82.
Verteidigung der Unantastbarkeit deutscher und europäischer Gesandtschaften, ein beliebter Zeitvertreib der letzten Junitage 2013.
Verteidigung der Unantastbarkeit deutscher und europäischer Gesandtschaften, ein beliebter Zeitvertreib der letzten Junitage 2013.
der Film, der mich interessiert, fängt irgendwo an und hört irgendwo auf, wirkt, als hätte er auch früher oder später anfangen oder aufhören können, eigentlich beginnt er nur zufällig und hört nur zufällig auf. Der Film, der mich interessiert, kennt seine eigene Geschichte nicht so genau, manchmal verliert er sie und findet eine andere, doch er erzählt eine Geschichte und erzählt sie, als wäre sie keine
Am Square Léon Serpollet, dem Park, in dem ich während unserer zwei Wochen in Paris fast jeden Tag mit Fanny gewesen bin, stand auch eine Gedenktafel für die mehr als 700 jüdischen Kinder aus dem 18. Arrondissement, die von der Polizei des Vichy-Regimes an die deutschen Besatzer ausgeliefert und in die Vernichtungslager deportiert worden waren, 86 von ihnen hatten nicht das Alter erreicht, in dem sie eingeschult worden wären. Lies ihre Namen, Passant, stand auf dem Schild, dein Gedächtnis ist die einzige Grabstätte, die sie haben.
Rosette ALTMARTZ 5 ans - Jean-Pierre AOUIDJI 4 ans - Abel BAC 4 ans- André BASCH 1 an - Marie-Louise BENBOUNAN 6 ans - Bernard BENBOUNAN 3 ans - Jeanine BENBOUNAN 6 mois - Francine BENHAIM 1 an - Sarah BIALER 6 ans - Jacques BIALER 2 ans - Marcelle BIALER 4 ans - Henri BIBULA 2 ans - Alain BLUMBERG 14 jours -
weiter schaffte ich es nicht, ich rechnete mir aus, dass jemand, der 1942 mit 14 Tagen deportiert worden war, 2012 siebzig gewesen wäre, sieben und sechs Jahre jünger als meine Eltern, sehr viel jünger als Helmut Schmidt.
"Wann ist die Vergangenheit vergangen?", stand auf der Titelseite der "Zeit", als ich wieder zurück in Berlin war. Für viele schon lange.
Eine Frau schreibt eine Mail. Sie hat ihr Baby verloren, schreibt sie, im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft. Das ist nun ein Jahr her, aber sie kann nicht aufhören, an ihre tote nie geborene Tochter zu denken. Heute wäre sie ein halbes Jahr alt, denkt sie. Oder: Jetzt würde sie wahrscheinlich schon krabbeln.
Du musst aufhören, daran zu denken, sagen Bekannte, die es gut meinen mit ihr, du bist doch noch jung, du kannst noch ein anderes Kind bekommen. Doch der Frau, die den Brief schreibt, ist ihre Zukunft verloren gegangen. Sie kommt kaum aus dem Bett. Sie kann die tote ungeborene Tochter nicht begraben für ein anderes Kind, das sie möglicherweise bekommen könnte. Es geht nicht. Sie kann mit niemandem darüber sprechen, auch nicht mit dem Vater ihrer toten ungeborenen Tochter, sie will es ihm nicht noch schwerer machen, als er es mit ihr schon hat. Wird das irgendwann besser, fragt die Frau.
Die Frau, die der Mutter der ungeborenen toten Tochter antwortet (denn eine Mutter ist sie, ohne je eine geworden zu sein), macht ihr keine Hoffnungen. Es wird nicht besser, schreibt sie. Dein Kind ist tot, es wird tot bleiben, nichts wird dir den Schmerz nehmen können, nichts und niemand, versuch' nicht, zu glauben, dass das ginge. Was die Menschen betrifft, die dir sagen, dass du zu trauern aufhören sollst (weil sie dich mögen, weil sie deine Trauer nicht ertragen, weil sie Trauer nicht ertragen, such' dir was aus): Sie leben auf dem Planeten Erde, du aber lebst auf einem anderen Planeten mit dem Namen „Mein Baby ist tot“. Zwei Planeten, ich weiß es, ich habe selbst auf ein paar Planeten gelebt, die nicht die Erde waren. Sprich mit Leuten von deinem Planeten. Sie wissen, wie es dir geht, ihr werdet einander erkennen, sie werden dir zuhören, sie werden dir deinen Schmerz nicht auszureden versuchen, du musst dich bei ihnen nicht verstellen. Sag deinem Freund, wie es dir geht, frag ihn, wie es ihm geht.
Dann erzählt die Frau der Mutter der toten nie geborenen Tochter eine lange Geschichte. Sie hat einmal, erzählt sie, als Jugendhelferin gearbeitet, Mädchen betreut, die in Einkaufszentren herumhingen, klauten, mit Männern schliefen, die doppelt so alt waren wie sie und ihnen nicht gut taten, milde ausgedrückt. Es waren Mädchen, die gerade noch nicht in die Abgründe gefallen waren, an deren Rändern sie schon standen, aber es war zu erwarten, dass sie es früher oder später tun würden. Mein Job war es, schreibt die Frau, das zu verhindern. Sie sollten bei MacDo jobben statt vor die Hunde zu gehen, so ungefähr (eine Alternative, die für Mittelschichtmenschen wahrscheinlich keine ist, aber das beweist nur, wie hochnäsig und dumm Mittelschichtmenschen oft sind). Irgendwann brachte ich die Mädchen dazu, mir von ihrem Leben zu erzählen. Es waren Höllengeschichten. Säufermütter mit psychotischen Schüben, Stiefväter, die sie in der Novemberkälte mit Eiswasser übergossen, Misshandlungen, Qualen, Schläge, ich konnte diese Geschichten kaum ertragen, und dabei waren es nur die Geschichten, die ich ertragen musste, nicht das, wovon die Geschichten erzählten. Eine Zeitlang rief ich bei den zuständigen Behörden an, damit etwas unternommen wurde, irgendetwas musste doch unternommen werden. Es geschah aber nie etwas. Man hörte mir zu, man schrieb auf, was ich meldete, man tat es zu einer Akte, man heftete sie ab. Und das war's. Der Staat war zu pleite, um sich um die Lage von Gerade-noch-Kindern kümmern zu können. Irgendwann, falls sie es überlebten, würden sie alt genug sein, um abzuhauen, das war besser, für obdachlose Kinder gab es ein größeres Budget. So war das, erzählt die Frau der Mutter der toten nie geborenen Tochter. Also nahm ich mir eines Tages, an dem ich besonders verzweifelt war, eines der Mädchen, das gerade bei mir im Büro saß, und hielt ihm eine, von Hilflosigkeit, Verzweiflung, sowas wie Wut eingegebene Ansprache. Du musst das überleben, sagte ich dem Mädchen, du musst das durchstehen, du darfst dich davon nicht kaputtmachen lassen, du musst dich an alles Gute klammern, das du bekommen kannst, und jeden Scheiß, der dir begegnet, so gut wie möglich umkurven, es ist eine elende Plackerei, ich weiß, und du bist dabei auf dich allein gestellt, aber anders geht es nicht, du musst da irgendwie durch, bis zu dem Zeitpunkt, an dem du wegkannst.
Dasselbe sag ich jetzt dir, sagt die Frau der Mutter des toten Babys. Es wird tot bleiben. Der Schmerz wird nicht weggehen, du kannst ihn nicht wegreden, wegfasten, wegessen, wegboxen, wegtherapieren. Du kannst ihn aber überleben, mit ihm leben zu lernen. Du kannst dir dabei von anderen helfen lassen, aber die Heilung, bei der, wie gesagt, der Schmerz nicht verschwindet, wird dein Job sein.
Das Mädchen übrigens, dem ich damals meine Ansprache hielt, habe ich ein paar Jahre später zufällig wiedergetroffen, sie hat bei Taco Bells gejobbt, war kurz davor, befördert zu werden, wir haben uns umarmt, guck doch, was aus mir geworden ist, hat sie stolz gesagt.
So und so ähnlich geht es zu in diesem Buch namens tiny beautiful things: Menschen schreiben Mails an "Dear Sugar", die Lebenshilfe-Kolumnistin der Literatur-Essay-AllesMögliche-Website Rumpus. Eine kommt beim Schreiben nicht weiter, einer fragt sich, was das alles soll, einer kann nicht ich liebe dich sagen, manche kommen nicht über ihre Verluste, Verletzungen, Verwüstungen hinweg. Sugar schreibt zurück. Es sind sehr lange Antworten, sehr viel länger als sie von medialen Lebenshelfern üblicherweise gegeben werden, sehr sehr viel länger. Dabei sagt sie oft nicht so viel zu dem, was die Menschen beschwert, die bei ihr Hilfe suchen. Ihre Antworten sind eher Erzählungen aus ihrem eigenen Leben und manchmal schlimmer als die Erzählungen, auf die sie reagiert. Manchmal ist es, als würde man zu einem Therapeuten gehen, und der Therapeut erzählt einem, wieviel kaum erträglicher Schmerz in seinem eigenen Leben schon vorgekommen ist. Merkwürdig, dachte ich immer wieder beim Lesen, aber ein paar Sätze weiter: es wirkt. Es ist kein Auftrumpfen, kein Übertrumpfen, kein Ablenken, kein Kleinerreden. Es ist etwas anderes, Schmerzensbekämpfung durch das Erzählen von Gleichnissen, radikale Empathie, wie es im Vorwort genannt wird.
So müsste es sein, das Schreiben, Reden, Erzählen, dachte ich, dann wäre es weniger dunkel und bleiern.
[Sugar, die lange anonym blieb, heißt Cheryl Strayed, sie hat einen Bestseller namens "Wild" geschrieben, die Geschichte einer langen Schmerzbekämpfungswanderung, die dieser Tage auch auf deutsch erschienen ist, ich habe sie nicht gelesen, aber wahrscheinlich wird sie gut sein.]
Sie erleben den Zweiten Weltkrieg so unmittelbar wie in keinem TV-Film zuvor. Sie setzen sich aus freien Stücken intensiven Angsterlebnissen aus. Sie sind dabei, wenn die Innerlichkeitspanzer nicht stand halten. Sie folgen Ihrem Vater in eine endlose, grausame und sinnlose Vernichtungsschlacht. Sie sind noch nie so unmittelbar in den Nationalsozialismus eingestiegen. Sie treiben viereinhalb Stunden lang weitgehend ohne emotionale Ausruhinseln durch die Geschichte. Sie lernen Vielschichtigkeit und Zerrissenheit kennen, jene Zwischenwelten, die eisige Achtundsechziger ihren Eltern nicht zugestehen mochten. Sie sehen zu, wie Mama und Papa, Oma und Opa Teil eines verbrecherischen Systems wurden, Menschen erschossen, sich von Literaturfreunden in eine Tötungsmaschine verwandelten und sich von einem Gestapo-Mann vögeln ließen. Sie stellen sich unausweichlich gewordene schmerzhafte Fragen. Sie begegnen Ihrem Vater auf Augenhöhe in den Schützengraben von Stalingrad. Sie begreifen, dass der Verlust von Anstand und Ehre so schlimm ist wie der Tod. Sie machen vielleicht die Erfahrung, wie es ist, wenn Tote ins Leben zurückkehren. Sie erkennen, was Ihre Großeltern so sprachlos hat werden lassen. Sie sehen, wie 50.000 Platzpatronen und 200 kg Schießpulver verballert werden. Sie fragen sich: Wer wären Sie selbst in diesem Film gewesen? Sie scheuen die Verstörung nicht, dass die Täter ganz gewöhnliche Männer und Frauen waren und als solche auch zurückkehrten in ihre Familien. Sie entwickeln unweigerlich eine tiefe Liebe zu diesen Figuren in ihrer verzweifelten Unzulänglichkeit.
Ich habe sogar noch die Drons live gesehen. Ach. 2015 war das. In diesem Club in Berlin, einer dieser Zwischennutzungsläden. Ja. Es war eine beängstigende Erfahrung. Ja. Eine Frau hatte eine Panikattacke. Ja. Die Hälfte der Leute setzte sich auf den Boden. Aus Angst, getroffen zu werden. Ja. Ich auch. Ja. Was halten sie von den Leuten, die stehen geblieben sind? Keta vielleicht. Oder was anderes, bei dem einem alles egal wird. Warum haben Sie das gemacht? Weil es geil war. Na ja. Fanden Sie nicht? Wie gesagt: Es war beängstigend. Es war vor allem richtig. Verstehe ich nicht. Macht auch nichts. Ich würde es aber gerne verstehen. Wir wollten das Drohnenthema bearbeiten. Das lag in der Luft damals. Warum grinsen Sie? Wegen der Formulierung. Sorry, ist mir nicht aufgefallen. Ickser hat diese Ultraleicht-Lautsprecher gefunden. Ich weiß immer noch nicht, wie diese Typen es geschafft haben, dass aus so kleinen Lautsprechern so viel Lautstärke kommt. Irgendwann hat er einen von diesen Lautsprechern auf einen Modellhubschrauber geklebt. So hat das angefangen. Bei diesem Konzert war es so, als wollten Sie das Publikum attackieren. Ja. Wollten Sie? Ja. [aufgewacht.]
Zwei Wochen Paris, fast nur auf Spielplätzen gewesen. Ein paar in der Nähe unserer Urlaubswohnung hatte ich als Lesezeichen auf der Google Map meines iPhones gespeichert, dankbar, dass man Spielplätze per Navigationssystem ansteuern kann, obwohl es mich wieder und wieder mit dem Kinderwagen in die Steilwandtreppen zum Sacre Coeur hoch schicken wollte. Als mir die Umgehungsschleifen zu lange wurden (die Autofahrerroute, wie ich später bemerkte), nahm ich für das allerletzte Stück doch noch die Stufen, ein paar hundert, kam mir vor, das Kind in seinem Wagen wie in einer Art Sänfte vor mir hertragend. Die anderen Montmartre-Touristen trotteten durch die Kirche, die zur Abbüßung der Verbrechen der Kommunarden errichtet worden war, ich patschte im fast leeren Parc de la Turlure an der Rückseite von Sacre Coeur auf den Knopf eines Wasserspenders. Nochmal, nochmal, nochmal, nochmal, nochmal, nochmal, sagte Fanny, nochmal, nochmal, nochmal. Je mehr sie mich scheuchte, desto schwerer wurde mir die Vergänglichkeit, es war der letzte Sommer, ahnte ich, in dem sie das tat. Ein paar Tage später zündete ich doch noch in der Kirche Kerzen an, zwei große für je zehn Euro, fünf kleine für zwei Euro das Stück, flüsterte Wünsche, die keinen etwas angehen, und dass endlich die Kommune anbreche, nicht nur in Paris.
Ich bin so glücklich gewesen in diesen zwei Wochen. Ich saß auf Spielplatzbänken und in Sandkästen und sah zu, dass Fanny nichts passierte. Ich half ihr Rutschen hoch und applaudierte, wenn sie unten ankam, ich hielt mich bereit, sie aufzufangen, falls sie von der Schaukel fiele, wackeln, sagte sie, wackeln, nochmal. Ich setzte sie in Karussellkutschen, winkte ihr bei jeder Runde zu, nochmal, sagte sie, nochmal. Ich setzte sie bei Monoprix in den Einkaufswagen und überreichte ihr feierlich den Käse, die Nudeln, die Entenrillettes, damit sie alles hinter sich in den Wagen legen konnte, danke, sagte ich und sie lachte. Ich ging mit ihr zum Bäcker an der Ecke, jeden Morgen bekam sie eine Chouquette geschenkt, dake, sagte sie. Ich lag mit ihr im Bett, Trotro, sagte sie, dann sahen wir uns auf meinem Ipad Trotro-Folgen an, sie kannte sie alle so gut, dass sie wusste, was gleich geschehen würde. Aua, sagte sie ein paar Augenblicke, ehe das Fahrrad Trotros zerbrach, Papa, sagte sie, und ein paar Sekunden später kam Trotros Vater mit Blumen nach Hause, Nana, sagte sie, schon saß Nana im Sandkasten, und Trotro, der ein wenig verliebt ist, tanzte für sie. Manchmal spielte sie nach, was sie sah. Dann warf sie den Puppenwagen Louises um, des Mädchens, deren Spielzeug sie für zwei Wochen übernommen hatte, und sich selbst neben ihn auf den Boden - der Fahrradunfall, den sie gerade gesehen hatte. Oder sie tanzte, wie Trotro vor Nana tanzte, drehte sich und ließ sich fallen, so wie Trotro vor Nana in den Sand fiel, weil er, um sie zu beeindrucken, die Tänze, die sein Papa und seine Mama ihm beigebracht hatten, zu einem einzigen kombinierte, nicht mit dem Schwindel rechnend, der ihn dabei überkam. Sie versteht jetzt Geschichten, dachte ich, und wie jedes Mal, wenn ich bemerke, dass sie plötzlich etwas Neues kann, ohne dass es ihr jemand beigebracht hätte, tat mir mein Glücklichsein fast weh, ein Schmerz, von dem ich mir oft einrede, dass ich ihn nicht verstehe, obwohl ich weiß, wo er herkommt; ein Kind zu lieben, verlangt, es so weit zu bringen, dass es einen irgendwann verlassen kann. Aber das wird zu sentimental jetzt.
Abends saßen wir zusammen und aßen frische Baguette, Käse, weiße Pfirsiche, auf dem Eurosportplayer liefen die Olympischen Spiele mit französischem Kommentar, dann legte ich mich zu ihr ins Bett, bis sie einschlief. Ich erzählte ihr Geschichten, Arm, sagte sie, weil sie in meinen Arm wollte, manchmal begann sie noch zu reden, Erzählungen zusammengesetzt aus den vielleicht 60, 80, 100 Wörtern, die sie jetzt kennt, Anni Rutsche, sagte sie, weil sie das F in ihrem Namen noch nicht aussprechen kann, oder Hops Hops. Ich hörte ihrem Atmen und den Geräuschen zu, die sie beim Trinken machte, dann war sie weg. Wenn ich eine halbe Stunde später nach ihr sah, hatte sie sich meistens um 90 Grad gedreht, manchmal hörten wir im Nebenzimmer, wie sie träumte, Bär, sagte sie, oder sie lachte im Schlaf.
Jeden Tag sah ich im Internet nach, ob sich Assad sich noch hielt und ob sie beschlossen hatten, Griechenland endgültig fertig zu machen (als erstes würden sie die Grenzen absperren, bildete ich mir ein). Es tat sich nicht viel, auch die Politiker waren in den Ferien. So dringend waren ihre Geschäfte auch wieder nicht, als dass sie sich nicht ein wenig Zeit zum Durchschnaufen nehmen konnten, sie würden es im Winter machen, sagte ich mir.
Doch in Wahrheit dachte ich nicht mehr sehr oft darüber nach,
es war wie immer, wenn sie lange genug über die Punkte auf ihren To-Do-Listen geredet hatten, Griechenland, Syrien, Vorhäute, fiel mir auf, wie völlig egal es war, was ich dachte, ob ich überhaupt etwas dachte,
eine Art moralischer Ermüdungsbruch,
vielleicht war es ihre Taktik, einen so lange zu beschallen, bis man nicht mehr konnte, und das war der Punkt, an dem sie loslegen konnten, weil man schon längst alle Dagegenseingefühle verbraucht hatte. Macht doch euren Kram, wenn er euch so wichtig ist, dachte man, vielleicht gebt ihr dann endlich Ruhe.
Ohnehin hielt das Kind uns in Trab, wollte rutschen statt mit Louises Spielzeug zu spielen, während ich mit dem Laptop auf dem Schoß daneben saß und irgendwelche Söder-Meldungen las. Rutsche, sagte sie, Rutsche, Rutsche. Ich packte meine Tasche, setzte sie in den Buggy und fuhr sie zum Square Léon Serpollet, wo es einen Spielplatz auf zwei Ebenen gab, dazwischen lag ein Garten mit Kräutern, Lavendel, Disteln, struppige südfranzösische Vegetation, erst in diesem Sommer habe ich durch das Kind bemerkt, wie viele solcher Lehr-Gärten es in Paris gibt, neben dem Le Bal wuchsen sogar wilde Himbeeren. Jenseits der Umzäunungen lag eine Stadt, von der ich kaum etwas mitbekam, am ehesten noch den Rhythmus von Parisern, die Kinder hatten und im Sommer nicht ans Meer gefahren waren. Abends um sechs, halb sieben kamen Väter von der Arbeit, mit Baguettes unterm Arm, die sie für das Abendessen gekauft hatten, spielten noch eine halbe Stunde, Stunde mit den Kindern, ehe alle nach Hause abzogen. Tagsüber fast nur Frauen, viele Nannies, manchmal Mütter von Großfamilien, Immigrantinnen aus dem Maghreb mit vier, fünf, sechs Kindern, lachende Pulks, Tüten voller Sandförmchen, unfassbar schöne Gewänder. Sonst hatte ich nicht genug davon bekommen können, stundenlang durch die Stadt zu gehen, war oft nachts noch losgezogen, ohne Ziel, bis ich nicht mehr konnte; jetzt tat ich kaum etwas anderes, als das Kind zu behüten.
Nicht aufhören, dachte ich idiotischerweise, es war ja absehbar, wie bald es wieder aufhören würde, sah uns schon wieder in Berlin mit Wintergesichtern, ein halbes Jahr Depression, mit einem Kind noch schwerer erträglich, sie hatten oft genug erzählt, wie schwer es ihnen im Winter fiel, die Kinder bei Laune zu halten, wurden immer wilder, gingen aufeinander los vor lauter Langeweile, sie kamen kaum an dagegen, die Großen gegen die Kleinen, die sich nicht wehren konnten, im Weg standen, umgeschmissen wurden, Pläne, die Kita so umzubauen, dass eine Art Pufferraum zwischen den Sechsjährigen und den Zweijährigen lag, bis endlich wieder die Sonne schien und alle wieder hinauskonnten, ein Pulk lachender Kinder,
mochte, wie sie in Paris Kinder zu mögen schienen, nichts Besonderes, nur dass jedes Mal, wenn wir mit dem Kind unterwegs waren, jemand es anlächelte, beflirtete, grüßte, gleich am ersten Tag hatten sich im Treppenhaus die Nachbarn begeistert, wie heißt du denn, Fanny sagte ich, ah! Fanny, sagte die alte Dame, ich bin Françoise und das ist Cem, wann hatte sich in Berlin je jemand beim Kind namentlich vorgestellt? So ging das zwei Wochen, und ich vergaß, wie in Berlin immer zwei, drei dabei waren, die ihre Genervtheit signalisierten, Augenrollen, Lippenspannung, Mikrobewegungen, die man dennoch nie übersah, wenn man mit dem Kinderwagen in ein Restaurant kam, Präventivbelästigtheit, weil das Kind weinen könnte, es genügte, dass zwei, drei das machten, damit man sich unerwünscht vorkam. In Paris kein einziger, nicht einmal in den Bussen, berührten das Kind, ein Betrunkener, der eben noch zeternd hinter seiner Frau hergelaufen war, blieb stehen, lachte und malte ihr mit seinen Fingern etwas auf den Kopf, ein Kreuz, einen Stern, irgendein Schutzzeichen, in der Mont Cenis ein alter Vietnamese, der in die Tasche griff und ein Bonbon für sie hervorzog und ihr auf der flachen Hand präsentierte. Wenn du ein alter Mann bist, schwor ich mir, hast du immer Bonbons für die Kinder dabei.
In der Wohnung ein Buch über Kindererziehung, ich las mich in das Kapitel über Zweijährige hinein, "wenn Sie sich dabei beobachten, Ihrem Kind zu häufig zu sagen, dass etwas schmutzig ist, sollten Sie sich prüfen, ob Sie von einem Reinlichkeitszwang befallen sind", ein Abschnitt über Einschlafschwierigkeiten, Sie müssen jetzt mit einigen Ängsten rechnen, mit cauchemars, mit der Angst vor dem Verlust der Freunde, mit peur du noir, Angst vor der Dunkelheit.
Sofort Erleichterung, wie immer, wenn ich den Eindruck hatte, dass jemand Kinder beschreiben, erzählen, verstehen wollte, statt einem zu sagen, wie man sie formen und fürs Leben fit machen könne; der merkwürdige Umstand, der mir irgendwann aufgefallen war, dass wahrscheinlich die Hälfte aller Bücher für kleine Kinder auf die eine oder andere Weise vom Einschlafen und Nichteinschlafenkönnen handelt, als wäre das Wichtigste an ihnen, dass sie einschlafen, sich beim Einschlafen nicht allzuviel Zeit lassen, durchschlafen, die ständigen Hinweise, wie wichtig es sei, Rituale und Rhythmen zu schaffen, Fütterungsstunden, Kuschelminuten, gleichbleibende Abläufe, an denen sie erkennen könnten, dass es nun aber wirklich Zeit für sie sei, Programmierung von Tagesabläufen, "Schläft es schon durch?"-Fragen, die irgendwann eingesetzt hatten, rätselhaft, warum das so wichtig war.
[Geschichte der Erziehungsobsessionen. Sauberkeit. Durchschlafen. Synapsenbildung. Solangewiemöglich-Kindheit. Irreparable-Gehirnschäden-Vermeidung. Persönlichkeit. Fluortabletten. Aufmerksamkeitsdefizitsyndrombekämpfung. &tc.]
[… sich nicht daran erinnern können, welcher Kleinkindgeneration man selbst angehörte…]
[…Geschichte der Wahrnehmungsstörungen von Erwachsenen, Kinder betreffend…]
[erwachsen werden: lernen, ein Langeweiler zu werden]
[Stillsitzenlernen]
[Stilllebenlernen]
[dieser Schmerz jetzt, mitten im Glücklichsein. Mag nicht, dass du größer wirst. Mag nicht, dass du auf diese Weise größer werden musst wie die Großen, ich inklusive, sich das Großsein ausgedacht haben.]
[die Rutschen, die es in Paris nicht gab: von denen man ganz zum Schluss ein Stück fallen, sich den Hinterkopf anschlagen kann, falls man nicht rechtzeitig die Beine ausfährt ("genau diesen Bewegungsablauf sollen sie lernen"); auf den Beinen statt auf dem Hintern landen; eine Zweijährige soll da auch noch nicht hinauf; versuchte mir, den Designer dieser Rutschen vorzustellen, an dem Punkt, an dem er der Rutsche noch einen rechten Winkel gibt statt sie sanft in den Sand auslaufen zu lassen, es muss diesen Punkt ja geben, an dem er so eine Gestaltungs-Entscheidung trifft: jetzt baue ich noch einen Abgrund…]
[DIN DIN EN 1176-1 bis 1176-7]
[Geräte, die nur einen einzigen Gebrauch zulassen wollen, & wie Kinder sich sofort weitere Verwendungen ausdachten, sobald sie verstanden hatten, was das Gerät und die Erwachsenen, die es gestaltet und gebaut hatten, von ihnen wollten: die Rutsche hoch, vor dem Rutschen einen Ball hinunterrollen lassen, nach dem Rutschen applaudieren, sich nach dem Rutschen in den Sand werfen und aua sagen, Ad-Hoc-Maschinen, die sie immer wieder bauen, ständig neue Choreografien; die Erwachsenen, die ihnen dabei zusehen und nicht wissen, ob sie bloß zusehen oder eingreifen sollen, "eine Rutsche ist zum Rutschen da", "das andere Mädchen will auch rutschen"; auf dem Eurosportplayer dagegen, auf dem die Olympischen Spiele liefen: lauter Menschen, die den einen einzigen Bewegungsablauf raus hatten, Körper, die an ihn angepasst, für ihn optimiert worden waren; der irre Moment meiner Kindheit, in dem es plötzlich den Fosbury-Flop gab, die Aufregung damals, das geht?, ist das erlaubt?; wahrscheinlich sind deswegen die Paralympics so viel besser als die Olympics: lauter Menschen mit unterschiedlichen Tricks statt alle mit demselben. Manchmal Gedankenexperimente, wie die Welt wäre, wenn von Kinder-Bewusstsein mehr übrig bliebe: Hundertmeter-Läufer, die zu tanzen beginnen, stehenbleiben und sich umsehen, zu krabbeln versuchen, gleich noch einmal rennen wollen; das geht doch nicht… ]
[… meine Begeisterungen noch immer, wenn ich Kindern zusehe: wie groß ist das denn alles!, die Augenblicke immer wieder, in denen ich denke, wie großartig sie sind, alle paar Tage ein neuer Trick, eine neue Methode, neue Lust, Wortschatzexplosionen, Charakter, "wie von selbst"; & wie blind es ist, Kleinkinder als langweilig abzutun, wir: die den ganzen Tag, jeden Tag dasselbe tun, reden, denken, empfinden;]
["Das kann doch jedes Kind". – Aber ich nicht mehr.]
[Dieses beängstigende Foto gesehen, Schädel eines Kindes, ging herum im Internet, sagte zu Okka: schau dir das an, so sieht es auch bei Fanny aus, und sie ohgottohgottohgottete, will so etwas gar nicht sehen, weil ich es mir dann vorstellen muss, ihr Empathiemitleiden immer, während ich mir das immer so genau wie möglich vorstellen muss, meine Art von Empathie: alles wissen zu wollen; und dann umzurechnen in meine Erwachsenenwelt, die Versuche, mir vorzustellen, wie es mir ginge, wenn ich in einer Welt lebte, in der man mit mir so umginge wie Erwachsene mit Kindern umgehen, "wie das wohl auf Kinder wirkt?", vielleicht deswegen immer wieder diese Erleichterung, wenn ich das Gefühl habe, dass jemand versucht, Kinder zu verstehen ("wie ginge es Ihnen, wenn Sie monatelang auf dem Rücken liegend herumgefahren würden und nur den Himmel sehen könnten und Gesichter, die sich über Sie beugen?")]
[aber was heißt es, "ein Kind zu verstehen"?]
[… wenn sie doch nur erzählen könnte…]
[abgebrochen]