolles Mädchen, aber nie ginge sie ganz aus sich heraus, würde sie sich gehen lassen. Sofort habe ich mich gefragt, ob sie mir ähnlicher werden würde, als mir lieb wäre (gemessen am Inbild eines sich UNBÄNDIG freuenden Kindes, das sich lachend alle Kraft aus dem Leib tanzt), erst Tage später die Ungehaltenheit, dass sich mal wieder jemand elaborierte Diagnosesätze zurechtgelegt hatte, guten Willens sicher, aber da war sie wieder, die gute alte Aversion, von der ich genau weiß, woher sie stammt, gegen das Beurteilt-, Begutachtet-, Kommentiert-, Durchschaut-, Einsortiert-, Beanstandet-Werden, Sichtbarseinmüssen.
Selbstverständlich ist es nicht gut, Allergien mit Argumenten zu verwechseln, sie sind bloß - Allergien, eine Unfähigkeit, mit etwas umzugehen.
(Jedenfalls war ich kein Kind, das ein glückliches Kind sein wollte, glaube ich, ich wollte am liebsten ein unbeobachtetes Kind sein, glaube ich, was nicht heißt, dass ich nicht manchmal glücklich gewesen bin (aber das ist eine Annahme, so genau sind Erinnerungen an Glück nicht, Menschen, die von sich sagen, sie hätten eine glückliche Kindheit gehabt, habe ich schnell im Verdacht, sich selbst beschwören zu wollen, wie schließlich könnte man sich eine glückliche Kindheit vorstellen, die Bullerbükitschigkeit ist ja eher fürs Erwachsenengemüt.).)
Mit Kindern wird man seltsam zukunftsinteressiert, man hört sich die Nachrichten anders an als kinderlose Menschen, man rechnet sich alles mögliche aus: Wie wird es sein für sie, wird es gut sein für sie, was kann ich tun, damit es gut sein wird für sie, auch jenseits der kurrenten Frühförderungsobsessionen und dem unangenehmen Menschenbild, das ihnen zugrundeliegt. Das Verrückte dabei: Man hat aus Lebenserfahrung längst begriffen, dass man es sich nicht wirklich und immer weniger ausrechnen kann. Ich weiß nicht, wie oft und wie sehr sich meine Eltern gefragt haben, wie das Leben für mich werden würde; falls sie es taten, hätten sie nichts davon vorhersagen können, wie mein Leben jetzt ist (das Internet, die Globalisierung usw. usf.) Und dennoch merke ich, dass ich mir immer wieder Fs Zukunft zurechtprognostiziere, aus Sätzen über den demografischen Wandel, die Digitalisierung und ähnliches, die im Presseclub fallen, Szenarien für sie entwerfe. Sehr albern.
(Was hätte man mir vor 40, 45 Jahren raten sollen, statt meine eigene Wahl einfach zur Kenntnis zu nehmen? Wahrscheinlich: Marx nicht lesen, hat sowieso keinen Sinn. Kein Journalist werden, hört noch in deiner Lebenszeit auf, ein glamouröser und gut bezahlter Beruf zu sein. Nicht Philosophie studieren. Jura! Oder BWL! Sport machen, irgendetwas Athletisches! Netzwerke! Bisschen sonniger werden! Bisschen mehr Zackzack! Bisschen mehr Geld zur Seite legen, bisschen analfixierter werden. Lauter nützliche Empfehlungen, die mich möglicherweise glücklicher gemacht hätten, ich bin froh, sie nie bekommen zu haben.)
(Wie sehr es mich immer wieder nervt, dass so viel über Zukunft nachgedacht wird, die Knute über der Gegenwart, reißt euch zusammen, sonst kommt das dicke Ende, bescheidet euch, lasst euch nicht gehen, rüstet euch. Lass dich nicht ein auf die Gegenwart, klammere nicht, verschwende deine Jugend nicht, du willst doch gebraucht werden. Wofür eigentlich?)
(Kann gut sein, dass das nur meine eigene filter bubble ist.)
(Läuft das auf etwas hinaus? Egal.)
Wenn man ein wenig den Diskussionen über das Betreuungsgeld folgte, merkte man schnell, wie sehr es darum ging, einander Kindheitsideologien an den Kopf zu werfen. Die CSU operierte mit der Verschwörungstheorie, es gäbe eine Art sanften Zwang, der Mütter in die Richtung schubse, ihre Kinder so bald wie möglich wegzugeben, und annoncierte ihren Hunni pro Monat auch als eine Art Anerkennung für den Widerstand, diesem Zwang zum Trotz die Kinder selbst zu betreuen; die Gegner des Betreuungsgeldes (das auch ich für eine Dummheit halte) sangen dagegen Kita-Loblieder - wie sehr sie den Migranten- und Proletenkindern dabei helfen könnten, integriert zu werden, die Sprache und soziales Verhalten zu lernen, und je öfter sie es sagten, desto verrückter kamen sie mir vor in ihrer Mittelschichtherablassung, gelungene Kinder sich nur als solche vorstellen zu können, die schon in der Kita gelernt haben, sich auf die Mittelschichtspielregeln einzupegeln. Aber es wird schon so sein: wer sich nicht schon mit drei oder vier anpasst, wird später keine Chancen mehr haben, auch unter anderen Regierungen als der, die nächstes Jahr ausgetauscht werden wird, gegen dieselbe Sorte Regierung. Du musst mit zwei, drei, fünf lernen, wie du dazugehören kannst. Sonst wird das nichts mehr. Und wieder konnte ich nicht umhin zu bemerken, dass in mir immer noch dieses Kind war, das keine Lust hatte, nichts anderes wollte, als in Ruhe gelassen zu werden von allen, die es so gut meinten mit ihm.
Kinder haben einen seltsamen Job, für den sie ständig schuften müssen. Sie sollen authentisch sein, die letzten verbliebenen unverbogenen Menschen, und gleichzeitig total programmierbar, weil man mit dem Authentischen nicht sehr weit kommt, wenn es nicht beizeiten in die richtigen Richtungen geschubst wird. Deswegen bekommst du dieses Fürsorgetreatment, ob zu Hause, ob bei ausgebildeten Externen, ist völlig egal, wenn es nur ein Treatment ist, die Recodierung deiner niedlichen Natur, damit du nicht abgehängt wird, damit du mithalten kannst, damit du wirst wie wir, die wir Kinder lieben, und wie!
Du wolltest das Kind nicht sein unter solchen Drohnen, aber du wolltest nie Kind sein. Kann aber gut sein, dass das nicht stimmt, dass du dir das nur einbildest und in Wahrheit ein Erwachsener bist, der sich einbildet, ein Kind gewesen zu sein, das lieber nicht Kind sein wollte. Vielleicht so: du magst Kinder, aber die Kindheit nicht. Du bist Vater, aber wärst gerne stattdessen etwas, für das es keinen Namen gibt, etwas, das nicht für Beklemmungen sorgen müsste.
Währenddessen schafft sie es, vier Zähne gleichzeitig ausbrütend, mit einem geschwollenen Lymphknoten und einem entzundenen Ohr, mich drei Minuten, nachdem ich sie nach Hause gebracht habe, dazu zu bringen, ihr den Mantel und die Schuhe wieder anzuziehen, sie auf den Arm zu nehmen und die drei Etagen, die wir eben hochgekommen sind, wieder hinunterzugehen, auf die Straße hinaus, die Straße hinunter, ihr den Wohnungsschlüssel zu überlassen, damit sie ihn in jedes Türschloss die Straße hinunter zu stecken versucht, ungehalten werdend, weil er in keines der Schlösser passt, die sie sieht, und es sind viele Schlösser, protestierend, wenn ich weitergehen will, nein nein nein, sagt sie, sie muss jetzt Schlösser aufsperren, und ich folge ihr von Tür zu Tür, Schloss zu Schloss, keines wird aufgehen. Aber irgendwann eben doch. Und dann wird sie wieder ein wenig weniger Kind geworden sein. The youth are getting restless.
61. Autourette.
In diesem Sommer saßen wir so herum.
Wir hatten den Aufruf „Wir sind die Urheber“ unterschrieben und warteten darauf, dass etwas passierte.
Es passierte aber nichts.
Meinst, dass noch was passiert?, fragte Kapp.
Geh bitte, sagte Kippen.
Aber irgendetwas muss doch passieren, sagte Kapp.
Claudia Roth in Libyen zu allem entschlossen, sagte Kippen.
Was?
Claudia Roth in Libyen zu allem entschlossen, sagte Kippen.
So ein Sommer war das.
Irgendwann war es Lauer zu blöd geworden.
Wenn die sich absichtlich so blöd stellen, nehmen wir ihnen die Urheberrechte eben wirklich weg, sagte er, und der einzige Superdelegierte, der bei den Piraten noch abstimmte, gab ihm seine 1.112.324 Stimmen.
Sechs Wochen später hatten wir keine Urheberrechte mehr, die Novelle war zackig durch den Bundestag gepeitscht worden, irgendein Deal, hieß es, auffällig war, dass drei Tage später die Piraten der Flexiquote zugestimmt hatten, „ein Kompromiss zwischen unseren Post-Gender-Positionen und der Linie des Kegelclubs“, sie hatten nicht lange gebraucht, um wie die anderen zu werden.
Merkst du schon was?, wollte Kapp wissen.
Ach geh, sagte Kippen. Zwei haben mich runtergeladen, das war alles. Was für eine Scheiße.
Einer war ich, sagte Kapp. Ich wollte testen, ob es geht.
Na toll, sagte Kippen.
So ein Sommer war das.
Musst du dich auch melden? fragte Kapp. Die wollen von mir, dass ich Kindergärtner werde.
Kippen lachte.
Kapp: Kannst du bitte aufhören mit dem beschissenen Lachen!
Kippen: Wissen die überhaupt, was du machst?
Kapp: Kindergärtner!
Kippen: Du kannst ihnen ja deine Texte vorlesen.
Kapp: Meinst?
Kippen: Oder einer von den Müttern.
Kapp: Von einer Mutter, die einen Kindergärtner will, will ich ganz sicher nichts.
Kippen: Vielleicht ist sie mit einem Piraten verheiratet.
Kapp: Wenn sie mit so einem zusammen ist, will ich noch weniger von ihr.
Kippen: Vielleicht wacht sie auf, wenn du ihr deine Texte vorliest.
Kapp: Ganz sicher nicht.
Kippen: So wenig traust du deinen Texten zu?
Pause.
Kapp: Was passiert eigentlich, wenn ich mich nicht melde?
Kippen: Würde ich nicht riskieren an deiner Stelle.
So ein Sommer war das.
In diesem Sommer saßen wir so herum.
Kapp, der schon lange keine Frau mehr kennengelernt hatte, lernte eine Frau kennen.
Und? wollte Kippen wissen.
Ach, sagte Kapp.
Depp, sagte Kippen. Was hat sie denn gestört?
Was ich halt mache, glaub' ich.
Was du machst?
Beruflich.
Du hast doch keinen Beruf.
Wollte sie aber wissen. Ich hab gesagt: Ich könnte Autor sein.
Bist du total von Sinnen? Was wolltest du ihr denn mitteilen?
Wenn uns die Piraten nicht das Urheberrecht weggenommen hätten, wäre ich Autor. Weil die Piraten uns das Urheberrecht weggenommen haben, bin ich kein Autor. Aber ich könnte. Unter anderen Bedingungen.
Unter anderen Bedingungen könnte ich auch.
Hat sie irgendwie gestört, glaube ich jedenfalls.
So ein Sommer war das.
Kapp: In meinem Haus ist ein Autor eingezogen.
Kippen: Wer denn?
Kapp: Oder Autorin. Ich kenn ihn ja nicht oder sie.
Kippen: Wieso weißt du dann, dass der Autor ist?
Kapp: Oder die.
Kippen: ODER DIE!
Kapp: Weil es im Haus seit ein paar Tagen ein neues W-lan gibt, das CELAN heißt.
Kippen: Bist du deppert.
Kapp: Echt wahr.
Kippen: Und warst du schon drin im Celan?
Kapp: Logisch.
Kippen: Das Password war nicht wirklich „SchwarzeMilch“.
Kapp: „SchwarzeMilch1234“.
Kippen: Und?
Kapp: Nix und.
So ein Sommer war das.
Kippen: Wir können einen Darkroom aufmachen.
Kapp: Weil dich da keiner sieht.
Kippen: Was?
Kapp: Weil dich in einem Darkroom keiner sehen kann.
Kippen: Warum soll mich niemand sehen?
Kapp: Damit du eine geringfügige Chance bekommst, angefasst zu werden?
Kippen ist beleidigt. Nach längerem Schweigen: Trottel.
Kapp: Du willst doch einen Darkroom aufmachen.
Kippen: Doch nicht für Menschen.
Kapp: Sondern?
Kippen: Für Bücher.
Kapp: Bücher.
Kippen: Analogbücher.
Kapp: Einen Raum, in dem man Bücher anfasst.
Kippen: Genau.
Kapp: Wieso?
Kippen: Genießen Sie das haptische Erlebnis echter Papierbücher!
Kapp: Kafka befummeln!
Kippen: Zehn Minuten nur zehn Euro!
Kapp: Genial.
Kippen: Ein Knüller.
So ein Sommer war das.
Kippen: Die Geschichte eines Mannes, der unbedingt Autor werden wollte.
Kapp: Wieso?
Kippen: Wegen Norman Mailer.
Kapp: Geh bitte, wer kennt denn Norman Mailer?
Kippen: Von mir aus wegen Peter Handke.
Kapp: Schwammerlsuchen im Wald, Überlandwanderungen, noch mit der Hand schreiben.
Kippen: Na, dann wegen David Foster Wallace.
Kapp: Lieber nicht.
So ein Sommer war das.
52. Maenner/komplettansicht.
Die junge Frau wird nicht mehr jünger, keine Zeit mehr für den Scheiss. Sie will, dass das nicht immer wieder von vorne anfangen muss. Man kann sich ja leicht ausrechnen: Wenn man gerne eine richtige Beziehung inklusive aller möglichen Optionen hätte, muss man Kalküle über mehrere Jahre aufmachen. Die Feinkalibrierung der Bedürfnisse und Lebensentwürfe dauert, was weiß man schon nach ein paar Monaten voneinander? Bis sich herausstellt, ob das eine Beziehung ist oder wieder nur ein Beziehungsversuch, braucht es ewig, und Ewigkeiten kann man sich nicht ewig leisten. Also muss es wenigstens schneller losgehen.
An ihr soll es nicht liegen. Sie geht mit dem jungen Mann aus, trinkt mit ihm Bier, lässt sich von ihm besprechen, hört sich seine Musik und seine Gefühlslagen an. Das sind Investitionen in ihre Zukunft, das macht sie nicht einfach zum Spaß. Der junge Mann ignoriert das. Wahrscheinlich ist er nur ein Arsch wie die meisten anderen Männer auch. Einer, der Frauen nicht in ihrer Zukunft ankommen lässt, er tut es eben auf seine ganz spezielle Weise. Er fängt nichts mit ihr an. Bloß Halbheiten, während sie sich den Kopf zergrübelt, in den Nächten, in denen er es bei Bier, Musik und Gefühlsausschüttungen bewenden ließ. Was ist das mit dem, fragt sie sich, warum tut er nichts, kann er mich nicht endlich küssen, ich will doch nur, dass er mich will. Das ist schließlich nicht zuviel verlangt.
Vielleicht könnte sie ihn wollen, hat sie sich schon überlegt, statt darauf zu warten, dass er sie will. Es gibt in ihr diese andere Person, die zu Pfeif-drauf-Positionen fähig ist, theoretisch jedenfalls. Sein Gesicht nehmen und ihn küssen. Ihn fragen, ob er sie nicht mal küssen will. Oder mit ihr ins Bett, wäre doch allmählich fällig. Sie hat das Repertoire drauf, wie jede, meine Güte, das bisschen Selbstüberwindung, sie hat krassere Mutproben hinter sich. Aber das würde ihr nicht weiterhelfen. Sie wüsste dann immer noch nicht, ob er sie auch von sich aus gewollt hätte. Oder nur deswegen das Gesicht nicht weggedreht hat, weil er sich das nicht traute. Oder aus Höflichkeit. Was ist das für eine Scheißunhöflichkeit, denkt sie. Dass er sie nicht küsst. Dass er nicht sieht, wie sie sich abhampelt. Wie sie vage Abende mit ihm aussitzt. Seine seltsamen Liedermacher anhört. Und dann wieder nichts passiert, nie. Weil er verletzt worden ist, irgendwann. Bitte, wer ist nicht verletzt worden? Oder sie nicht verletzen will. Als ob er sie nicht dauernd verletzen würde mit dieser Tour, sie nicht verletzen zu wollen. Und sich selbst nicht durch sie.
Er küsst sie schließlich doch. Es ist ein Scheißkuss, weil er so verrutscht ist und er sich hinterher entschuldigt. Geht's noch? Das ist fast, als hätte er sie nicht küssen wollen. Nur in einem Anfall geistiger Schwäche. So kann das nichts werden, wenn schon zu Beginn alles so verkorkst ist. Was sagt das eigentlich über sie, dass sie es nicht schafft, so einen Schnulli kein einziges Mal seinen Geist, seinen Schiss, seine Höflichkeitunhöflichkeit vergessen zu lassen? Ist sie wirklich so irgendwie, so garnichts?
Er redet mit ihr darüber, sie mit ihm irgendwann nicht mehr. Schreibt stattdessen über ihn. Irgendso einen 12000-Zeichen-Riemen über junge Frauen, junge Männer, das ewige Gerackere. Es fühlt sich ein wenig schäbig an, aber auch ein wenig gut. Als wäre der eine Tendenz. Und sie an ein Symptom geraten. Verhängnisse sind netter, wenn sie gesellschaftlich sind. Dann fällt ihr ein, das bringt ihr auch keine Zeit. Sie wird nicht jünger. Es müsste allmählich mal losgehen. Tut es nicht und nicht und nicht.