vague.

Sonntag, 8. Januar 2012

41. Aufgewacht.

Ein paar Hipstern nachgegangen. In einer Wichsvideokabine gelandet. Es liefen aber keine Sexfilme. Stattdessen Szenen aus Erika’s Eck, Camelot-Abende, Muffathallenkonzerte, Verzweiflungen im U4. Irgendjemand musste mitgefilmt haben, die ganze Zeit über. Der Abend, an dem ich in Amsterdam zusammengebrochen war, nach 40 Stunden Schlaflosigkeit, Gabbergebumms, Wodkawürfeln und Gesprächen, bei denen man brüllen musste, um einander verständlich zu machen. Die Tage in den Bergen über Lyon, ich sah zu, wie ich nachts nackt das Lagerfeuer umrundete und dabei »Strangers in the Night« sang, mein Ticket zum Interview. Der Vortrag in Graz, nach dem wir bei Orhan zum Essen eingeladen waren und ich mich mit seiner Freundin festredete, bis klar war, dass sie meine werden würde. Ich saß und heulte. Was war das? Wer tat mir das an? Warum? Manchmal hämmerte es an der Kabinentür, wie lange denn noch, schimpfte jemand, dass es eine Frauenstimme war, irritierte mich weniger als der Umstand, dass sie mich siezte, ich musste eine alte Ausstrahlung haben. Ich blieb sitzen und warf alle paar Minuten vom Kleingeld nach, das in meinen Hosentaschen zu wachsen schien, Münzen, an die ich mich kaum noch erinnern konnte, Schillinge, 50-Pence-Achtecke, Zweimarkstücke, Francs. Burger, wie er mir den weißen Stöckelschuh zeigte, den seine Frau bei ihrem Auszug vergessen hatte, ich halte es in diesem Totenhaus nicht mehr aus, er hatte ihn sich auf sein Klavier gestellt und sagte: Momentan befinde ich mich am Ausgang einer manischen Phase. Es ging immer weiter zurück. Ich schluckte so viel Spinat, wie ich konnte und rannte aufs Klo, um ihn wieder auszuspucken. Ich stand bei R. im Krankenhaus, von ihren Eltern angestarrt, als wäre ich ein Mörder, und blieb stumm. Ich brachte M. zur Fähre, im Wissen, dass es das jetzt war. Manchmal vergaß ich, rechtzeitig Münzen nachzuwerfen, dann brach der Film jäh ab und setzte an einer ganz anderen Stelle wieder ein. Wie ich K. wiedergetroffen hatte, nach Jahren, in denen ich nichts von ihr gehört hatte, zwei Tage danach schliefen wir miteinander in dieser chaotischen Wohnung, in der sie mit B. lebte, der Wind bauschte den Vorhang; Mo, die von ihrer Angst erzählte; plötzlich ein paar Sekunden lang die Dotterzwillinge. Dann beugte sich C. über mich, ich versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, ob sie an mich oder ihn dachte, aber einen Wimpernschlag, ehe ich sehen konnte, ob sie die Augen offen oder geschlossen hatte, wieder Dunkelheit ein, ich hatte keine einzige Münze mehr. Als ich wechseln lassen wollte, saß an der Kasse Julius. Julius, sagte ich, das geht nicht. Er lächelte und zeigte auf ein Namensschild, auf dem Marc stand. Warum macht ihr das, fragte ich. Tut mir leid, sagte Julius, wir dürfen keine Scheine annehmen.


In Clifden. Wir sprachen kaum, sahen meistens den Wellen zu. Manchmal wollte Wittgenstein etwas sagen, ich zeigte dann auf mein Knie. Nachts schliefen wir in einem Bett, ich hörte seinem Atmen beim Rasseln zu, wenn er aus seinen Träumen hochfuhr, gab ich ihm Milch und Krapfen. Er schlief dann gleich wieder ein.


Wieder in Wien. Es war alles wie immer, Pfiff Bier und Eibrot bei Trzesniewski, zahme Eichhörnchen in Schönbrunn, Hochher in der American Bar. Doch alle sprachen jetzt serbokroatisch, auch ich. Warum nicht gleich so, fragte ich Velimir. Velimir zuckte bloß mit den Achseln. Du stellst Fragen.


Auf dem Urfahraner Markt, kurz nach dem Dritten Weltkrieg. Ich muss mindestens 90 sein, bin aber noch vollfit. Ich sitze mit einer 30jährigen in einem Autodromauto. Aus dem Lautsprecher unentwegt die Stimme Peter Sloterdijks: Bitte einsteigen, Spaß für die ganze Familie, einsteigen bitte.


Wir sitzen zu viert im Ministerium um ein Schachbrett und spielen, jeder von seiner Kante aus, weiß, schwarz, pink, orange. Viererschach, sagt einer, bist du deppert!


In einem Restaurant. Ich kann nicht bezahlen. Einer alten Dame ist meine Zwangslage unangenehm, und sie begleicht die Rechnung für mich. Sie sagt, dafür müsse ich ihre Tochter heiraten. Zeremonie in der Familienkapelle, meine Braut, die ich vor dem Altar zum ersten Mal sehe, sieht im Gesicht wie Vincent Gallo aus. Aber sie ist ein Mann, sage ich im Schlafzimmer. Machen Sie sich bitte nicht lächerlich, sagt meine Schwiegermutter. Wir schlafen miteinander, danach spielt Vincent auf der Gitarre »I Wrote this Song for the Girl Paris Hilton«. Gut gemacht, Junge, sagt seine Mutter.


Ich bin mit einem Hund befreundet. Jeden Tag unternehmen wir lange Spaziergänge. Wenn ich ihm sein Dosenfutter gebe, wedelt er aufgeregt mit dem Schwanz. Ich habe den Verdacht, dass er nachts in meinen Büchern liest, auf meinem Computer in meinen Texten Wörter austauscht, Butterkäsebrote isst. Doch er lässt sich nicht erwischen, nie.


Ich sehe wieder aus wie mit siebzehn, schulterlange Haare, sehr dünn, John-Lennon-Brille. Na dann viel Spaß, sagt O. etwas ungehalten. Aber ich kann doch nichts dafür! Kannst du nie, sagt sie. Ich bin immer noch derselbe, sage ich. Aber die Haare müssen ab, sagt sie. Nicht die Haare, sage ich.


Ich stehe mit einer Frau, die ich nie zuvor gesehen habe, auf einem Balkon. Wir umarmen uns. Unter uns Tumult, Schmährufe, Trillerpfeifen. Was haben die bloß gegen uns, fragt die Frau. Alles wird gut, flüstere ich ihr ins Ohr. Dabei weiß ich in diesem Augenblick, dass ich bald sterben muss, auf der Suche nach unserem Kellerabteil werde ich immer tiefer hinab steigen, bis ich den Erdkern erreiche, vom Erdkern aber ist noch nie jemand zurückgekehrt. Der Club der Republik wird dennoch nicht wieder eröffnet, mein Opfer war umsonst. Die Frau auf dem Balkon wird glücklicher werden als es mit mir möglich gewesen wäre, nur manchmal wirft sie sich vor, dass sie sich an mein Gesicht kaum noch erinnern kann.


Mit Kung Shing in einem Mopedtaxi in Siam, es ist stockdunkel. Plötzlich bleibt der Fahrer stehen. Er sagt, er habe kein Benzin mehr, aber wir sollten ruhig warten, er käme gleich wieder. Nach 40 Minuten hören wir wieder Frösche quaken. Du Praschl, sagt Kung.

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