51. 441 Tage.
TAGSÜBER will sie weg. Sie stellt sich an die Tür, bringt die Schuhe, zieht sich die Mütze über den Kopf. Wenigstens ins Treppenhaus, die Treppen hoch bis zum Dachboden, das kann sie jetzt. Wenn einer von uns geht, will sie mit, sie weint, wenn sie mit dem anderen dableiben muss, man hört sie noch zwei Etagen tiefer und wird schneller, um ihrem Weinen zu entkommen, verbietet sich das Umkehren, weil sie dann zweimal weinen müsste. ¶ Sie schiebt ihr Essen weg, will stattdessen meines haben, selbst wenn es dasselbe ist, nicht mehr das Vorgeschnittene, sie will selbst schneiden, mit meinem Messer, sie mag meine Gabel, nicht ihre Kindergabel, will aus meinem Glas trinken, den Blutorangensaft, sogar den koffeinfreien Kaffee, den es immer noch gibt, obwohl O. längst nicht mehr stillt, für die Kaffeegier nachts, damit wir nicht senkrecht im Bett stehen, obwohl wir schlafen könnten, sobald man ein Baby hat, teilt man sich das Schlafen ein, es ist eine knappe Ressource, da leistet man sich keinen Leichtsinn. Sie hat nichts gegen Bitteres, die Zeit, in der jeder neue Geschmack in ihren Körper fuhr wie ein elektrischer Schlag, ist vorbei, sie ist bedächtiger geworden, schmeckt den Geschmäckern nach, strampelt nicht mehr, wenn etwas süß, neu ist. Sie denkt nach jetzt, jedenfalls sieht es so aus, dann will sie noch eine Gabel, noch einen Löffel, oder nichts mehr, falls es nichts für sie ist, erstaunlich oft aber dringend genau das, von dem ich dachte, dass es einem kleinen Kind ganz sicher nicht schmeckt. ¶ Sie hat begonnen, Werkzeuge zu verwenden. Wenn sie merkt, dass sie zu klein ist, um sich die Dinge auf dem Tisch greifen zu können, schiebt sie sich ein Podest herbei, auf das sie klettert, dann schafft sie es. Das wichtigste ihrer Werkzeuge ist meine Hand. Wenn sie mit ihrer eigenen Hand nicht tief genug in meine Hosentasche kommt, nimmt sie meine und schiebt sie in Richtung meiner Hosentasche, ich soll für sie hinein und ihr geben, was sie darin vermutet. ¶ Sie hat sich von uns abgeschaut, wie man einen iPad oder ein iPhone benützt, sie legt zwei Finger auf die Schiebereglersimulation, schiebt sie nach rechts, macht sich die Apps auf. Lange war es nur das Wimmelbuch: drei Tableaus, auf denen man Menschen und Tiere antippen und in Handlungen ausbrechen lassen kann, ein Schwein pupst einem Lamm in die Nase, ein Krokodil guckt unter einem Gullydeckel hervor, ein Hund zieht einen Mann über die Straße. Sie entwickelte schnell Vorlieben. Sie mochte das Pupsschwein und den Trompete spielenden Teddybär, sie patschte oft auf das Bett, in dem ein Baby schlief, das zu heulen begann, wenn es angestupst wurde, bis eine Frau kam und es tröstete, indem sie das Mobile über dem Babybett in Bewegung setzte. Immer wieder stupste sie genau das an, setzte die Sequenz von Weinen und Trösten in Gang. ¶ Ohnehin hatte sie damit begonnen, sich für Babys zu interessieren. Sobald eines im Fernsehen schrie, unterbrach sie sich und schaute gespannt hin, wenn in ihrer Gegenwart andere Babys heulten, streichelte sie ihnen über den Kopf, eieiei, sagte sie, so wie ich eieiei sagte, wenn ich sie streichelte, um sie zu trösten. Es gab also schon Lebewesen, von denen sie dachte, sie seien wie sie, von derselben Art und derselben Bedürftigkeit, es rührte mich, wie sehr sie sich um ihre Leute kümmerte. Manchmal sah sie uns an, wenn sie ein Baby heulen hörte, tut doch was, was hat es denn, schien das zu bedeuten. ¶ Sie schien viel zu sagen. Dabei konnte sie gerade erst fünf Wörter, die ich als Wörter identifieren konnte, nei, ei, hai, Mam und Bab, meistens kamen sie in Wiederholungen, neineinei oder Mamamam oder Babab. Nei, ihr allererstes Wort, bedeutete "nein", eieiei war das Trost- und Liebkosungswort, hai war ein Gruß, Mam war ihre Mutter, Bab war ich. Alles andere sagte sie, indem sie zeigte, indem sie Mams oder meine Hand nahm, indem sie etwas brachte und es einem auf den Schoß legte, indem sie mich zu ihren Büchern, in unser Bett, zu ihrem Bobbycar lotste und mich dann auffordernd ansah. Zum Beispiel wollte sie unaufschiebbar ausgezogen werden, sie legte meine Hand auf ihre Schuhe, wenn ich sie wegzog, nahm sie die Hand von Neuem, bis ich ihr den Gefallen tat, danach musste ich ihr die Socken und danach die Hose ausziehen, bis ihre Beine endlich nackt waren, sie saß da und lachte, schaute ihre Füße an, hampelte vor Vergnügen, nahm die Füße in ihre Hände, streckte mir ihre Füße entgegen, man merkte, wie glücklich sie das machte. Sie verstand immer mehr von dem, was man sagte, es fiel uns meistens nur zufällig auf, plötzlich patschte sie sich auf ihren Bauch, nachdem jemand von uns "Bauch" gesagt hatte, wir vergewisserten uns, dass wir uns das nicht bloß einbildeten, wo ist dein Esel, fragten wir, sie ging ins Nebenzimmer und kam mit ihrem Stoffesel zurück. ¶ Bald hatte sie nicht mehr nur auf die Wimmelbuch-App Lust und begann, reihum die Apps anzustupsen. Bei manchen landete sie immer wieder, bei den Rezepten eines italienischen Kochs, die ich für O. heruntergeladen hatte, oder bei der FM4-App, die einen Wiener Radiosender übertrug, zwei, drei Sekunden, dann setzte Indierock oder Hiphop oder elektronische Musik ein, sie tanzte dazu, wie sie zu fast jeder Musik sofort zu tanzen begann, sich wiegte, wippte, lachte. Ich hatte keine Ahnung, warum sie nie Facebook, den New Yorker, das Mailprogramm oder die NPR-App öffnete, aber immer wieder den FM4-Stream, vielleicht lag es daran, dass die App ungefähr auf der Mitte des Screens lag, vielleicht zog das leuchtgelbe Icon sie an, ich nahm mir vor, die App zu verschieben, um es herauszufinden, und tat es doch nicht, warum sollte ich ihr einen Spaß verderben. ¶ Auf dem iPhone, dessen Ähnlichkeit mit dem iPad ihr sofort klar gewesen war, schaffte sie es, die Foto-App zu öffnen und sich aus den Fotos die Videos zu picken, die man daran erkannte, dass auf den Miniaturansichten Pfeilsymbole zu sehen waren. Sie tippte eine Miniaturansicht und dann den Startpfeil an, das Video ging los, auf dem sie immer sich selbst zu sehen bekam, andere Videos habe ich nie gemacht. 10, 20, 30 Sekunden lang konnte man dabei zusehen, wie sie durch die Küche stapfte oder auf dem Sofa saß und lächelte oder nach dem iPhone griff, mit dem ich sie gerade aufnahm. Jedes Mal, wenn sie sich auf einem dieser Videos sah, patschte sie sich aufgeregt auf die Brust, es war ihr Ich-Zeichen, dasselbe, das sie auch machte, wenn man "wo ist Fanny?" fragte. ¶ Sie beschäftigte sich mit Büchern, ihren eigenen und immer häufiger unseren, obwohl es in ihnen keine Bilder, nur Buchstaben gab, sie holte sich aus dem Regal einen Frisch, einen Proust oder irgendeinen anderen der Bände aus den unteren beiden Reihen, setzte sich in die Kuschelecke, die wir ihr eingerichtet hatten (eine Schaffelldecke nahe der Heizung, ein paar Stofftiere, eine kleine Bilderbuchbibliothek), und blätterte in ihnen, manchmal sah es so aus, als läse sie in ihnen, hin und wieder stellte ich mir vor, dass sie es tatsächlich konnte und darüber nur noch nicht Auskunft zu geben verstand, aber ich wusste, dass diese Vorstellung mit einer Geschichte zu tun hatte, die ich seit Jahren schreiben will und für die ich noch nicht die richtige Form gefunden habe, die Geschichte, die davon erzählt, wie ich, von den Ohrfeigen meiner Mutter angetrieben, das Lesen gelernt habe, um dann beim Lesen, eigentlich durch das Zusammenkauern, die Verkapselung meines Kinderkörpers über den Büchern gleichsam so unsichtbar zu werden, dass nichts mehr an mir Anlass für Ohrfeigen war, und die damit verbundene Erleichterung den Büchern, später der Literatur gutschrieb, bis ich, als es schon viel zu spät war, begriff, dass ich Bücher nur dafür zu lieben begonnen hatte, weil sie mir Schläge ersparten und nun nicht mehr weiß, was ich von dieser Liebe zu den Büchern und der Literatur halten soll, denn oft genug bin ich noch dieses nach innen gekehrte fünf-, sechs-, siebenjährige Kind, das sich in einer Ecke über ein Buch kauert, um in Ruhe gelassen zu werden, aber was hätte ich ohne die Bücher getan? ¶ Nur noch selten kam es vor, dass sie die Bücher bloß aus den Regalen zog, um dann nichts weiter mit ihnen anzufangen, monatelang hatte das zu ihren größten Vergnügen gehört, sie krabbelte (damals krabbelte sie noch) durch die Wohnung, zog sich an den Regalbrettern hoch und riss Bücher aus den Fächern, es sah aus, als hätte sie eine Bücherspur auslegen wollen. In der Küche zog sie die Schubladen auf und verteilte Backformen, Teigquirle, Schüsseln auf dem Boden, im Schlafzimmer brauchte sie keine zwei Minuten, um die Kommode auszuräumen, es begeisterte mich immer wieder, wie schnell es ihr gelang, die Wohnung zu verwüsten. ¶ In den letzten Wochen ist sie ein wenig ruhiger geworden, der Furor des Ausräumens überkommt sie nicht mehr so oft. Ihr Vergnügen braucht nicht mehr so große Territorien. Sie sitzt da und schraubt einer Cremetube den Deckel ab. Sie zieht ihren Stoffesel aus und versucht, ihn wieder anzuziehen, bis sie schließlich meine Hand nimmt, ich soll es für sie tun. Sie rührt mit dem Schneebesen, dem Kochlöffel in einer Schüssel. Sie sitzt auf ihrer Schaffelldecke und sieht sich Bücher an (nicht, denke ich, lass dir doch Zeit), sie holt ihre Schuhe und stellt sich an die Türe (bald, denke ich, ich helf' dir, aus deiner Kindheit loszukommen). ¶ NACHTS ist sie jetzt wieder so zart wie in ihren ersten Wochen, sie will ganz nah bei uns liegen, bei dem Körper, der ihr durch die Nacht hilft, um zwei, drei stupst sie mich wach, dann gebe ich ihr Milch, sie legt sich in meinen Arm und trinkt, ich höre den Geräuschen zu, die sie beim Schlucken macht, und ihrem Kinderatem, zwei, drei Seufzer, dann ist sie weg. ¶ So ist mein Leben jetzt, denke ich, wenn man es jemandem schildern wollte, klänge es langsam, stetig und langweilig. Es soll so weitergehen, denke ich.