vague.

*

Ob sie Godard kenne, fragte ich Louise, während wir warteten, bis die Mädchen mit ihrem Eis fertig waren. Warum willst du das wissen, wollte sie wissen. Weil ich keine Ahnung habe, sagte ich, ob jemand wie Godard Menschen in deinem Alter noch etwas sagt. Klar, sagte Louise, sagt mir Godard etwas, aber für mich gehört er zu den Leuten, von denen man nicht weiß, ob sie noch leben oder schon tot sind. Jetzt ist er tot, sagte ich. Oh, sagte sie und googlete der Nachricht hinterher. I don't know how to say it in English, sagte sie, he had help. Oui, sagte ich, assisté. In France that would not be allowed, sagte sie, he lived in Switzerland, sagte ich. Dann waren die Mädchen mit dem Eis fertig, au revoir.

Wieder einer, dachte ich. Dass man älter wird, merkt man auch daran, wie oft man "wieder einer" denkt. Das ist nicht schwer zu erklären: Menschen, die - einem selbst oder der Welt - aus irgendeinem Grund wichtig waren, als man noch jünger war, waren damals 20 oder 30 Jahre älter als man selbst. Wenn man dann 60 geworden ist, sind sie dem durchschnittlichen Ablaufdatum eines menschlichen Lebens so nahe gekommen, dass der eine oder andere stirbt. Dennoch hat man den Eindruck, als ginge etwas (eine Ära! eine Epoche!) zu Ende.

Ein paar Tage vor Godard war Alain Tanner gestorben. Seine Filme, von denen ich nur drei gesehen habe, mochte ich lieber als die von Godard, sehr viel lieber. Sie schauten zu, sie mochten die Menschen, denen sie zuschauten.

Godard wollte mir immer etwas erklären. A man explaining things to me. Wenn er es nicht tat, sah ich gerne zu. Die Passagen, in denen das Streichquartett Beethoven-Streichquartette spielt, Gesichter beim Reden, die Kinder in Deux enfants, die sich von seinem Gedrängel nicht schubsen ließen. Aber das hielt er nicht lange durch. Er musste gleich wieder die Kontrolle übernehmen, kam mir vor, einen Text, eine Schrift, einen Godardgedanken darüber legen.

Vielleicht ist das ein falscher Eindruck, ich habe nicht so viele Godards gesehen, vielleicht 15, die aus seinen letzten Jahren gar nicht mehr. Eine Zeitlang kam es mir wichtig vor, Godard zu sehen. Deswegen saß ich zum Beispiel in London in irgendeinem kleinen Kino und zog mir in einer Triple Feature hintereinander Weekend, Tout va bien und Letter to Jane rein. Oder war aufgeregt, weil sie im Fernsehen seinen Rolling Stone-Film spielten. Es gab ikonische Szenen. Der nackte Hintern Brigitte Bardots, der von Kitschmusik überflutet wurde, das Louvre-Wettrennen in der Außenseiterbande, Edie Sedgwick Jean Seberg, wie sie in Außer Atem auf den Champs Elysées die Herald Tribune verkauft, der Tanz von Anna Karina in der Außenseiterbande. Ich sah, warum das berühmt war. Aber ich mochte es nicht, es kam mir so darauf angelegt vor, von den Leuten, die Godard mochten, als Godardgenialität gemocht zu werden.

Ziemlich sicher tue ich ihm Unrecht. Ich müsste mir das noch einmal ansehen. Aber wahrscheinlich würde mich die Godardsicht auf die Welt immer noch stören. Das Fuchtelnde der Männer. Die Witzeleien. Wie oft Männer ihre revolutionären Sprüche aufsagen, wie oft die Frauen Prostituierte sind. Und als er in der Außenseiterbande-Tanzszene im Off die Gedanken der drei Tanzenden aufsagen lässt, ist es bei Odile selbstverständlich die Frage, ob die beiden Jungs sehen, wie sich ihre Brüste beim Tanzen bewegen.

Ich glaube, ich mag Filme lieber, die ihre Figuren in Ruhe lassen. Ich glaube, ich wünschte mir, dass die in seinen Filmen aufstehen und aus ihnen hinausgehen, anderswohin. Aber sie mussten immer bleiben.

*

Nach ein paar hundert Tagen, drei Impfungen, mehreren Lockdowns für die Kinder, abgesagten Sommerreisen und Geburtstagspartys, ermüdend vielen Artikeln über Inzidenzen und immunologische Lagen, nach Lagerkollern, Sehnsüchten nach vollen Bars, lauten Restaurants und Gedrängen, bekam ich es dann auch. Es war ein milder Verlauf; anderthalb Tage heftige Kopfschmerzen, Husten, ein wenig Schnupfen, Abgespanntheit, Matschigkeit. Acht Tage lang ein immer unscheinbarer werdender zweiter Strich auf dem Test.

Das schlimmste Symptom: Überdruss, fast schon aggressives Angeödetsein, schwer zu beschreiben, als wäre das alles keine Krankheit gewesen, die immerhin die Welt angehalten hat, um sie dann noch dümmer und unfreundlicher neuzustarten, als sie vor der Pandemie gewesen war. Sondern bloß eine Belästigung. Etwas Schales.

Nachdem ich die Impfungen bekommen hatte, es kommt mir mittlerweile vor, als wäre es im letzten Jahrhundert gewesen, bin ich dankbar und euphorisch gewesen, jemand, der sich darüber freute, dass man einen ehemaligen Flughafen in ein paar Tagen zu einem Impfzentrum umgebaut hatte, mit freundlichen Brudis, die den alten Menschen in der Warteschlange zuvorkommend Campingstühle ausklappten, und coolen Ärztinnen, die nach ihren Krankenhausschichten noch ein paar Stunden in Arme stachen; ich feierte es, dass die Wissenschaft innerhalb weniger Monate einen Schutz gegen den Virus gefunden hatte, war regelrecht besoffen vor Glück und Dankbarkeit darüber, dass es Ärzte gab, die lange vor den Stiko-Empfehlungen auch Vierjährige immunisierten, oder wie Menschen ("wir") miteinander umgehen konnten.

Jetzt: nur noch verkatert. Sehr seltsam.

“Der Abrieb unserer Turnschuhe“. - Morgens das Frühstücksfernsehen angemacht, aus keinem besonderen Grund, manchmal mache ich den Fernseher an, damit er nicht sinnlos herumsteht, mittlerweile schaue ich mir Filme auf dem Handy-Screen an, weil ich so mit einem Film im Bett liegen kann, man müsste zum Filmschauen liegen, denke ich, aber seitlich, nicht auf dem Rücken, denke ich, nicht wie in diesen Kinoliegesitzen, die es manchmal gibt, sondern auf der Seite wie vor dem Indenschlafkippen, jedenfalls wenn man wie ich seitlich schläft, Filme im Sitzen anzusehen, lenkt, denke ich, die Haltung Gedanken Positionen Einfälle in Richtungen, wo ich sie nicht haben will, wenn ich mich zum Beispiel zwischen Godard und Pialat entscheiden müsste, würde ich lieber mit einem Pialatfilm im Bett liegen als vor einem Godardfilm sitzen und mich angodarden lassen,

jedenfalls dauerte es nur ein paar Minuten, bis das Frühstücksfernsehen mir mitteilte, dass ich mich am Weltuntergang mitschuldig mache, Reportage aus einem Wertstoffsortierzentrum, hinten fuhren Werkstoffe auf einem Fließband durchs Bild, davor zählte eine Nachhaltigkeits-Influencerin auf, wie viele unserer Verhaltensweisen Plastik ins Meer emittieren. „Der Abrieb unserer Turnschuhe“, sagte sie, und ich dachte sofort well, fuck you too, und fragte mich, ob es vielleicht der Zwang ist, den Content nie versiegen zu lassen, der Menschen wie diese Influencerin so mikroaggressiv mikromürrisch bosselig sein lässt,

[ & gleich hinterher, ob es der Zwang ist, den Content nie versiegen zu lassen, der Menschen wie mich herumbitchen lässt: Typen, die über Sätze im Fernsehen abledern, geht's noch? ]

98.

Im sechsten Traum dieses Jahres stand ich an einem Schreibpult, von Papierstapeln, Büchertürmen, Krimskrams umzingelt, beeilte mich, etwas fertig zu schreiben, ehe Okka zurückkam, euphorisch, sie bald wieder zu sehen, der letzte Satz, den ich schrieb, ehe es an der Tür läutete, lautete: Frischer Fisch ist gut für den Geschmack, ich war stolz auf diesen Satz, er kam mir vor wie eine Erleuchtung.

Das Irritierende daran: Okka hat eine Fischphobie, Erinnerungen an eine Großmutter, die an Karpfengräten saugte, nur bei klarem Wasser ins Meer, falls kein Schwarm in der Nähe ist.

97.

Bei Ikea. Plötzlich Männer in Kampfanzügen, Schreie, Schüsse, ich wachte noch rechtzeitig auf: Das war der fünfte Traum dieses Jahres, in der Nacht nach dem Massenmord in der Redaktion von Charlie Hebdo, ich konnte danach lange nicht wieder einschlafen. Ich bin nicht Charlie.

96.

In der sechsten Nacht des Jahres weckte mich Okka, komm, sagte sie, dein Kind spuckt, & während ich benommen zusah, wie sie dem Kind die Haare abwischte & benommen die Feuchttücher holte & benommen Decken schleppte, neue Betten baute, tat mir der Knöchel weh, als hätte in Paris an der Place des Pyramides ein Auto mich aus dem Dunkeln angefahren, aber es war kein Traum, sondern der Anfang von Modianos Unfall in der Nacht, den ich vor dem Einschlafen gelesen hatte, warum aber tat mir mein Knöchel weh, wie konnte mein Knöchel träumen?

92.

Im dritten Traum dieses Jahres muss etwas so Schreckliches geschehen sein, dass ich mit einem Nein-Schrei aufwachte, um dann vergebens zu versuchen, mich an den Schrecken zu erinnern. Nichts.

90.

Im Sommer bin ich im 9/11 Memorial Museum gewesen, das ein paar Wochen zuvor eröffnet worden war, an meinem freien Tag während unserer zweieinhalb Wochen in New York, & fast hätte ich auf ihn verzichtet, weil ich mit abscheulichen Kopfschmerzen aufgewacht war, dann aber wollte ich doch wissen, wie das Museum geworden war, & erst dort wurde mir klar, dass das auch ein Grab war, ungeborgene, nicht mehr zuordenbare Leichenteile, Reposed behind this wall are the remains / of many who perished at the / World Trade Center site on September 11, 2001 hieß es auf einer Tafel, einen Augenblick lang wollte mein linker Arm schon ein Kreuzzeichen schlagen, die Geste, die mir als einzige jedes Mal einfällt, wenn ich Toten nahe komme (auf Friedhöfen, vor Gedenktafeln, in Paris vor den Rosen, die jemand für einen umgekommenen Maquisard dagelassen hatte), ich hielt mich dann zurück (weil ich nicht glaube), senkte bloß den Kopf, ging den Weg entlang, in die Tiefe hinunter, wo bis zum 11. September 2001 die Untergeschosse eines Turms des WTCs gewesen waren, verbogene Stahlträger, die Reste einer Treppe, über die Menschen aus den Türmen geflohen waren, eine Wasserschutzwand, die standgehalten hatte, ein wenig wie in Ubahn-Stationen, in denen hinter Glas Zeugnisse der Römer ausgestellt werden,

[ein anderes Imperium, das von Arabern angegriffen wurde; im Herbst 2014 dann mein plötzliches, mir selbst nicht erklärliches Interesse am Untergang des Oströmischen Reiches, plötzlich musste ich unbedingt auch die Geheimgeschichte von Prokopios lesen, in der er die First Lady Theodora I. als eine Frau zu diffamieren versucht, die es gerne mag, mit dem Dienstpersonal zu schlafen und es bedauert, dass ihre Brüste keine Öffnungen haben, die penetriert werden könnten

On the field of pleasure she was never defeated. Often she would go picnicking with ten young men or more, in the flower of their strength and virility, and dallied with them all, the whole night through. When they wearied of the sport, she would approach their servants, perhaps thirty in number, and fight a duel with each of these; and even thus found no allayment of her craving. Once, visiting the house of an illustrious gentleman, they say she mounted the projecting corner of her dining couch, pulled up the front of her dress, without a blush, and thus carelessly showed her wantonness. And though she flung wide three gates to the ambassadors of Cupid, she lamented that nature had not similarly unlocked the straits of her bosom, that she might there have contrived a further welcome to his emissaries.<Quelle>]

saß dann sicher eine Stunde lang in einem dunklen Raum, in dem Fotos von Menschen, die beim Einsturz der Türme ums Leben gekommen waren, auf eine Wand projeiziert wurden, ein Kellner im Windows of the World, eine Frau, die ihre Mutter zum Lunch eingeladen hatte, ein Bankangestellter aus New Jersey, & kein Gedenken würde sie je wieder zum Leben erwecken können, ehe ich schließlich dem Unglück nachging, einer Zeitleiste entlang, die es zu rekonstruieren versuchte, Wände mit Bildschirmen, auf denen sich in Endlosschleifen zuerst das eine, dann das andere Flugzeug in die Zwillingstürme bohrten oder auf denen die Moderatoren einer Frühstücksfernsehen-Sendung die Nachricht erhielten, dass am WTC etwas passiert war, Tafeln mit den Protokollen von Funksprüchen, Radiomeldungen, Notrufen, Botschaften auf Anrufbeantworten, ein Zeitstrahl, auf dem alle paar Sekunden etwas Neues, immer noch Schrecklicheres geschah (das ich 13 Jahre danach noch immer nicht glauben konnte). Später las ich, dass es bei der Eröffnung des Memorial Museums Kritik gegeben hatte; der Condenast Verlag hatte zu einem Cocktailempfang eingeladen, im Museumshop waren fragwürdige Souvenirs angeboten worden, eine Käseplatte zum Beispiel, auf der die Absturzstellen der vier entführten Flugzeuge markiert waren, Zorn gegen den Versuch, das Sterben & Verschwinden zu trivialisieren (ein Zorn, für den ich längst zu müde geworden war, & zu unwillig, anderer Menschen Weisen, sich zu erinnern, abzusnobben; dachte, dass F., wenn ich sie mitgenommen hätte, mich sicher um eine Tasse mit einem Rettungshund angegangen wäre, & an Gespräche, in denen ich ihr von Hunden erzählt hätte, die in Trümmern nach Überlebenden suchen, & dass wir das dann sicher spielen hätten müssen, weil sie alles spielen muss, was sie verstehen will), fuhr hoch zum Union Square, kaufte mir bei Barnes & Noble (einem Ort, dem ich ansah, dass er sich nicht mehr lange gegen das Amazon-Imperium wehren würde können) Rebecca Solnits Men Explain Things To Me, bei Whole Foods ein Sandwich, das ich nach einem Bissen wieder wegwarf, eine große Flasche Orangensaft, die ich auf dem Rasen sitzend in einem einzigen Zug austrank, als wäre ich am Verdursten gewesen.

88.

Der zweite Traum dieses Jahres. Ich war mit einer Frau, die ich nicht kannte, in einem Haus, wir suchten nach Gefäßen, in denen wir die Farbe anmischen konnten, mit der wir die Wände streichen wollten, ich fand eines, das wie ein Katzenkorb aussah (an der Vorderseite eine Klappe mit einem Gitter, durch das die Katze hinaussehen kann1), ich griff von oben (wo keine Öffnung war) hinein und räumte Zeug aus, im allerletzten Moment bemerkte ich, dass da auch Klamotten waren, dann goss ich von oben himmelblaue Farbe in den Katzenkorb, indessen hatte sich einer der Handwerker (?) verkrümelt, ich schickte mich gerade an, meine Walze in das Himmelblau zu tauchen, als, zum ersten Mal seit zwei Wochen, der iPhone-Wecker losging, weil ich mich für heute vormittags mit einer Frau verabredet hatte, um in der Kita aufzuräumen, die zwischen den Jahren neu gestrichen worden ist & mit der ich gestern spätabends noch gesimst hatte, ich darf nicht vergessen, hatte ich noch vor dem Einschlafen gedacht, Fannys rote Kiste mit ihren Wechselsachen mitzunehmen.

Bis vor kurzem habe ich jedem & selbst Patti Smith erzählt, dass ich nie träume, jetzt, während ich den zweiten Traum dieses Jahres notiere, denke ich, dass ich angefangen habe, wie eine Hausfrau zu träumen (& wie ich an Patti Smith immer gemocht habe, dass sie ein paar Jahre Hausfrau & Mutter gewesen ist, jeden Morgen in aller Früh aufstehend, hatte sie mir erzählt, um zu schreiben, ehe die Kinder aufwachten, [ich solle das doch auch versuchen, sagte sie], & [ irgendwann habe ich mich sogar darauf gefreut, so früh aufzustehen, sagte sie].

[She had only one sin; she was without beauty, das andere Überbleibsel aus dieser Nacht, ein Satz aus Patrick Hamiltons Twenty Thousand Streets Under the Sky.]


1 In Brooklyn die Frau, die mit einem Kaninchen an der Leine spazieren ging.

86.

Der erste Traum dieses Jahres: Ich sitze, alleine, in einem Flugzeug nach Moskau (es gibt keinen Grund, nach Moskau zu fliegen), immer wieder singt eine 60er-Jahre-Jazzsängerin "Feeling good at Moscow boarding school", aha, denke ich, My Fair Lady, das Flugzeug zieht eine scharfe Kurve nach rechts, meine Handtasche (eine nachtblaue Sofia Coppola bag), dann wache ich auf.

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