vague.

93.

Wenn sie bei der Pizza plötzlich fragt, ob das Christuskind tot ist, & ich ja sage, & sie wissen will, warum, & ich sage, dass alle tot sind, die vor 2000 Jahren gelebt haben, weil niemand so lange lebt, & sie fragt, warum es gestorben ist, und mir nichts anderes einfällt als zu sagen, es hätte einen Unfall gehabt (weil sie Unfall versteht, aber das Menschentöten noch nicht), & sie fragt, was für einen Unfall, und ich mit einem Baum sage, & sie sich aber keine Baumunfälle vorstellen kann, ich glaube, weil sie in diesem Augenblick Angst davor bekam, selbst einen Baumunfall zu haben (oder Mama oder ich), & sie fragt, ob es geblutet hat, & ich ja sage, & sie fragt, wo es geblutet hat, & ich an den Händen und an den Füßen sage (der Moment, in dem man lernt, was eine Kreuzigung ist, hau ab, blöde Welt, jetzt noch nicht), & sage, dass es aber im Himmel ist, & sie fragt, ob alle in den Himmel kommen, & ich ja sage, alle, & sie fragt, ob Lulu auch (die Katze in Brooklyn im letzten Sommer) und Mamas Hund und meine Katze, die wir als Kinder gehabt und von denen wir ihr manchmal erzählen müssen, & ich ja sage (und mir vornehme, nachzuschlagen, was die Theologie dazu sagt, obwohl mir scheißegal ist, was die Theologie sagt), & sie dann erzählt, wie ihre Tiere gestorben sind, die Tiere, die sie sich in diesem Augenblick ausdenkt, gegen Bäume gelaufen, sagt sie, gestürzt, & dann sind sie gestorben, & dann sagt, dass sie aber nicht will, dass irgendjemand tot ist, & wissen will, warum alle tot sind, & ich sage, dass es sonst keinen Platz mehr gäbe, zu viele Menschen (was für ein Scheißargument), aber dass alle ja im Himmel seien & später einander wieder sehen und Parties miteinander feiern könnten, alle, fragt sie, alle, sage ich, & dann essen wir weiter, aber heute Morgen hat sie wieder nach dem Christuskind gefragt, ob es wirklich tot sei, & ich frage, warum sie denn vom Christuskind redet, wer ihr vom Christuskind denn erzählt hat (wir nicht, wir glauben an nichts, nichts, nichts, an die Liebe & das Kuscheln & Festhalten & die Picknicks und die Parties mit den Tieren & allenallenallen), & sie dann sagt: weil es doch die Geschenke bringt, du Blödmann, & ich, ein wenig erleichtert, sage, dass sie ihre Geschenke immer bekommen wird, alle Jahre wieder ---

--- & what would Dawkins do?, oder Hitch?, oder irgendeiner der anderen Atheismus-Champs? Das war so ein Mensch, von dem manche Leute glaubten, er wäre ein Gott, war er aber nicht, weil es das nicht gibt, und der an ein Kreuz geschlagen wurde, aber lass mal, ist nicht so wichtig,

--- dieser Irrsinn manchmal, wenn wir an Stolpersteinen vorbeikommen, ob die tot sind, fragt sie, ja, sage ich, warum, ich weiß nicht, sage ich, das ist nur halb gelogen, weil ich es ja tatsächlich in den Details nicht weiß, & sie dann achtgibt, nicht auf die Stolpersteine zu treten oder einmal einen putzen wollte, weil da Dreck drauf lag, & mir natürlich wieder einfiel, wie viele in ihrem Alter aus den Häusern verschleppt worden sind,

& und du auch?, wollte sie wissen, und Mama auch?, ob wir auch einmal tot seien, & ich sie fragte, ob sie noch ein zweites Stück Pizza wolle, Pizza, jubelte sie, lecka, mit dieser Euphorie, die ich nicht mehr schaffe, bei keinem einzigen Wort

& heute morgen, ehe sie sich wieder nach dem Christuskind erkundigte, lag sie noch bei ihrer Mama, das letzte Kuscheln, ehe es wieder in die Kita ging, beschloss, Paddington einen Brief zu schicken & schrieb mit den Zeigefinger ihrer linken auf die Fläche ihrer rechten Hand, dass Paddington gerne bei uns leben kann, freuen würden wir uns, aber dass er bitte nicht unser Bad kaputt machen und seine Zahnbürste nicht für seine Ohren verwenden soll & dass sie ihm immer Orangenmarmelade kaufen wird & auch einen Regenschirm.

73. So letzter Sommer.

Zwei Wochen Paris, fast nur auf Spielplätzen gewesen. Ein paar in der Nähe unserer Urlaubswohnung hatte ich als Lesezeichen auf der Google Map meines iPhones gespeichert, dankbar, dass man Spielplätze per Navigationssystem ansteuern kann, obwohl es mich wieder und wieder mit dem Kinderwagen in die Steilwandtreppen zum Sacre Coeur hoch schicken wollte. Als mir die Umgehungsschleifen zu lange wurden (die Autofahrerroute, wie ich später bemerkte), nahm ich für das allerletzte Stück doch noch die Stufen, ein paar hundert, kam mir vor, das Kind in seinem Wagen wie in einer Art Sänfte vor mir hertragend. Die anderen Montmartre-Touristen trotteten durch die Kirche, die zur Abbüßung der Verbrechen der Kommunarden errichtet worden war, ich patschte im fast leeren Parc de la Turlure an der Rückseite von Sacre Coeur auf den Knopf eines Wasserspenders. Nochmal, nochmal, nochmal, nochmal, nochmal, nochmal, sagte Fanny, nochmal, nochmal, nochmal. Je mehr sie mich scheuchte, desto schwerer wurde mir die Vergänglichkeit, es war der letzte Sommer, ahnte ich, in dem sie das tat. Ein paar Tage später zündete ich doch noch in der Kirche Kerzen an, zwei große für je zehn Euro, fünf kleine für zwei Euro das Stück, flüsterte Wünsche, die keinen etwas angehen, und dass endlich die Kommune anbreche, nicht nur in Paris.

Ich bin so glücklich gewesen in diesen zwei Wochen. Ich saß auf Spielplatzbänken und in Sandkästen und sah zu, dass Fanny nichts passierte. Ich half ihr Rutschen hoch und applaudierte, wenn sie unten ankam, ich hielt mich bereit, sie aufzufangen, falls sie von der Schaukel fiele, wackeln, sagte sie, wackeln, nochmal. Ich setzte sie in Karussellkutschen, winkte ihr bei jeder Runde zu, nochmal, sagte sie, nochmal. Ich setzte sie bei Monoprix in den Einkaufswagen und überreichte ihr feierlich den Käse, die Nudeln, die Entenrillettes, damit sie alles hinter sich in den Wagen legen konnte, danke, sagte ich und sie lachte. Ich ging mit ihr zum Bäcker an der Ecke, jeden Morgen bekam sie eine Chouquette geschenkt, dake, sagte sie. Ich lag mit ihr im Bett, Trotro, sagte sie, dann sahen wir uns auf meinem Ipad Trotro-Folgen an, sie kannte sie alle so gut, dass sie wusste, was gleich geschehen würde. Aua, sagte sie ein paar Augenblicke, ehe das Fahrrad Trotros zerbrach, Papa, sagte sie, und ein paar Sekunden später kam Trotros Vater mit Blumen nach Hause, Nana, sagte sie, schon saß Nana im Sandkasten, und Trotro, der ein wenig verliebt ist, tanzte für sie. Manchmal spielte sie nach, was sie sah. Dann warf sie den Puppenwagen Louises um, des Mädchens, deren Spielzeug sie für zwei Wochen übernommen hatte, und sich selbst neben ihn auf den Boden - der Fahrradunfall, den sie gerade gesehen hatte. Oder sie tanzte, wie Trotro vor Nana tanzte, drehte sich und ließ sich fallen, so wie Trotro vor Nana in den Sand fiel, weil er, um sie zu beeindrucken, die Tänze, die sein Papa und seine Mama ihm beigebracht hatten, zu einem einzigen kombinierte, nicht mit dem Schwindel rechnend, der ihn dabei überkam. Sie versteht jetzt Geschichten, dachte ich, und wie jedes Mal, wenn ich bemerke, dass sie plötzlich etwas Neues kann, ohne dass es ihr jemand beigebracht hätte, tat mir mein Glücklichsein fast weh, ein Schmerz, von dem ich mir oft einrede, dass ich ihn nicht verstehe, obwohl ich weiß, wo er herkommt; ein Kind zu lieben, verlangt, es so weit zu bringen, dass es einen irgendwann verlassen kann. Aber das wird zu sentimental jetzt.

Abends saßen wir zusammen und aßen frische Baguette, Käse, weiße Pfirsiche, auf dem Eurosportplayer liefen die Olympischen Spiele mit französischem Kommentar, dann legte ich mich zu ihr ins Bett, bis sie einschlief. Ich erzählte ihr Geschichten, Arm, sagte sie, weil sie in meinen Arm wollte, manchmal begann sie noch zu reden, Erzählungen zusammengesetzt aus den vielleicht 60, 80, 100 Wörtern, die sie jetzt kennt, Anni Rutsche, sagte sie, weil sie das F in ihrem Namen noch nicht aussprechen kann, oder Hops Hops. Ich hörte ihrem Atmen und den Geräuschen zu, die sie beim Trinken machte, dann war sie weg. Wenn ich eine halbe Stunde später nach ihr sah, hatte sie sich meistens um 90 Grad gedreht, manchmal hörten wir im Nebenzimmer, wie sie träumte, Bär, sagte sie, oder sie lachte im Schlaf.

Jeden Tag sah ich im Internet nach, ob sich Assad sich noch hielt und ob sie beschlossen hatten, Griechenland endgültig fertig zu machen (als erstes würden sie die Grenzen absperren, bildete ich mir ein). Es tat sich nicht viel, auch die Politiker waren in den Ferien. So dringend waren ihre Geschäfte auch wieder nicht, als dass sie sich nicht ein wenig Zeit zum Durchschnaufen nehmen konnten, sie würden es im Winter machen, sagte ich mir.

Doch in Wahrheit dachte ich nicht mehr sehr oft darüber nach,

es war wie immer, wenn sie lange genug über die Punkte auf ihren To-Do-Listen geredet hatten, Griechenland, Syrien, Vorhäute, fiel mir auf, wie völlig egal es war, was ich dachte, ob ich überhaupt etwas dachte,

eine Art moralischer Ermüdungsbruch,

vielleicht war es ihre Taktik, einen so lange zu beschallen, bis man nicht mehr konnte, und das war der Punkt, an dem sie loslegen konnten, weil man schon längst alle Dagegenseingefühle verbraucht hatte. Macht doch euren Kram, wenn er euch so wichtig ist, dachte man, vielleicht gebt ihr dann endlich Ruhe.

Ohnehin hielt das Kind uns in Trab, wollte rutschen statt mit Louises Spielzeug zu spielen, während ich mit dem Laptop auf dem Schoß daneben saß und irgendwelche Söder-Meldungen las. Rutsche, sagte sie, Rutsche, Rutsche. Ich packte meine Tasche, setzte sie in den Buggy und fuhr sie zum Square Léon Serpollet, wo es einen Spielplatz auf zwei Ebenen gab, dazwischen lag ein Garten mit Kräutern, Lavendel, Disteln, struppige südfranzösische Vegetation, erst in diesem Sommer habe ich durch das Kind bemerkt, wie viele solcher Lehr-Gärten es in Paris gibt, neben dem Le Bal wuchsen sogar wilde Himbeeren. Jenseits der Umzäunungen lag eine Stadt, von der ich kaum etwas mitbekam, am ehesten noch den Rhythmus von Parisern, die Kinder hatten und im Sommer nicht ans Meer gefahren waren. Abends um sechs, halb sieben kamen Väter von der Arbeit, mit Baguettes unterm Arm, die sie für das Abendessen gekauft hatten, spielten noch eine halbe Stunde, Stunde mit den Kindern, ehe alle nach Hause abzogen. Tagsüber fast nur Frauen, viele Nannies, manchmal Mütter von Großfamilien, Immigrantinnen aus dem Maghreb mit vier, fünf, sechs Kindern, lachende Pulks, Tüten voller Sandförmchen, unfassbar schöne Gewänder. Sonst hatte ich nicht genug davon bekommen können, stundenlang durch die Stadt zu gehen, war oft nachts noch losgezogen, ohne Ziel, bis ich nicht mehr konnte; jetzt tat ich kaum etwas anderes, als das Kind zu behüten.

Nicht aufhören, dachte ich idiotischerweise, es war ja absehbar, wie bald es wieder aufhören würde, sah uns schon wieder in Berlin mit Wintergesichtern, ein halbes Jahr Depression, mit einem Kind noch schwerer erträglich, sie hatten oft genug erzählt, wie schwer es ihnen im Winter fiel, die Kinder bei Laune zu halten, wurden immer wilder, gingen aufeinander los vor lauter Langeweile, sie kamen kaum an dagegen, die Großen gegen die Kleinen, die sich nicht wehren konnten, im Weg standen, umgeschmissen wurden, Pläne, die Kita so umzubauen, dass eine Art Pufferraum zwischen den Sechsjährigen und den Zweijährigen lag, bis endlich wieder die Sonne schien und alle wieder hinauskonnten, ein Pulk lachender Kinder,

mochte, wie sie in Paris Kinder zu mögen schienen, nichts Besonderes, nur dass jedes Mal, wenn wir mit dem Kind unterwegs waren, jemand es anlächelte, beflirtete, grüßte, gleich am ersten Tag hatten sich im Treppenhaus die Nachbarn begeistert, wie heißt du denn, Fanny sagte ich, ah! Fanny, sagte die alte Dame, ich bin Françoise und das ist Cem, wann hatte sich in Berlin je jemand beim Kind namentlich vorgestellt? So ging das zwei Wochen, und ich vergaß, wie in Berlin immer zwei, drei dabei waren, die ihre Genervtheit signalisierten, Augenrollen, Lippenspannung, Mikrobewegungen, die man dennoch nie übersah, wenn man mit dem Kinderwagen in ein Restaurant kam, Präventivbelästigtheit, weil das Kind weinen könnte, es genügte, dass zwei, drei das machten, damit man sich unerwünscht vorkam. In Paris kein einziger, nicht einmal in den Bussen, berührten das Kind, ein Betrunkener, der eben noch zeternd hinter seiner Frau hergelaufen war, blieb stehen, lachte und malte ihr mit seinen Fingern etwas auf den Kopf, ein Kreuz, einen Stern, irgendein Schutzzeichen, in der Mont Cenis ein alter Vietnamese, der in die Tasche griff und ein Bonbon für sie hervorzog und ihr auf der flachen Hand präsentierte. Wenn du ein alter Mann bist, schwor ich mir, hast du immer Bonbons für die Kinder dabei.

In der Wohnung ein Buch über Kindererziehung, ich las mich in das Kapitel über Zweijährige hinein, "wenn Sie sich dabei beobachten, Ihrem Kind zu häufig zu sagen, dass etwas schmutzig ist, sollten Sie sich prüfen, ob Sie von einem Reinlichkeitszwang befallen sind", ein Abschnitt über Einschlafschwierigkeiten, Sie müssen jetzt mit einigen Ängsten rechnen, mit cauchemars, mit der Angst vor dem Verlust der Freunde, mit peur du noir, Angst vor der Dunkelheit.

Sofort Erleichterung, wie immer, wenn ich den Eindruck hatte, dass jemand Kinder beschreiben, erzählen, verstehen wollte, statt einem zu sagen, wie man sie formen und fürs Leben fit machen könne; der merkwürdige Umstand, der mir irgendwann aufgefallen war, dass wahrscheinlich die Hälfte aller Bücher für kleine Kinder auf die eine oder andere Weise vom Einschlafen und Nichteinschlafenkönnen handelt, als wäre das Wichtigste an ihnen, dass sie einschlafen, sich beim Einschlafen nicht allzuviel Zeit lassen, durchschlafen, die ständigen Hinweise, wie wichtig es sei, Rituale und Rhythmen zu schaffen, Fütterungsstunden, Kuschelminuten, gleichbleibende Abläufe, an denen sie erkennen könnten, dass es nun aber wirklich Zeit für sie sei, Programmierung von Tagesabläufen, "Schläft es schon durch?"-Fragen, die irgendwann eingesetzt hatten, rätselhaft, warum das so wichtig war.

[Geschichte der Erziehungsobsessionen. Sauberkeit. Durchschlafen. Synapsenbildung. Solangewiemöglich-Kindheit. Irreparable-Gehirnschäden-Vermeidung. Persönlichkeit. Fluortabletten. Aufmerksamkeitsdefizitsyndrombekämpfung. &tc.]

[… sich nicht daran erinnern können, welcher Kleinkindgeneration man selbst angehörte…]

[…Geschichte der Wahrnehmungsstörungen von Erwachsenen, Kinder betreffend…]

[erwachsen werden: lernen, ein Langeweiler zu werden]

[Stillsitzenlernen]

[Stilllebenlernen]

[dieser Schmerz jetzt, mitten im Glücklichsein. Mag nicht, dass du größer wirst. Mag nicht, dass du auf diese Weise größer werden musst wie die Großen, ich inklusive, sich das Großsein ausgedacht haben.]

[die Rutschen, die es in Paris nicht gab: von denen man ganz zum Schluss ein Stück fallen, sich den Hinterkopf anschlagen kann, falls man nicht rechtzeitig die Beine ausfährt ("genau diesen Bewegungsablauf sollen sie lernen"); auf den Beinen statt auf dem Hintern landen; eine Zweijährige soll da auch noch nicht hinauf; versuchte mir, den Designer dieser Rutschen vorzustellen, an dem Punkt, an dem er der Rutsche noch einen rechten Winkel gibt statt sie sanft in den Sand auslaufen zu lassen, es muss diesen Punkt ja geben, an dem er so eine Gestaltungs-Entscheidung trifft: jetzt baue ich noch einen Abgrund…]

[DIN DIN EN 1176-1 bis 1176-7]

[Geschichte des Spielplatzes]

[Geräte, die nur einen einzigen Gebrauch zulassen wollen, & wie Kinder sich sofort weitere Verwendungen ausdachten, sobald sie verstanden hatten, was das Gerät und die Erwachsenen, die es gestaltet und gebaut hatten, von ihnen wollten: die Rutsche hoch, vor dem Rutschen einen Ball hinunterrollen lassen, nach dem Rutschen applaudieren, sich nach dem Rutschen in den Sand werfen und aua sagen, Ad-Hoc-Maschinen, die sie immer wieder bauen, ständig neue Choreografien; die Erwachsenen, die ihnen dabei zusehen und nicht wissen, ob sie bloß zusehen oder eingreifen sollen, "eine Rutsche ist zum Rutschen da", "das andere Mädchen will auch rutschen"; auf dem Eurosportplayer dagegen, auf dem die Olympischen Spiele liefen: lauter Menschen, die den einen einzigen Bewegungsablauf raus hatten, Körper, die an ihn angepasst, für ihn optimiert worden waren; der irre Moment meiner Kindheit, in dem es plötzlich den Fosbury-Flop gab, die Aufregung damals, das geht?, ist das erlaubt?; wahrscheinlich sind deswegen die Paralympics so viel besser als die Olympics: lauter Menschen mit unterschiedlichen Tricks statt alle mit demselben. Manchmal Gedankenexperimente, wie die Welt wäre, wenn von Kinder-Bewusstsein mehr übrig bliebe: Hundertmeter-Läufer, die zu tanzen beginnen, stehenbleiben und sich umsehen, zu krabbeln versuchen, gleich noch einmal rennen wollen; das geht doch nicht… ]

[… meine Begeisterungen noch immer, wenn ich Kindern zusehe: wie groß ist das denn alles!, die Augenblicke immer wieder, in denen ich denke, wie großartig sie sind, alle paar Tage ein neuer Trick, eine neue Methode, neue Lust, Wortschatzexplosionen, Charakter, "wie von selbst"; & wie blind es ist, Kleinkinder als langweilig abzutun, wir: die den ganzen Tag, jeden Tag dasselbe tun, reden, denken, empfinden;]

["Das kann doch jedes Kind". – Aber ich nicht mehr.]

[Dieses beängstigende Foto gesehen, Schädel eines Kindes, ging herum im Internet, sagte zu Okka: schau dir das an, so sieht es auch bei Fanny aus, und sie ohgottohgottohgottete, will so etwas gar nicht sehen, weil ich es mir dann vorstellen muss, ihr Empathiemitleiden immer, während ich mir das immer so genau wie möglich vorstellen muss, meine Art von Empathie: alles wissen zu wollen; und dann umzurechnen in meine Erwachsenenwelt, die Versuche, mir vorzustellen, wie es mir ginge, wenn ich in einer Welt lebte, in der man mit mir so umginge wie Erwachsene mit Kindern umgehen, "wie das wohl auf Kinder wirkt?", vielleicht deswegen immer wieder diese Erleichterung, wenn ich das Gefühl habe, dass jemand versucht, Kinder zu verstehen ("wie ginge es Ihnen, wenn Sie monatelang auf dem Rücken liegend herumgefahren würden und nur den Himmel sehen könnten und Gesichter, die sich über Sie beugen?")]

[aber was heißt es, "ein Kind zu verstehen"?]

[… wenn sie doch nur erzählen könnte…]

[abgebrochen]

62. Unsortierte Notizen, die goldenen Jahre betreffend.

Wochenends Spielplatzbeklemmungen beim Beobachten der Dreigenerationen-Fünferpulks: 2 Großeltern + 2 Eltern + 1 Kind. Du möchtest nicht das Kind sein, aber du wolltest nie gerne Kind sein. Sag Auto, sag dies, sag jenes. Nein, nein, nein. Wie oft soll ich noch nein sagen, komm jetzt. 

Mein Vorsatz, sie so zu behandeln, dass sie sich nicht als Kind fühlen muss, schwer zu bewerkstelligen, weil sie unübersehbar eines ist. 

Die Alarmiertheit jedes Mal, sobald jemand für sie automatisch seine Stimme verstellt, nicht, um mit ihr Quatsch zu machen, sondern weil er sich einbildet, mit Kindern könne man anders reden, höher, zeichentrickfilmhafter. So wie man früher mit Migranten anders gesprochen hat als mit den Angehörigen der eigenen Bande.

Schwarze Pädagogik 2012: ein Band aus Liebe und Zuwendung. 

Auf dem Spielplatz wochenends viel updressing. Eltern, die sich in Schale geworfen haben, Mädchen mit komplizierten Zöpfen, ein anderes Mädchen in einer hautfarbenen Strumpfhose. Sonntagsstaat, deprimierend, dass es das noch gibt. Das denke ich jetzt oft: Wie deprimierend, dass es das noch gibt.

Ein paar Blocks weiter in die andere Richtung, im Thälmannpark, hat die unsichtbare öffentliche Hand irgendwann im letzten Jahr alle Spielplatzgeräte abgebaut. Jetzt gibt es bloß noch die Minimalausstattung, einen Sandkasten. Für die Kinder der Plattenbaubewohner reicht das, sie brauchen keine Rutschen, Wippen, Schaukeltiere, Trampoline,  Klettergerüste.

Andererseits ist eine Sandkiste (wie es in Österreich hieß)   exakt das gewesen, was ich in meiner Kindheit hatte, vor 45 Jahren, als es noch mehr Kinder gab und noch nicht so viel von Zukunftsangst und Frühförderungseifer beflügelte Zuwendung. Wo ich aufgewachsen bin, gab es aber auch eine kleine Au (wir nannten es so, obwohl es keine war), ein Maisfeld, Bäume, auf die man klettern konnte, die letzten Ausläufer der Vorstadt, gleich daneben ging die Stadt ins Ländliche über. Die Sandkiste hinter dem Haus war nur für die ganz Kleinen, alle anderen waren auf sie nicht angewiesen, wir wollten runter und losbutschern, Maiskörner aus den Kolben pulen, mit Steinen zermörsern und mit dem Wasser aus der Au-Quelle zu einem Brei anrühren, wir wollten die Bäume hoch, in das Feld Schneisen rennen, uns verstecken. Niemand passte auf uns auf. Niemand saß auf einer Bank und behielt uns im Auge. Wenn sich jemand verletzte, rannte einer los und schlug Alarm. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass viel passiert wäre. Aber das kann auch daran liegen, dass ich ein schlechtes Gedächtnis habe.

Meine Allergien gegen Kindheitsgeschichten, immer noch, auch gegen die, die ich selbst erzähle, gegen Romane und Filme, in denen Kinder vorkommen, die meisten jedenfalls. Kinder sind darin so häufig ein billiger Trick, Urteile über die Welt zu fällen (das weise Kind, das die Welt klarer durchschaut als Erwachsene, das leidende Kind, an dem die Effekte der Handlungen von Erwachsenen sichtbar werden, &sw.). Was mich mehr interessiert: die Individualitäten von Kindern, für die vermutlich kaum jemand Geduld aufbrächte, weil kindliche Individualität eher minimal music oder modaler Jazz oder Raga als ein Dreiminutenpopsong ist; kleinere Übergänge, Variationen von Wiederholung, winzige Verschiebungen, die Schönheit von Schleifen, dazwischen heftige Ausbrüche, Caspar Brötzmann Massaker, Yoko Ono. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich Kinder gerne mag.

Wahrscheinlich ist meine Allergie gegen bestimmte Kindheitsdarstellungen Symptom eines tiefer sitzenden Unbehagens: Ich war nicht gerne Kind, jedenfalls bilde ich mir das ein, so genau weiß ich es nicht, vielleicht bin ich nur ein Erwachsener, der sich einbildet, er wäre ein Kind gewesen, das nicht gerne Kind gewesen ist. Andererseits: kann man sich nachträglich einreden, dass man sich unwohl gefühlt hat, obwohl man sich nicht unwohl gefühlt hat? (Kann man wahrscheinlich, aber so unwohl wie ich mich immer wieder fühle, habe ich es eher mit alten Impulsen zu tun als mit einer Identitätsinszenierung.) Ich merke, dass ich mich auf Kinderfotos schwer ertragen kann, die Person, die da zu sehen ist, wollte ich loswerden, den Haarschnitt (der ein ganz normaler Jungshaarschnitt gewesen ist, den heute noch drei Viertel aller Jungs haben [deprimierend, dass es das noch gibt...]), die Klamotten (das Übliche, das man in der Epoche vor der Kindermarkenmode so trug), die Körperhaltung (lach doch mal...). Vermutlich bin ich nicht so gerne Kind gewesen, wie es von Kindern erwartet wird. 

Auch das beginnt mir jetzt aufzufallen:  Von Kindern wird häufig erwartet, dass sie GLÜCKLICHE Kinder sind, es ist  eine Art Zeichen ihrer seelischen Gesundheit und des Gelingens der Elternkindbeziehung. Das Dumme daran: Kinder können keine Auskunft darüber geben, wie glücklich sie sind, und noch weniger, wie wichtig ihnen das Glücklichsein überhaupt ist. Kinder sind black boxes, in die Erwachsene hineinspaßen, bis sie ihr Kinderlachen bekommen, dann ist für die Erwachsenen alles gut; sie fragen sich eher selten, ob das auch stimmt, Kinderlachen lügt nicht, Kinder sind keine Schauspieler, das ist es ja, was die Erwachsenen so sagenhaft toll an ihnen finden - dass sie so authentisch sind, viel authentischer und unverstellter als sie selbst, die sich unter dem Zwang der Verhältnisse verstellen und anpassen und opportunistisch sein müssen. Bilden sie sich ein. Obwohl sie andererseits ständig mitbekommen, dass Kinder Copy&Paste-Virtuosen sind (immerhin lernt man als Kind so) und deswegen wissen müssten, dass das Kinderlachen und das Kinderglück möglicherweise bloße Konzessionen sind, Nettigkeiten, weil die Erwachsenen es so haben wollen & um in Ruhe gelassen zu werden, wenn sie die paar Dinge tun, die ihre Luftüberwacher beruhigen. Irgendwann dieser Tage gedacht, dass Elternschaft zu großen Teilen Luftüberwachung ist, ständig schweben Drohnen über dir, ständig schaut dir jemand zu und greift von oben her ein;  mir gleich wieder vorgenommen, noch mehr zu ihr auf den Boden zu gehen, als ich es ohnehin schon tue.

Ist F. ein glückliches Kind? Weil sie oft lacht? Späße macht? Ich weiß es nicht wirklich, wie sollte ich es wissen können, sie kann es mir nicht sagen. Sehr oft ist sie es nicht. Sehr oft ist sie ein unglückliches Kind, wie jedes Kind, Kinder sind diese Leute, die ständig mit dem Status Quo unzufrieden sind und sich zu Zufriedenheit nicht überreden lassen. Dass sie das Messer nicht bekommt, dass sie nicht einfach losrennen kann, den Autos entgegen, dass sie das und das und auch das nicht tun soll, was sie unbedingt tun will: lauter Frustrationen, ich bin mir sicher sehr viel mehr als Glücksempfindungen, bei jedem Kind. Zu den Beklemmungen des Elternseins gehört es, dass man sich dabei beobachten kann, ständig Verbote auszusprechen, ständig jemandem etwas zu verweigern, ständig Vergnügen, Lust, Ekstase abzukürzen, man ist Überwachungsdrohne, die ständig aus dem Luftraum herabschießt und ins Geschehen eingreift. Vielleicht ist den Erwachsenen auch deswegen das Kinderlachen so kostbar, es lässt sie vergessen, dass sie Diktatoren sind, sie können sich einreden, von ihren Untertanen abgöttisch geliebt zu werden.

Der vergrübelte Schmerz damals, als man mir bei einer Elternsprechstunde über S. sagte, sie sei ein tolles Mädchen, aber nie ginge sie ganz aus sich heraus, würde sie sich gehen lassen. Sofort habe ich mich gefragt, ob sie mir ähnlicher werden würde, als mir lieb wäre (gemessen am  Inbild eines sich UNBÄNDIG freuenden Kindes, das sich lachend alle Kraft aus dem Leib tanzt), erst Tage später die Ungehaltenheit, dass sich mal wieder jemand elaborierte Diagnosesätze zurechtgelegt hatte, guten Willens sicher, aber da war sie wieder, die gute alte Aversion, von der ich genau weiß, woher sie stammt, gegen das Beurteilt-, Begutachtet-, Kommentiert-, Durchschaut-, Einsortiert-, Beanstandet-Werden, Sichtbarseinmüssen.

Selbstverständlich ist es nicht gut, Allergien mit Argumenten zu verwechseln, sie sind bloß - Allergien, eine Unfähigkeit, mit etwas umzugehen.

(Jedenfalls war ich kein Kind, das ein glückliches Kind sein wollte, glaube ich, ich wollte am liebsten ein unbeobachtetes Kind sein, glaube ich, was nicht heißt, dass ich nicht manchmal glücklich gewesen bin (aber das ist eine Annahme, so genau sind Erinnerungen an Glück nicht, Menschen, die von sich sagen, sie hätten eine glückliche Kindheit gehabt, habe ich schnell im Verdacht, sich selbst beschwören zu wollen, wie schließlich könnte man sich eine glückliche Kindheit vorstellen, die Bullerbükitschigkeit ist ja eher fürs Erwachsenengemüt.).)


Mit Kindern wird man seltsam zukunftsinteressiert, man hört sich die Nachrichten anders an als kinderlose Menschen,  man rechnet sich alles mögliche aus: Wie wird es sein für sie, wird es gut sein für sie, was kann ich tun, damit es gut sein wird für sie, auch jenseits der kurrenten Frühförderungsobsessionen und dem unangenehmen Menschenbild, das ihnen zugrundeliegt. Das Verrückte dabei: Man hat aus Lebenserfahrung längst begriffen, dass man es sich nicht wirklich und immer weniger ausrechnen kann. Ich weiß nicht, wie oft und wie sehr sich meine Eltern gefragt haben, wie das Leben für mich werden würde; falls sie es taten, hätten sie nichts davon vorhersagen können, wie mein Leben jetzt ist (das Internet, die Globalisierung usw. usf.) Und dennoch merke ich, dass ich mir immer wieder Fs Zukunft zurechtprognostiziere, aus Sätzen über den demografischen Wandel, die Digitalisierung und ähnliches, die im Presseclub fallen, Szenarien für sie entwerfe. Sehr albern.

(Was hätte man mir vor 40, 45 Jahren raten sollen, statt meine eigene Wahl einfach zur Kenntnis zu nehmen? Wahrscheinlich: Marx nicht lesen, hat sowieso keinen Sinn. Kein Journalist werden, hört noch in deiner Lebenszeit auf, ein glamouröser und gut bezahlter Beruf zu sein. Nicht Philosophie studieren. Jura! Oder BWL! Sport machen, irgendetwas Athletisches! Netzwerke! Bisschen sonniger werden! Bisschen mehr Zackzack! Bisschen mehr Geld zur Seite legen, bisschen analfixierter werden. Lauter nützliche Empfehlungen, die mich möglicherweise glücklicher gemacht hätten, ich bin froh, sie nie bekommen zu haben.)

(Wie sehr es mich immer wieder nervt, dass so viel über Zukunft nachgedacht wird, die Knute über der Gegenwart, reißt euch zusammen, sonst kommt das dicke Ende, bescheidet euch, lasst euch nicht gehen, rüstet euch. Lass dich nicht ein auf die Gegenwart, klammere nicht, verschwende deine Jugend nicht, du willst doch gebraucht werden. Wofür eigentlich?)

(Kann gut sein, dass das nur meine eigene filter bubble ist.)

(Läuft das auf etwas hinaus? Egal.)   Wenn man ein wenig den Diskussionen über das Betreuungsgeld folgte, merkte man schnell, wie sehr es darum ging, einander Kindheitsideologien an den Kopf zu werfen. Die CSU operierte mit der Verschwörungstheorie, es gäbe eine Art sanften Zwang, der Mütter in die Richtung schubse, ihre Kinder so bald wie möglich wegzugeben, und annoncierte ihren Hunni pro Monat auch als eine Art Anerkennung für den Widerstand, diesem Zwang zum Trotz die Kinder selbst zu betreuen; die Gegner des Betreuungsgeldes (das auch ich für eine Dummheit halte) sangen dagegen Kita-Loblieder - wie sehr sie den Migranten- und Proletenkindern dabei helfen könnten, integriert zu werden, die Sprache und soziales Verhalten zu lernen, und je öfter sie es sagten, desto verrückter kamen sie mir vor in ihrer Mittelschichtherablassung, gelungene Kinder sich nur als solche vorstellen zu können, die schon in der Kita gelernt haben, sich auf die Mittelschichtspielregeln einzupegeln. Aber es wird schon so sein: wer sich nicht schon mit drei oder vier anpasst, wird später keine Chancen mehr haben, auch unter anderen Regierungen als der, die nächstes Jahr ausgetauscht werden wird, gegen dieselbe Sorte Regierung. Du musst mit zwei, drei, fünf lernen, wie du dazugehören kannst. Sonst wird das nichts mehr.  Und wieder konnte ich nicht umhin zu bemerken, dass in mir immer noch dieses Kind war, das keine Lust hatte, nichts anderes wollte, als in Ruhe gelassen zu werden von allen, die es so gut meinten mit ihm.   Kinder haben einen seltsamen Job, für den sie ständig schuften müssen. Sie sollen authentisch sein, die letzten verbliebenen unverbogenen Menschen, und gleichzeitig total programmierbar, weil man mit dem Authentischen nicht sehr weit kommt, wenn es nicht beizeiten in die richtigen Richtungen geschubst wird. Deswegen bekommst du dieses Fürsorgetreatment, ob zu Hause, ob bei ausgebildeten Externen, ist völlig egal, wenn es nur ein Treatment ist, die Recodierung deiner niedlichen Natur, damit du nicht abgehängt wird, damit du mithalten kannst, damit du wirst wie wir, die wir Kinder lieben, und wie!

Du wolltest das Kind nicht sein unter solchen Drohnen, aber du wolltest nie Kind sein. Kann aber gut sein, dass das nicht stimmt, dass du dir das nur einbildest und in Wahrheit ein Erwachsener bist, der sich einbildet, ein Kind gewesen zu sein, das lieber nicht Kind sein wollte. Vielleicht so: du magst Kinder, aber die Kindheit nicht. Du bist Vater, aber wärst gerne stattdessen etwas, für das es keinen Namen gibt, etwas, das nicht für Beklemmungen sorgen müsste. 

Währenddessen schafft sie es, vier Zähne gleichzeitig ausbrütend, mit einem geschwollenen Lymphknoten und einem entzundenen Ohr, mich drei Minuten, nachdem ich sie nach Hause gebracht habe, dazu zu bringen, ihr den Mantel und die Schuhe wieder anzuziehen, sie auf den Arm zu nehmen und die drei Etagen, die wir eben hochgekommen sind, wieder hinunterzugehen, auf die Straße hinaus, die Straße hinunter, ihr den Wohnungsschlüssel zu überlassen, damit sie ihn in jedes Türschloss die Straße hinunter zu stecken versucht, ungehalten werdend, weil er in keines der Schlösser passt, die sie sieht, und es sind viele Schlösser, protestierend, wenn ich weitergehen will, nein nein nein, sagt sie, sie muss jetzt Schlösser aufsperren, und ich folge ihr von Tür zu Tür, Schloss zu Schloss, keines wird aufgehen. Aber irgendwann eben doch. Und dann wird sie wieder ein wenig weniger Kind geworden sein. The youth are getting restless.

51. 441 Tage.

TAGSÜBER will sie weg. Sie stellt sich an die Tür, bringt die Schuhe, zieht sich die Mütze über den Kopf. Wenigstens ins Treppenhaus, die Treppen hoch bis zum Dachboden, das kann sie jetzt. Wenn einer von uns geht, will sie mit, sie weint, wenn sie mit dem anderen dableiben muss, man hört sie noch zwei Etagen tiefer und wird schneller, um ihrem Weinen zu entkommen, verbietet sich das Umkehren, weil sie dann zweimal weinen müsste. ¶ Sie schiebt ihr Essen weg, will stattdessen meines haben, selbst wenn es dasselbe ist, nicht mehr das Vorgeschnittene, sie will selbst schneiden, mit meinem Messer, sie mag meine Gabel, nicht ihre Kindergabel, will aus meinem Glas trinken, den Blutorangensaft, sogar den koffeinfreien Kaffee, den es immer noch gibt, obwohl O. längst nicht mehr stillt, für die Kaffeegier nachts, damit wir nicht senkrecht im Bett stehen, obwohl wir schlafen könnten, sobald man ein Baby hat, teilt man sich das Schlafen ein, es ist eine knappe Ressource, da leistet man sich keinen Leichtsinn. Sie hat nichts gegen Bitteres, die Zeit, in der jeder neue Geschmack in ihren Körper fuhr wie ein elektrischer Schlag, ist vorbei, sie ist bedächtiger geworden, schmeckt den Geschmäckern nach, strampelt nicht mehr, wenn etwas süß, neu ist. Sie denkt nach jetzt, jedenfalls sieht es so aus, dann will sie noch eine Gabel, noch einen Löffel, oder nichts mehr, falls es nichts für sie ist, erstaunlich oft aber dringend genau das, von dem ich dachte, dass es einem kleinen Kind ganz sicher nicht schmeckt. ¶ Sie hat begonnen, Werkzeuge zu verwenden. Wenn sie merkt, dass sie zu klein ist, um sich die Dinge auf dem Tisch greifen zu können, schiebt sie sich ein Podest herbei, auf das sie klettert, dann schafft sie es. Das wichtigste ihrer Werkzeuge ist meine Hand. Wenn sie mit ihrer eigenen Hand nicht tief genug in meine Hosentasche kommt, nimmt sie meine und schiebt sie in Richtung meiner Hosentasche, ich soll für sie hinein und ihr geben, was sie darin vermutet. ¶ Sie hat sich von uns abgeschaut, wie man einen iPad oder ein iPhone benützt, sie legt zwei Finger auf die Schiebereglersimulation, schiebt sie nach rechts, macht sich die Apps auf. Lange war es nur das Wimmelbuch: drei Tableaus, auf denen man Menschen und Tiere antippen und in Handlungen ausbrechen lassen kann, ein Schwein pupst einem Lamm in die Nase, ein Krokodil guckt unter einem Gullydeckel hervor, ein Hund zieht einen Mann über die Straße. Sie entwickelte schnell Vorlieben. Sie mochte das Pupsschwein und den Trompete spielenden Teddybär, sie patschte oft auf das Bett, in dem ein Baby schlief, das zu heulen begann, wenn es angestupst wurde, bis eine Frau kam und es tröstete, indem sie das Mobile über dem Babybett in Bewegung setzte. Immer wieder stupste sie genau das an, setzte die Sequenz von Weinen und Trösten in Gang. ¶ Ohnehin hatte sie damit begonnen, sich für Babys zu interessieren. Sobald eines im Fernsehen schrie, unterbrach sie sich und schaute gespannt hin, wenn in ihrer Gegenwart andere Babys heulten, streichelte sie ihnen über den Kopf, eieiei, sagte sie, so wie ich eieiei sagte, wenn ich sie streichelte, um sie zu trösten. Es gab also schon Lebewesen, von denen sie dachte, sie seien wie sie, von derselben Art und derselben Bedürftigkeit, es rührte mich, wie sehr sie sich um ihre Leute kümmerte. Manchmal sah sie uns an, wenn sie ein Baby heulen hörte, tut doch was, was hat es denn, schien das zu bedeuten. ¶ Sie schien viel zu sagen. Dabei konnte sie gerade erst fünf Wörter, die ich als Wörter identifieren konnte, nei, ei, hai, Mam und Bab, meistens kamen sie in Wiederholungen, neineinei oder Mamamam oder Babab. Nei, ihr allererstes Wort, bedeutete "nein", eieiei war das Trost- und Liebkosungswort, hai war ein Gruß, Mam war ihre Mutter, Bab war ich. Alles andere sagte sie, indem sie zeigte, indem sie Mams oder meine Hand nahm, indem sie etwas brachte und es einem auf den Schoß legte, indem sie mich zu ihren Büchern, in unser Bett, zu ihrem Bobbycar lotste und mich dann auffordernd ansah. Zum Beispiel wollte sie unaufschiebbar ausgezogen werden, sie legte meine Hand auf ihre Schuhe, wenn ich sie wegzog, nahm sie die Hand von Neuem, bis ich ihr den Gefallen tat, danach musste ich ihr die Socken und danach die Hose ausziehen, bis ihre Beine endlich nackt waren, sie saß da und lachte, schaute ihre Füße an, hampelte vor Vergnügen, nahm die Füße in ihre Hände, streckte mir ihre Füße entgegen, man merkte, wie glücklich sie das machte. Sie verstand immer mehr von dem, was man sagte, es fiel uns meistens nur zufällig auf, plötzlich patschte sie sich auf ihren Bauch, nachdem jemand von uns "Bauch" gesagt hatte, wir vergewisserten uns, dass wir uns das nicht bloß einbildeten, wo ist dein Esel, fragten wir, sie ging ins Nebenzimmer und kam mit ihrem Stoffesel zurück. ¶ Bald hatte sie nicht mehr nur auf die Wimmelbuch-App Lust und begann, reihum die Apps anzustupsen. Bei manchen landete sie immer wieder, bei den Rezepten eines italienischen Kochs, die ich für O. heruntergeladen hatte, oder bei der FM4-App, die einen Wiener Radiosender übertrug, zwei, drei Sekunden, dann setzte Indierock oder Hiphop oder elektronische Musik ein, sie tanzte dazu, wie sie zu fast jeder Musik sofort zu tanzen begann, sich wiegte, wippte, lachte. Ich hatte keine Ahnung, warum sie nie Facebook, den New Yorker, das Mailprogramm oder die NPR-App öffnete, aber immer wieder den FM4-Stream, vielleicht lag es daran, dass die App ungefähr auf der Mitte des Screens lag, vielleicht zog das leuchtgelbe Icon sie an, ich nahm mir vor, die App zu verschieben, um es herauszufinden, und tat es doch nicht, warum sollte ich ihr einen Spaß verderben. ¶ Auf dem iPhone, dessen Ähnlichkeit mit dem iPad ihr sofort klar gewesen war, schaffte sie es, die Foto-App zu öffnen und sich aus den Fotos die Videos zu picken, die man daran erkannte, dass auf den Miniaturansichten Pfeilsymbole zu sehen waren. Sie tippte eine Miniaturansicht und dann den Startpfeil an, das Video ging los, auf dem sie immer sich selbst zu sehen bekam, andere Videos habe ich nie gemacht. 10, 20, 30 Sekunden lang konnte man dabei zusehen, wie sie durch die Küche stapfte oder auf dem Sofa saß und lächelte oder nach dem iPhone griff, mit dem ich sie gerade aufnahm. Jedes Mal, wenn sie sich auf einem dieser Videos sah, patschte sie sich aufgeregt auf die Brust, es war ihr Ich-Zeichen, dasselbe, das sie auch machte, wenn man "wo ist Fanny?" fragte. ¶ Sie beschäftigte sich mit Büchern, ihren eigenen und immer häufiger unseren, obwohl es in ihnen keine Bilder, nur Buchstaben gab, sie holte sich aus dem Regal einen Frisch, einen Proust oder irgendeinen anderen der Bände aus den unteren beiden Reihen, setzte sich in die Kuschelecke, die wir ihr eingerichtet hatten (eine Schaffelldecke nahe der Heizung, ein paar Stofftiere, eine kleine Bilderbuchbibliothek), und blätterte in ihnen, manchmal sah es so aus, als läse sie in ihnen, hin und wieder stellte ich mir vor, dass sie es tatsächlich konnte und darüber nur noch nicht Auskunft zu geben verstand, aber ich wusste, dass diese Vorstellung mit einer Geschichte zu tun hatte, die ich seit Jahren schreiben will und für die ich noch nicht die richtige Form gefunden habe, die Geschichte, die davon erzählt, wie ich, von den Ohrfeigen meiner Mutter angetrieben, das Lesen gelernt habe, um dann beim Lesen, eigentlich durch das Zusammenkauern, die Verkapselung meines Kinderkörpers über den Büchern gleichsam so unsichtbar zu werden, dass nichts mehr an mir Anlass für Ohrfeigen war, und die damit verbundene Erleichterung den Büchern, später der Literatur gutschrieb, bis ich, als es schon viel zu spät war, begriff, dass ich Bücher nur dafür zu lieben begonnen hatte, weil sie mir Schläge ersparten und nun nicht mehr weiß, was ich von dieser Liebe zu den Büchern und der Literatur halten soll, denn oft genug bin ich noch dieses nach innen gekehrte fünf-, sechs-, siebenjährige Kind, das sich in einer Ecke über ein Buch kauert, um in Ruhe gelassen zu werden, aber was hätte ich ohne die Bücher getan? ¶ Nur noch selten kam es vor, dass sie die Bücher bloß aus den Regalen zog, um dann nichts weiter mit ihnen anzufangen, monatelang hatte das zu ihren größten Vergnügen gehört, sie krabbelte (damals krabbelte sie noch) durch die Wohnung, zog sich an den Regalbrettern hoch und riss Bücher aus den Fächern, es sah aus, als hätte sie eine Bücherspur auslegen wollen. In der Küche zog sie die Schubladen auf und verteilte Backformen, Teigquirle, Schüsseln auf dem Boden, im Schlafzimmer brauchte sie keine zwei Minuten, um die Kommode auszuräumen, es begeisterte mich immer wieder, wie schnell es ihr gelang, die Wohnung zu verwüsten. ¶ In den letzten Wochen ist sie ein wenig ruhiger geworden, der Furor des Ausräumens überkommt sie nicht mehr so oft. Ihr Vergnügen braucht nicht mehr so große Territorien. Sie sitzt da und schraubt einer Cremetube den Deckel ab. Sie zieht ihren Stoffesel aus und versucht, ihn wieder anzuziehen, bis sie schließlich meine Hand nimmt, ich soll es für sie tun. Sie rührt mit dem Schneebesen, dem Kochlöffel in einer Schüssel. Sie sitzt auf ihrer Schaffelldecke und sieht sich Bücher an (nicht, denke ich, lass dir doch Zeit), sie holt ihre Schuhe und stellt sich an die Türe (bald, denke ich, ich helf' dir, aus deiner Kindheit loszukommen). ¶ NACHTS ist sie jetzt wieder so zart wie in ihren ersten Wochen, sie will ganz nah bei uns liegen, bei dem Körper, der ihr durch die Nacht hilft, um zwei, drei stupst sie mich wach, dann gebe ich ihr Milch, sie legt sich in meinen Arm und trinkt, ich höre den Geräuschen zu, die sie beim Schlucken macht, und ihrem Kinderatem, zwei, drei Seufzer, dann ist sie weg. ¶ So ist mein Leben jetzt, denke ich, wenn man es jemandem schildern wollte, klänge es langsam, stetig und langweilig. Es soll so weitergehen, denke ich.

47. Fountain of youth.

Der Körper, der ich jetzt bin, ist ein seltsamer Remix des Körpers, der ich vor achtzehn, zwanzig, zweiundzwanzig Jahren gewesen bin, ein Haufen Müdigkeit, ein Schleimbehälter, eine Kreuzung aus Alarmanlage und schlaffem Sack. Es ist das Kind, das mich so macht, während es sein Immunsystem einrichtet, grätscht es meinem ins Funktionieren, das geht jetzt wieder ein paar Jahre so.

28. Am schlimmsten.

Am schlimmsten sind die Beinahe-Unfälle. Du drehst dich um, um ihr einen Apfel zu schneiden, als du wieder zu ihr schaust, ist sie halb aus dem Hochstuhl, eine Zehntelsekunde später wäre sie gefallen, Kopf voran. Du stehst an der Kreuzung, alles ist gut, dann rast ein Radfahrer vorbei, Renngeschwindigkeit, einen Zentimeter am Baby vorbei. Arschloch, brülle ich, er hört es nicht, die iPodstöpsel. All die Augenblicke, in denen man sieht, wie eine Kante, eine Ecke, eine Spitze und ihr Körper sich aufeinander zubewegen und dann gerade noch doch nicht, aber nicht immer, weil man sie noch abfängt. Du merkst, wie unsicher Wohnungen sind für Menschen mit 70 Zentimetern, wie viele Steckdosen du verkleiden musst, hast du wirklich alle, und natürlich protestiert sie, weil sie sich in die gesicherten Steckdosen hineinpulen will und du der Kindersicherung doch nicht traust. Sie schafft es, so schnell auf den Sofaabgrund zuzukrabbeln, dass du dich manchmal im allerletzten Moment dazwischenwerfen kannst, verrückt, das sich Höhenangst erst entwickeln muss. Sie könnte losspringen, zur heißen Backrohrtüre hin. Hunde könnten losspringen. Klemm dir bloß die Finger nicht ein.

26. King Kong.

Wenn einer käme, um mich hochzuheben, umzudrehen, kopfüber zu halten wie ich sie, müsste er 5,40 groß sein, habe ich mir ausgerechnet.

23. The sheer ecstasy of being a lunatic father.

Mein schönes Kind, es wühlt sich hinein in mich und windet sich und schreit die Luft an, und dann schläft es doch. Es ist eine Willmaschine, will das iPad haben und meine Hand aufessen und heult mich an, wenn meine Hand nicht will. Es will mich in die Nase beißen und in die Augen stechen und Karottenbrei und Weißwurst, kommt alles wieder raus. Mein Kind wächst jeden Tag, bald ist es zweieinhalb Meter lang, aber jetzt ist es noch ein Zwerg. Mein schönes Kind schaut mir tief in die Augen und dann kackt sie los, wann hast du das je, dass eine dir tief in die Augen schaut und dabei kackt, da kommen sicher noch Sitten rein stattdessen. Mein schönes Kind streckt die Zunge raus, wenn es sich konzentriert, es ist eine schöne kleine schnelle Kolibrizunge, die Sabberfäden zieht, und leckt ganz schnell alles rein, alles meins. Sie verschlingt Papier, verschlingt Wollmäuse, verschlingt Flusen, dann guck ich in ihren Mund und pule es wieder raus, ich bin der Filter für ihren Mund, das kann rein und das lieber nicht. Meinem schönen Kind gehört alles unter einem Meter Höhe, hat keinen Sinn, zu hoffen, sie kriegt es nicht. Sie kriegt es doch. Sie hat den Musil, den Kluge, den Frisch, den Gadda, den Hölderlin, den Proust aus dem Regal gezogen, sie sitzt in Prousthaufen und lacht sich schlapp, sie reißt sich Musilseiten raus und steckt sie in den Mund, ach Fännfänn, sag ich, das schmeckt doch nicht. Mein schönes Kind ist ein Mädchen, was ist es denn, wollen die Leute wissen, ist es ein Junge, ist es ein Mädchen, ein Mädchen sagen wir, als ob daraus etwas folgen würde. Sagen sie eher SÜSS, wenn es ein Mädchen ist? Sagen sie eher TOLL, GROSS, STARK, WEIT, wenn es ein Junge ist? Die Wahrnehmungs-Werkseinstellung lautet immer noch: Junge, ER-Pronomen, wie heißt er denn?, nie: wie heißt sie denn? Mein schönes Kind rollt sich, dass ich sage: du Rollmops, es windet sich, dass ich sage: du Schlange, es grunzt beim Speed-Krabbeln, weil es sich so freut, dass ich sag: du Ferkel. Wo kommen die Tiere alle her, warum schenke ich ihm lauter Tiere, das Krokodil, den Fisch, den Affen, die Bobobücher mit der Fuchsfamilie, das iPad-Wimmelbuch mit dem Pupsschwein, dem Salatklaureh, den Elefanten? Die Liebe zu einem Kind ist, dass du ihm Tiere gibst, als dächtest du: das sind seine Freunde. Und wann gewöhnst du dir das wieder ab, sind die die Tiere wieder nur etwas, in dessen totes Fleisch du deine Zähne schlägst? Mein schönes Kind ist ein Quengel, ein Schrei, ein Wimmer, ein Dadada und Gagaga, wie lieb ich das. Es spuckt mir auf das T-Shirt langt mir an den Mund zerrt an meiner Lippe schnappt sich meine Brille stochert mir ins Auge patscht mir in mein Essen patscht trommelt auf meiner Brust. Mein schönes Kind macht mir ein schwarzes Herz, ich mag’s nicht leiden, dass es groß wird, es hat schon eine Steuernummer und einen Reisepass mit Passfoto und eine IDENTITÄT und eine STAATSANGEHÖRIGKEIT und ein Aktenzeichen und einen Kita-Gitschein und eine Biometrie, das lassen sie sich doch nicht nehmen, da langen sie gleich zu, das ist eben so, und ich kann nichts machen dagegen, aber jetzt ist noch gut. KRAPPKRAPP sag ich, KRAPPKRAPP.

19. Schlaf.

Das Kind hat einen Schlaf, dem man anmerkt, es hätte lieber keinen. Es wehrt sich gegen das Einschlafen, so lange es kann. Es dreht noch einmal auf. Es zieht sich hoch und steht dann da. Es muss noch einmal den Wecker untersuchen, es muss noch einmal auf die Snooze-Taste patschen. Oder es greift sich den Babyphone-Sender und drückt auf den Knopf, der das Schlaflied-Programm anwirft, Schlaf Kindlein schlaf, Der Mond ist aufgegangen. Es zetert los. Es will noch einmal die Brust. Nicht wirklich. Bloß einmal kurz saugen. Oder beißen. Oder es beißt mich, ungefähr da, wo meine Brust ist, nicht so genau wie bei ihr, bei mir kommt ja nichts, also ist es egal, ob es gut zielt. Bei einem Erwachsenen wüsste man: ist noch nicht müde, hat keinen Sinn, so zu tun, als könnte das Einschlafen klappen. Einem Erwachsenen würde man sagen: lass’ locker, dann schläfst du schon ein. Oder steh' halt wieder auf. Beim Kind weiß man, man hat es lange genug beobachtet: Jetzt schläft es gleich ein, zwei, drei Minuten noch. Es ist schon auf der Zielgeraden ins Schlafland, genau deswegen muss es noch ein wenig um sich schlagen. Warum es sich so wehrt? Man weiß es nicht. Man hat nur Vermutungen. Aber es sind Vermutungen, die nur bei Erwachsenen Sinn haben. Zum Beispiel, dass es Angst vor dem Schlafen hat. Vor dem Zustand, in dem es ist, wenn es schläft, das Alleinsein, Aus-der-Welt-Fallen. Man rekonstruiert sich ein Babybewusstsein, indem man behelfsmäßig Schlüsse aus seinem eigenen Erwachsenenbewusstsein ableitet. Es kommt einem vor, als hätte es Angst, einen Widerwillen, als wäre der Schlaf für es mit einem Schrecken verbunden. Schon weiß man ein Dutzend und mehr Gründe, warum Schlaf etwas Grauenhaftes ist, sein muss. Nicht für einen selbst, für ein Kind. Es selbst kann dazu nichts sagen. Es gibt Auskünfte, aber in einer Fremdsprache, der man hinterherrät. Es korrigiert die Geschichten nicht, die man sich über seinen Schlaf erzählt. Man kann ihm alles nachsagen. Träumt es? Aber ja. Manchmal seufzt es, quietscht es, es hat sogar schon gelacht, zwei, drei Mal. Sein Gehirn wird auch im Schlaf schuften, es wird nicht anders sein als bei einem selbst. Aber wovon träumt es? Es hat ja keine Sprache. Rede ich in seinen Träumen? Kann es eine Sprache träumen, die es selbst noch nicht sprechen kann? Oder spreche ich in seinen Träumen auf seine Art; brabbelnd? Was sieht es? Wie tauchen in seinen Träumen seine Tageserlebnisse auf? Zieht es sich am Bücherregal hoch und räumt Bücher aus? Stürzt es, fällt es hin? Ißt es Brei? In der letzten »Nido« sagte eine Kindertraum-Forscherin, im Unterschied zu Erwachsenen, die Geschichten träumen, sehen Kinder im Traum Standbilder, wie Fotografien. Aber wie stellt man so etwas fest? Oft lasse ich das Kind auf mir einschlafen. Es liegt auf meinem Oberkörper, seinen Kopf in meiner Schlüsselbeinkuhle, sein Atem manchmal ein leises Schnarchen; das kommt von der Milch, die es noch bekommen hat, glaube ich. Anderthalb, zwei Stunden halte ich das leicht aus, es macht mich jetzt schon fertig, dass das irgendwann nicht mehr möglich sein wird, das Kind wächst ja so rasend schnell, dass man ihm dabei fast zusehen kann. Ein Kind zu haben, ist seltsam, weil man ununterbrochen Abschied nimmt, davon, wie es gerade ist; ständig hat man ein neues Kind, wenn Erwachsene so wären, würde man das sicher nicht aushalten können. Manchmal summe ich es in den Schlaf, es muss sich dabei fühlen wie auf einem vibrierenden Tier liegend (es weiß allerdings nicht, was ein »vibrierendes Tier« ist). Oder ich singe ihm Lieder, Ad-hoc-Texte über alles Mögliche. Oder ich erzähle ihm Romane nach. Moby Dick, Ulysses, Rot und Schwarz undsoweiter, in Babyzusammenfassungen, einem Baby muss man ja alles erläutern, was ein Wal, eine Niere, eine Liebe ist. Nach ein paar Stunden wacht es auf, seltener als bei ihr, bei ihr weiß es, dass es an die Brust gehoben und gestillt wird, überall steht, Stillkinder wachen nachts häufiger auf. Aber wie kann es in seinem Schlaf wissen, dass es neben mir seltener aufwachen muss, weil es von mir keine Brust gibt? Sowieso: Diese ungeheuren Operationen, die Kindergehirne bewältigen, immer wieder kommt es einem vor, als könne man ihnen beim Arbeiten zusehen. Der Rhythmus jetzt: vier Stunden Schlafen, 20 Minuten wach, drei Stunden schlafen, eine Viertelstunde wach, danach noch eine Stunde Schlaf, die letzte Runde. Dann ist es ungefähr sieben. Das Kind ist wach. So wach, wie man es schon lange nicht mehr gewesen ist. Nur zehn Minuten, bitte, zehn Minuten noch. Aber das Kind lacht darüber nur.

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