74. Drons.
Ich habe sogar noch die Drons live gesehen.
Ach.
2015 war das. In diesem Club in Berlin, einer dieser Zwischennutzungsläden.
Ja.
Es war eine beängstigende Erfahrung.
Ja.
Eine Frau hatte eine Panikattacke.
Ja.
Die Hälfte der Leute setzte sich auf den Boden. Aus Angst, getroffen zu werden.
Ja.
Ich auch.
Ja.
Was halten sie von den Leuten, die stehen geblieben sind?
Keta vielleicht. Oder was anderes, bei dem einem alles egal wird.
Warum haben Sie das gemacht?
Weil es geil war.
Na ja.
Fanden Sie nicht?
Wie gesagt: Es war beängstigend.
Es war vor allem richtig.
Verstehe ich nicht.
Macht auch nichts.
Ich würde es aber gerne verstehen.
Wir wollten das Drohnenthema bearbeiten. Das lag in der Luft damals. Warum grinsen Sie?
Wegen der Formulierung.
Sorry, ist mir nicht aufgefallen. Ickser hat diese Ultraleicht-Lautsprecher gefunden. Ich weiß immer noch nicht, wie diese Typen es geschafft haben, dass aus so kleinen Lautsprechern so viel Lautstärke kommt. Irgendwann hat er einen von diesen Lautsprechern auf einen Modellhubschrauber geklebt. So hat das angefangen.
Bei diesem Konzert war es so, als wollten Sie das Publikum attackieren.
Ja.
Wollten Sie?
Ja.
[aufgewacht.]
64. nella memoria occidentale.
Foto, das mir seit Wochen nicht aus dem Kopf geht, auf einer italienischen Website namens "engramma. la tradizione classica nella memoria occidentale" gefunden. Weiß nicht, was es zeigt, über das hinaus, was man sehen kann: Ein amerikanischer Soldat (aber auch das ist schon eine Vermutung, die Uniform sieht so aus wie GI-Uniformen in Filmen über den 2. Weltkrieg, die ich gesehen habe) trägt ein Kind über der Schulter und in einem Netz an seiner Jacke den Kopf einer Statue, es muss noch Krieg sein, denke ich, sonst wären da nicht zwei Handgranaten, Faschistenkind, denke ich, warum tust du dir das an, denke ich, das ist Europa, denke ich, und du musst deinen Hintern hinhalten, denke ich und noch sonst alles mögliche, könnte auch ganz anders gewesen sein, als ich vollautomatisch denke, wird aber so gewesen sein, wie ich vollautomatisch denke, seltsames Bild, der Junge könnte noch leben, denke ich, der Soldat wahrscheinlich nicht mehr, die klassische Tradition, abendländisches Gedächtnis.
61. Autourette.
In diesem Sommer saßen wir so herum.
Wir hatten den Aufruf „Wir sind die Urheber“ unterschrieben und warteten darauf, dass etwas passierte.
Es passierte aber nichts.
Meinst, dass noch was passiert?, fragte Kapp.
Geh bitte, sagte Kippen.
Aber irgendetwas muss doch passieren, sagte Kapp.
Claudia Roth in Libyen zu allem entschlossen, sagte Kippen.
Was?
Claudia Roth in Libyen zu allem entschlossen, sagte Kippen.
So ein Sommer war das.
Irgendwann war es Lauer zu blöd geworden.
Wenn die sich absichtlich so blöd stellen, nehmen wir ihnen die Urheberrechte eben wirklich weg, sagte er, und der einzige Superdelegierte, der bei den Piraten noch abstimmte, gab ihm seine 1.112.324 Stimmen.
Sechs Wochen später hatten wir keine Urheberrechte mehr, die Novelle war zackig durch den Bundestag gepeitscht worden, irgendein Deal, hieß es, auffällig war, dass drei Tage später die Piraten der Flexiquote zugestimmt hatten, „ein Kompromiss zwischen unseren Post-Gender-Positionen und der Linie des Kegelclubs“, sie hatten nicht lange gebraucht, um wie die anderen zu werden.
Merkst du schon was?, wollte Kapp wissen.
Ach geh, sagte Kippen. Zwei haben mich runtergeladen, das war alles. Was für eine Scheiße.
Einer war ich, sagte Kapp. Ich wollte testen, ob es geht.
Na toll, sagte Kippen.
So ein Sommer war das.
Musst du dich auch melden? fragte Kapp. Die wollen von mir, dass ich Kindergärtner werde.
Kippen lachte.
Kapp: Kannst du bitte aufhören mit dem beschissenen Lachen!
Kippen: Wissen die überhaupt, was du machst?
Kapp: Kindergärtner!
Kippen: Du kannst ihnen ja deine Texte vorlesen.
Kapp: Meinst?
Kippen: Oder einer von den Müttern.
Kapp: Von einer Mutter, die einen Kindergärtner will, will ich ganz sicher nichts.
Kippen: Vielleicht ist sie mit einem Piraten verheiratet.
Kapp: Wenn sie mit so einem zusammen ist, will ich noch weniger von ihr.
Kippen: Vielleicht wacht sie auf, wenn du ihr deine Texte vorliest.
Kapp: Ganz sicher nicht.
Kippen: So wenig traust du deinen Texten zu?
Pause.
Kapp: Was passiert eigentlich, wenn ich mich nicht melde?
Kippen: Würde ich nicht riskieren an deiner Stelle.
So ein Sommer war das.
In diesem Sommer saßen wir so herum.
Kapp, der schon lange keine Frau mehr kennengelernt hatte, lernte eine Frau kennen.
Und? wollte Kippen wissen.
Ach, sagte Kapp.
Depp, sagte Kippen. Was hat sie denn gestört?
Was ich halt mache, glaub' ich.
Was du machst?
Beruflich.
Du hast doch keinen Beruf.
Wollte sie aber wissen. Ich hab gesagt: Ich könnte Autor sein.
Bist du total von Sinnen? Was wolltest du ihr denn mitteilen?
Wenn uns die Piraten nicht das Urheberrecht weggenommen hätten, wäre ich Autor. Weil die Piraten uns das Urheberrecht weggenommen haben, bin ich kein Autor. Aber ich könnte. Unter anderen Bedingungen.
Unter anderen Bedingungen könnte ich auch.
Hat sie irgendwie gestört, glaube ich jedenfalls.
So ein Sommer war das.
Kapp: In meinem Haus ist ein Autor eingezogen.
Kippen: Wer denn?
Kapp: Oder Autorin. Ich kenn ihn ja nicht oder sie.
Kippen: Wieso weißt du dann, dass der Autor ist?
Kapp: Oder die.
Kippen: ODER DIE!
Kapp: Weil es im Haus seit ein paar Tagen ein neues W-lan gibt, das CELAN heißt.
Kippen: Bist du deppert.
Kapp: Echt wahr.
Kippen: Und warst du schon drin im Celan?
Kapp: Logisch.
Kippen: Das Password war nicht wirklich „SchwarzeMilch“.
Kapp: „SchwarzeMilch1234“.
Kippen: Und?
Kapp: Nix und.
So ein Sommer war das.
Kippen: Wir können einen Darkroom aufmachen.
Kapp: Weil dich da keiner sieht.
Kippen: Was?
Kapp: Weil dich in einem Darkroom keiner sehen kann.
Kippen: Warum soll mich niemand sehen?
Kapp: Damit du eine geringfügige Chance bekommst, angefasst zu werden?
Kippen ist beleidigt. Nach längerem Schweigen: Trottel.
Kapp: Du willst doch einen Darkroom aufmachen.
Kippen: Doch nicht für Menschen.
Kapp: Sondern?
Kippen: Für Bücher.
Kapp: Bücher.
Kippen: Analogbücher.
Kapp: Einen Raum, in dem man Bücher anfasst.
Kippen: Genau.
Kapp: Wieso?
Kippen: Genießen Sie das haptische Erlebnis echter Papierbücher!
Kapp: Kafka befummeln!
Kippen: Zehn Minuten nur zehn Euro!
Kapp: Genial.
Kippen: Ein Knüller.
So ein Sommer war das.
Kippen: Die Geschichte eines Mannes, der unbedingt Autor werden wollte.
Kapp: Wieso?
Kippen: Wegen Norman Mailer.
Kapp: Geh bitte, wer kennt denn Norman Mailer?
Kippen: Von mir aus wegen Peter Handke.
Kapp: Schwammerlsuchen im Wald, Überlandwanderungen, noch mit der Hand schreiben.
Kippen: Na, dann wegen David Foster Wallace.
Kapp: Lieber nicht.
So ein Sommer war das.
41. Aufgewacht.
Ein paar Hipstern nachgegangen. In einer Wichsvideokabine gelandet. Es liefen aber keine Sexfilme. Stattdessen Szenen aus Erika’s Eck, Camelot-Abende, Muffathallenkonzerte, Verzweiflungen im U4. Irgendjemand musste mitgefilmt haben, die ganze Zeit über. Der Abend, an dem ich in Amsterdam zusammengebrochen war, nach 40 Stunden Schlaflosigkeit, Gabbergebumms, Wodkawürfeln und Gesprächen, bei denen man brüllen musste, um einander verständlich zu machen. Die Tage in den Bergen über Lyon, ich sah zu, wie ich nachts nackt das Lagerfeuer umrundete und dabei »Strangers in the Night« sang, mein Ticket zum Interview. Der Vortrag in Graz, nach dem wir bei Orhan zum Essen eingeladen waren und ich mich mit seiner Freundin festredete, bis klar war, dass sie meine werden würde. Ich saß und heulte. Was war das? Wer tat mir das an? Warum? Manchmal hämmerte es an der Kabinentür, wie lange denn noch, schimpfte jemand, dass es eine Frauenstimme war, irritierte mich weniger als der Umstand, dass sie mich siezte, ich musste eine alte Ausstrahlung haben. Ich blieb sitzen und warf alle paar Minuten vom Kleingeld nach, das in meinen Hosentaschen zu wachsen schien, Münzen, an die ich mich kaum noch erinnern konnte, Schillinge, 50-Pence-Achtecke, Zweimarkstücke, Francs. Burger, wie er mir den weißen Stöckelschuh zeigte, den seine Frau bei ihrem Auszug vergessen hatte, ich halte es in diesem Totenhaus nicht mehr aus, er hatte ihn sich auf sein Klavier gestellt und sagte: Momentan befinde ich mich am Ausgang einer manischen Phase. Es ging immer weiter zurück. Ich schluckte so viel Spinat, wie ich konnte und rannte aufs Klo, um ihn wieder auszuspucken. Ich stand bei R. im Krankenhaus, von ihren Eltern angestarrt, als wäre ich ein Mörder, und blieb stumm. Ich brachte M. zur Fähre, im Wissen, dass es das jetzt war. Manchmal vergaß ich, rechtzeitig Münzen nachzuwerfen, dann brach der Film jäh ab und setzte an einer ganz anderen Stelle wieder ein. Wie ich K. wiedergetroffen hatte, nach Jahren, in denen ich nichts von ihr gehört hatte, zwei Tage danach schliefen wir miteinander in dieser chaotischen Wohnung, in der sie mit B. lebte, der Wind bauschte den Vorhang; Mo, die von ihrer Angst erzählte; plötzlich ein paar Sekunden lang die Dotterzwillinge. Dann beugte sich C. über mich, ich versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, ob sie an mich oder ihn dachte, aber einen Wimpernschlag, ehe ich sehen konnte, ob sie die Augen offen oder geschlossen hatte, wieder Dunkelheit ein, ich hatte keine einzige Münze mehr. Als ich wechseln lassen wollte, saß an der Kasse Julius. Julius, sagte ich, das geht nicht. Er lächelte und zeigte auf ein Namensschild, auf dem Marc stand. Warum macht ihr das, fragte ich. Tut mir leid, sagte Julius, wir dürfen keine Scheine annehmen.
In Clifden. Wir sprachen kaum, sahen meistens den Wellen zu. Manchmal wollte Wittgenstein etwas sagen, ich zeigte dann auf mein Knie. Nachts schliefen wir in einem Bett, ich hörte seinem Atmen beim Rasseln zu, wenn er aus seinen Träumen hochfuhr, gab ich ihm Milch und Krapfen. Er schlief dann gleich wieder ein.
Wieder in Wien. Es war alles wie immer, Pfiff Bier und Eibrot bei Trzesniewski, zahme Eichhörnchen in Schönbrunn, Hochher in der American Bar. Doch alle sprachen jetzt serbokroatisch, auch ich. Warum nicht gleich so, fragte ich Velimir. Velimir zuckte bloß mit den Achseln. Du stellst Fragen.
Auf dem Urfahraner Markt, kurz nach dem Dritten Weltkrieg. Ich muss mindestens 90 sein, bin aber noch vollfit. Ich sitze mit einer 30jährigen in einem Autodromauto. Aus dem Lautsprecher unentwegt die Stimme Peter Sloterdijks: Bitte einsteigen, Spaß für die ganze Familie, einsteigen bitte.
Wir sitzen zu viert im Ministerium um ein Schachbrett und spielen, jeder von seiner Kante aus, weiß, schwarz, pink, orange. Viererschach, sagt einer, bist du deppert!
In einem Restaurant. Ich kann nicht bezahlen. Einer alten Dame ist meine Zwangslage unangenehm, und sie begleicht die Rechnung für mich. Sie sagt, dafür müsse ich ihre Tochter heiraten. Zeremonie in der Familienkapelle, meine Braut, die ich vor dem Altar zum ersten Mal sehe, sieht im Gesicht wie Vincent Gallo aus. Aber sie ist ein Mann, sage ich im Schlafzimmer. Machen Sie sich bitte nicht lächerlich, sagt meine Schwiegermutter. Wir schlafen miteinander, danach spielt Vincent auf der Gitarre »I Wrote this Song for the Girl Paris Hilton«. Gut gemacht, Junge, sagt seine Mutter.
Ich bin mit einem Hund befreundet. Jeden Tag unternehmen wir lange Spaziergänge. Wenn ich ihm sein Dosenfutter gebe, wedelt er aufgeregt mit dem Schwanz. Ich habe den Verdacht, dass er nachts in meinen Büchern liest, auf meinem Computer in meinen Texten Wörter austauscht, Butterkäsebrote isst. Doch er lässt sich nicht erwischen, nie.
Ich sehe wieder aus wie mit siebzehn, schulterlange Haare, sehr dünn, John-Lennon-Brille. Na dann viel Spaß, sagt O. etwas ungehalten. Aber ich kann doch nichts dafür! Kannst du nie, sagt sie. Ich bin immer noch derselbe, sage ich. Aber die Haare müssen ab, sagt sie. Nicht die Haare, sage ich.
Ich stehe mit einer Frau, die ich nie zuvor gesehen habe, auf einem Balkon. Wir umarmen uns. Unter uns Tumult, Schmährufe, Trillerpfeifen. Was haben die bloß gegen uns, fragt die Frau. Alles wird gut, flüstere ich ihr ins Ohr. Dabei weiß ich in diesem Augenblick, dass ich bald sterben muss, auf der Suche nach unserem Kellerabteil werde ich immer tiefer hinab steigen, bis ich den Erdkern erreiche, vom Erdkern aber ist noch nie jemand zurückgekehrt. Der Club der Republik wird dennoch nicht wieder eröffnet, mein Opfer war umsonst. Die Frau auf dem Balkon wird glücklicher werden als es mit mir möglich gewesen wäre, nur manchmal wirft sie sich vor, dass sie sich an mein Gesicht kaum noch erinnern kann.
Mit Kung Shing in einem Mopedtaxi in Siam, es ist stockdunkel. Plötzlich bleibt der Fahrer stehen. Er sagt, er habe kein Benzin mehr, aber wir sollten ruhig warten, er käme gleich wieder. Nach 40 Minuten hören wir wieder Frösche quaken. Du Praschl, sagt Kung.