vague.

Mittwoch, 1. Februar 2012

51. 441 Tage.

TAGSÜBER will sie weg. Sie stellt sich an die Tür, bringt die Schuhe, zieht sich die Mütze über den Kopf. Wenigstens ins Treppenhaus, die Treppen hoch bis zum Dachboden, das kann sie jetzt. Wenn einer von uns geht, will sie mit, sie weint, wenn sie mit dem anderen dableiben muss, man hört sie noch zwei Etagen tiefer und wird schneller, um ihrem Weinen zu entkommen, verbietet sich das Umkehren, weil sie dann zweimal weinen müsste. ¶ Sie schiebt ihr Essen weg, will stattdessen meines haben, selbst wenn es dasselbe ist, nicht mehr das Vorgeschnittene, sie will selbst schneiden, mit meinem Messer, sie mag meine Gabel, nicht ihre Kindergabel, will aus meinem Glas trinken, den Blutorangensaft, sogar den koffeinfreien Kaffee, den es immer noch gibt, obwohl O. längst nicht mehr stillt, für die Kaffeegier nachts, damit wir nicht senkrecht im Bett stehen, obwohl wir schlafen könnten, sobald man ein Baby hat, teilt man sich das Schlafen ein, es ist eine knappe Ressource, da leistet man sich keinen Leichtsinn. Sie hat nichts gegen Bitteres, die Zeit, in der jeder neue Geschmack in ihren Körper fuhr wie ein elektrischer Schlag, ist vorbei, sie ist bedächtiger geworden, schmeckt den Geschmäckern nach, strampelt nicht mehr, wenn etwas süß, neu ist. Sie denkt nach jetzt, jedenfalls sieht es so aus, dann will sie noch eine Gabel, noch einen Löffel, oder nichts mehr, falls es nichts für sie ist, erstaunlich oft aber dringend genau das, von dem ich dachte, dass es einem kleinen Kind ganz sicher nicht schmeckt. ¶ Sie hat begonnen, Werkzeuge zu verwenden. Wenn sie merkt, dass sie zu klein ist, um sich die Dinge auf dem Tisch greifen zu können, schiebt sie sich ein Podest herbei, auf das sie klettert, dann schafft sie es. Das wichtigste ihrer Werkzeuge ist meine Hand. Wenn sie mit ihrer eigenen Hand nicht tief genug in meine Hosentasche kommt, nimmt sie meine und schiebt sie in Richtung meiner Hosentasche, ich soll für sie hinein und ihr geben, was sie darin vermutet. ¶ Sie hat sich von uns abgeschaut, wie man einen iPad oder ein iPhone benützt, sie legt zwei Finger auf die Schiebereglersimulation, schiebt sie nach rechts, macht sich die Apps auf. Lange war es nur das Wimmelbuch: drei Tableaus, auf denen man Menschen und Tiere antippen und in Handlungen ausbrechen lassen kann, ein Schwein pupst einem Lamm in die Nase, ein Krokodil guckt unter einem Gullydeckel hervor, ein Hund zieht einen Mann über die Straße. Sie entwickelte schnell Vorlieben. Sie mochte das Pupsschwein und den Trompete spielenden Teddybär, sie patschte oft auf das Bett, in dem ein Baby schlief, das zu heulen begann, wenn es angestupst wurde, bis eine Frau kam und es tröstete, indem sie das Mobile über dem Babybett in Bewegung setzte. Immer wieder stupste sie genau das an, setzte die Sequenz von Weinen und Trösten in Gang. ¶ Ohnehin hatte sie damit begonnen, sich für Babys zu interessieren. Sobald eines im Fernsehen schrie, unterbrach sie sich und schaute gespannt hin, wenn in ihrer Gegenwart andere Babys heulten, streichelte sie ihnen über den Kopf, eieiei, sagte sie, so wie ich eieiei sagte, wenn ich sie streichelte, um sie zu trösten. Es gab also schon Lebewesen, von denen sie dachte, sie seien wie sie, von derselben Art und derselben Bedürftigkeit, es rührte mich, wie sehr sie sich um ihre Leute kümmerte. Manchmal sah sie uns an, wenn sie ein Baby heulen hörte, tut doch was, was hat es denn, schien das zu bedeuten. ¶ Sie schien viel zu sagen. Dabei konnte sie gerade erst fünf Wörter, die ich als Wörter identifieren konnte, nei, ei, hai, Mam und Bab, meistens kamen sie in Wiederholungen, neineinei oder Mamamam oder Babab. Nei, ihr allererstes Wort, bedeutete "nein", eieiei war das Trost- und Liebkosungswort, hai war ein Gruß, Mam war ihre Mutter, Bab war ich. Alles andere sagte sie, indem sie zeigte, indem sie Mams oder meine Hand nahm, indem sie etwas brachte und es einem auf den Schoß legte, indem sie mich zu ihren Büchern, in unser Bett, zu ihrem Bobbycar lotste und mich dann auffordernd ansah. Zum Beispiel wollte sie unaufschiebbar ausgezogen werden, sie legte meine Hand auf ihre Schuhe, wenn ich sie wegzog, nahm sie die Hand von Neuem, bis ich ihr den Gefallen tat, danach musste ich ihr die Socken und danach die Hose ausziehen, bis ihre Beine endlich nackt waren, sie saß da und lachte, schaute ihre Füße an, hampelte vor Vergnügen, nahm die Füße in ihre Hände, streckte mir ihre Füße entgegen, man merkte, wie glücklich sie das machte. Sie verstand immer mehr von dem, was man sagte, es fiel uns meistens nur zufällig auf, plötzlich patschte sie sich auf ihren Bauch, nachdem jemand von uns "Bauch" gesagt hatte, wir vergewisserten uns, dass wir uns das nicht bloß einbildeten, wo ist dein Esel, fragten wir, sie ging ins Nebenzimmer und kam mit ihrem Stoffesel zurück. ¶ Bald hatte sie nicht mehr nur auf die Wimmelbuch-App Lust und begann, reihum die Apps anzustupsen. Bei manchen landete sie immer wieder, bei den Rezepten eines italienischen Kochs, die ich für O. heruntergeladen hatte, oder bei der FM4-App, die einen Wiener Radiosender übertrug, zwei, drei Sekunden, dann setzte Indierock oder Hiphop oder elektronische Musik ein, sie tanzte dazu, wie sie zu fast jeder Musik sofort zu tanzen begann, sich wiegte, wippte, lachte. Ich hatte keine Ahnung, warum sie nie Facebook, den New Yorker, das Mailprogramm oder die NPR-App öffnete, aber immer wieder den FM4-Stream, vielleicht lag es daran, dass die App ungefähr auf der Mitte des Screens lag, vielleicht zog das leuchtgelbe Icon sie an, ich nahm mir vor, die App zu verschieben, um es herauszufinden, und tat es doch nicht, warum sollte ich ihr einen Spaß verderben. ¶ Auf dem iPhone, dessen Ähnlichkeit mit dem iPad ihr sofort klar gewesen war, schaffte sie es, die Foto-App zu öffnen und sich aus den Fotos die Videos zu picken, die man daran erkannte, dass auf den Miniaturansichten Pfeilsymbole zu sehen waren. Sie tippte eine Miniaturansicht und dann den Startpfeil an, das Video ging los, auf dem sie immer sich selbst zu sehen bekam, andere Videos habe ich nie gemacht. 10, 20, 30 Sekunden lang konnte man dabei zusehen, wie sie durch die Küche stapfte oder auf dem Sofa saß und lächelte oder nach dem iPhone griff, mit dem ich sie gerade aufnahm. Jedes Mal, wenn sie sich auf einem dieser Videos sah, patschte sie sich aufgeregt auf die Brust, es war ihr Ich-Zeichen, dasselbe, das sie auch machte, wenn man "wo ist Fanny?" fragte. ¶ Sie beschäftigte sich mit Büchern, ihren eigenen und immer häufiger unseren, obwohl es in ihnen keine Bilder, nur Buchstaben gab, sie holte sich aus dem Regal einen Frisch, einen Proust oder irgendeinen anderen der Bände aus den unteren beiden Reihen, setzte sich in die Kuschelecke, die wir ihr eingerichtet hatten (eine Schaffelldecke nahe der Heizung, ein paar Stofftiere, eine kleine Bilderbuchbibliothek), und blätterte in ihnen, manchmal sah es so aus, als läse sie in ihnen, hin und wieder stellte ich mir vor, dass sie es tatsächlich konnte und darüber nur noch nicht Auskunft zu geben verstand, aber ich wusste, dass diese Vorstellung mit einer Geschichte zu tun hatte, die ich seit Jahren schreiben will und für die ich noch nicht die richtige Form gefunden habe, die Geschichte, die davon erzählt, wie ich, von den Ohrfeigen meiner Mutter angetrieben, das Lesen gelernt habe, um dann beim Lesen, eigentlich durch das Zusammenkauern, die Verkapselung meines Kinderkörpers über den Büchern gleichsam so unsichtbar zu werden, dass nichts mehr an mir Anlass für Ohrfeigen war, und die damit verbundene Erleichterung den Büchern, später der Literatur gutschrieb, bis ich, als es schon viel zu spät war, begriff, dass ich Bücher nur dafür zu lieben begonnen hatte, weil sie mir Schläge ersparten und nun nicht mehr weiß, was ich von dieser Liebe zu den Büchern und der Literatur halten soll, denn oft genug bin ich noch dieses nach innen gekehrte fünf-, sechs-, siebenjährige Kind, das sich in einer Ecke über ein Buch kauert, um in Ruhe gelassen zu werden, aber was hätte ich ohne die Bücher getan? ¶ Nur noch selten kam es vor, dass sie die Bücher bloß aus den Regalen zog, um dann nichts weiter mit ihnen anzufangen, monatelang hatte das zu ihren größten Vergnügen gehört, sie krabbelte (damals krabbelte sie noch) durch die Wohnung, zog sich an den Regalbrettern hoch und riss Bücher aus den Fächern, es sah aus, als hätte sie eine Bücherspur auslegen wollen. In der Küche zog sie die Schubladen auf und verteilte Backformen, Teigquirle, Schüsseln auf dem Boden, im Schlafzimmer brauchte sie keine zwei Minuten, um die Kommode auszuräumen, es begeisterte mich immer wieder, wie schnell es ihr gelang, die Wohnung zu verwüsten. ¶ In den letzten Wochen ist sie ein wenig ruhiger geworden, der Furor des Ausräumens überkommt sie nicht mehr so oft. Ihr Vergnügen braucht nicht mehr so große Territorien. Sie sitzt da und schraubt einer Cremetube den Deckel ab. Sie zieht ihren Stoffesel aus und versucht, ihn wieder anzuziehen, bis sie schließlich meine Hand nimmt, ich soll es für sie tun. Sie rührt mit dem Schneebesen, dem Kochlöffel in einer Schüssel. Sie sitzt auf ihrer Schaffelldecke und sieht sich Bücher an (nicht, denke ich, lass dir doch Zeit), sie holt ihre Schuhe und stellt sich an die Türe (bald, denke ich, ich helf' dir, aus deiner Kindheit loszukommen). ¶ NACHTS ist sie jetzt wieder so zart wie in ihren ersten Wochen, sie will ganz nah bei uns liegen, bei dem Körper, der ihr durch die Nacht hilft, um zwei, drei stupst sie mich wach, dann gebe ich ihr Milch, sie legt sich in meinen Arm und trinkt, ich höre den Geräuschen zu, die sie beim Schlucken macht, und ihrem Kinderatem, zwei, drei Seufzer, dann ist sie weg. ¶ So ist mein Leben jetzt, denke ich, wenn man es jemandem schildern wollte, klänge es langsam, stetig und langweilig. Es soll so weitergehen, denke ich.

49. Kosmische Kuriere.

"Hast Du nicht Lust", schrieb die Kaiser-Partnerin Gille Lettmann am 28. Juli an Klaus Schulze. "Dich mal in Afghanistan zu erholen? Es tut Dir nach Eurer Aufregung in den letzten Wochen sicherlich gut."
         Quelle: Spiegel 40/1973 > Prinzip der Freude

Montag, 30. Januar 2012

48. and boy was he weird. Michael Bloomfield. You know, “Michael” is a Jewish word for “crazy” .

Ein Foto des Gitarristen Mike Bloomfield. Im Februar 1981 findet man seine Leiche in einem Auto in San Francisco, er ist an einer Überdosis Heroin gestorben. Auf den Fotos und den Videos, die man im Netz findet, sieht er oft aus, wie Menschen nach schönem Sex aussehen, so durchlässig irgendwie. Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen kann, verirre ich mich stundenlang auf YouTube, schau mir Musiker aus der Zeit an, in der sie noch nicht für Kameras Musik machten, es sind andere Körper, andere Gesichter, denke ich oft, selbstvergessen würde man heute sagen, aber das ist ein Irrtum, glaube ich, das Gegenteil ist wahr, sobald man für eine Kamera aussehen muss, ist man sich selbst viel eher los als wenn man die Musik in sich ein- und wieder aus dem Körper herausfahren lässt, & oft genug nehme ich mir vor, selber so einen YouTube-Kanal aufzumachen, mit lauter Videos, auf denen man Musikern zusieht, die nicht für ein Video sind, sondern ganz bei sich, aber dann denke ich gleich wieder, was fürn Scheiß, was hätte man davon.


Sonntag, 29. Januar 2012

47. Fountain of youth.

Der Körper, der ich jetzt bin, ist ein seltsamer Remix des Körpers, der ich vor achtzehn, zwanzig, zweiundzwanzig Jahren gewesen bin, ein Haufen Müdigkeit, ein Schleimbehälter, eine Kreuzung aus Alarmanlage und schlaffem Sack. Es ist das Kind, das mich so macht, während es sein Immunsystem einrichtet, grätscht es meinem ins Funktionieren, das geht jetzt wieder ein paar Jahre so.

46. Gabbagabbagabbahey.

Drei Uhr morgens, ich stehe auf dem Balkon und rauche (in den letzten zwei Jahren vielleicht ein halbes Dutzend Mal in geschlossenen Räumen geraucht, aussterbende Erfahrung), unten auf der Straße gehen zwei junge Männer vorbei, einer sagt hundert Millionen Menschen, sofort denke ich: so wäre ich auch gerne mal wieder drauf.

45. Chronik.

Als ich auf Phoenix die Bilder vom Neujahrsempfang des Bundespräsidenten für das diplomatische Corps sah, fiel mir wieder ein, dass auch ich schon einmal ins Bellevue eingeladen worden war, zur Vorstellung eines Kochbuchs, das die Frau Roman Herzogs verfasst hatte, im selben Jahr erschienen wie das Kochbuch der Frau Helmut Kohls. Ich schrieb eine Doppelbesprechung, Titel: Im Archipel Gulasch.

43. Zug um Zug

In der Taz erzählt ein Mann von seiner Zugfahrt nach Frankfurt. Es sitzen auch andere da. Er hasst sie, sie müssen nichts tun dafür, es reicht, dass sie da sind. Es geht um Frischluft, darum, dass er nicht in Ruhe sein Bier, dass er nicht mit solchen Leuten auf dem selben Territorium sein will. Heimatschutz. ¶ Ingo Schulzes 13 Thesen über den Kapitalismus. Es ist keine einzige These im Text, aber sie musste dringend raus. ¶ Wulff-Updates. ¶ Wirtschaftsverband gegen bezahlte Rauchpausen während der Arbeitszeit. Schließung der Gerechtigkeitslücken, wie kommt der Nichtraucher dazu. ¶ In Tschechien hat der Mann der ehemaligen Ministerpräsidentin der Ukraine um politisches Asyl gebeten, Kasachstan: Wahlen mit dem erklärten Ziel, dass hinterher mindestens zwei Parteien im Parlament sitzen, Frankreich: der Spitzenkandidat der Sozialisten wirft Sarkozy vor, er habe zugelassen, dass Frankreich hinter Deutschland zurückfalle (Probleme des zeitgenössischen Sozialismus), Österreich: die Sozialdemokratie erwägt, jeder muss jetzt sparen, in Fällen von Kündigungen durch den Arbeitgeber den Gekündigten das Arbeitslosengeld um eine Woche zu kürzen, die Innenministerin dagegen, die den Christlichsozialen angehört, warnt vor »Ankerkindern«, Flüchtlingssimulanten, die von ihren Familien vorgeschickt würden, um das Mitleid der kinderlieben Österreicher auszunützen und sie um einen Aufenthaltsstatus zu erweichen, um anschließend die Großfamilie nachzuholen. ¶ Die SPD-Presseschau: Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) hat die Rettung der Musikszene zur Chefsache erklärt und die Gründung eines Musicboards angekündigt. "Damit schaffen wir eine Lobby für die gesamte Musikbranche, und dazu gehören auch die Klubs", sagte Senatssprecher Richard Meng am Sonntag.


Dienstag, 10. Januar 2012
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