Reinspringen
Freitag abends ist es am schönsten. Die einen kommen noch nach Hause, andere gehen schon wieder weg, Wochenendaufgeputschtheit, in den Restaurants am Straßenrand sehe ich Menschen lachen, ich kann sie nicht hören, weil ich meine Playlist in den Ohren habe, in ein paar Minuten zusammengeklopft, Impulsklicken auf Spotify, um dann verwundert festzustellen, wie perfekt der Flow war, auch wenn zweimal Kalabrese hintereinander nicht geht, aber ich will es nicht mehr ändern, auch nicht die zwei, drei Stücke löschen, die ich jedes Mal überspringe. Seit ich verstanden habe, dass sich das erledigen lässt, indem ich auf den linken Ohrhörer tippe, macht das keine Mühe mehr. Immer dieselben Lieder also, immer dieselbe Runde, die Chodo runter, die Greifswalder bis zur Heinrich Roller, hoch zur Wins, die Wins bis zur Chodo, rechts hoch nach Hause, drei Etagen noch, dann erst mache ich die Musik weg, stoppe das Workout auf der Uhr und schaue mir meine Werte an.
Das ist meine Routine jetzt.
Sie hat mir nicht den Arsch gerettet, weil mein Arsch nicht gerettet werden musste, er war immer das Beste an meinem Körper, aber die Seele, das Leben, ich glaube das wirklich, obwohl es doof klingt. Drei Jahre lang, vielleicht auch länger, bin ich an die Schwermut verloren gewesen. Ich hätte sicher eine Therapie gebraucht, aber ich kann mir niemanden vorstellen, mit dem das nicht fürchterlich schiefgegangen wäre. Ich wäre nicht leicht zufriedenzustellen gewesen, nicht aus mir herausgekommen, ich hätte mich getarnt und geziert, oder mich hoffnungslos verliebt, wegen all der Zuwendung, und dabei schlaumeierisch gewusst, wo bei Freud ich über Übertragungen und das hoffnungslose Verlieben nachlesen könnte. Jahre, um irgendwohin zu kommen – und was hätte ich in meinem Alter von etwas, für das ich Jahre bräuchte, ohne die Sicherheit, dass es mir hilft?
Meine Therapie war mein Überdruss am Im-Grau-Angekommen-Sein, die Gelangweiltheit durch meinen Zustand, Selbstverachtung. Das kannst du weiter so machen, dachte ich irgendwann, Jahr um Jahr um Jahr, und du wirst nirgendwo hinkommen dabei. Oder du kannst es lassen. Also ließ ich es.
Ich ging los, immer dieselbe Runde, die mich seit einiger Zeit nicht mehr aus der Puste bringt, weswegen ich jetzt manchmal noch eine Extraschleife anhänge, mit immer denselben Liedern, von denen ich noch nicht genug habe. The River heißt das erste, ich weiß nicht mehr wirklich, wie es bei mir gelandet ist, ich glaube, ich habe es mir per Shazam aus Five Elephant gefischt, wo ich Espresso trinke, wenn mir die Decke auf den Kopf fällt. Ein paar Wochen lang habe ich The River für subtil gehalten, es hatte eine angenehme Bewegung, all i know we are going up on a river can you feel it moving, heißt es darin, ich fand es seltsam, aber auch schön, einen Fluss hinauf statt hinunter zu gleiten. Dann sah ich mir auf YouTube das Video an und musste lachen, weil es überhaupt nicht subtil war, sondern schwer erträglicher Romantik-Bullshit: eine Frau, die einem Mann sagt, wie sehr er für sie das Allergrößte ist und dabei längst aus der Mode gekommene Ergebenheitsgesichtsausdrücke macht, doch sie singt schön & und das Lied gleitet so schön, ich glitt mit ihm.
Es ist bestürzend leicht gewesen, an die Schwermut verloren zu gehen, und immer noch fallen mir, wenn ich jetzt darüber nachdenke, hunderttausend einleuchtende Gründe für sie ein und nur wenige, nicht schwermütig zu werden. Die elende Weltlage, die wie in einem Stafettenlauf jeder Krise eine neue hinterherschickte; die Inflation; die Tobsucht im Internet; die Sicherheit, keine Sicherheiten mehr zu haben; der zähe und immer zäher werdende Endkampf des Journalismus gegen seinen Untergang, ich könnte noch ewig so weitermachen, dazu dieses und jenes eher Persönliche, das ich wahrscheinlich auch einer Therapeutin erst nach Monaten erzählen würde, mal sehen, wie lange es hier dauert. Auch das Altern. Es ist oft ekelig. Wenn man Fotos von Rammstein sieht oder mit den Berichten über die erste, ganz sicher wieder unerhebliche Platte der Rolling Stones nach vielen Jahren konfrontiert wird, sehne ich mich danach, kein weißer alter Mann mehr sein zu müssen. Geht aber nicht. Haare wuchern aus den Ohren, Runzeln fälten am Hals, Flecken flecken die Haut, Alter-Sack-Ächzen immer wieder. Was für ein Elend.
Irgendwann hatte ich herausgefunden, wie man die fürsorglich gemeinte Lautstärkebegrenzung auf dem IPhone aushebeln kann, danach wurde die Routine noch besser. Redbone muss so laut sein, dass man beim Gehen ein wenig mittänzeln mag, die Musik so mächtig, dass man keine Scheu mehr davor hat, bescheuert auszusehen, wenn man seine Lippen STAY WOKE-Bewegungen machen lässt. Ah, Ekstase! Ah, Falsett! & immer noch keine Ahnung, wieso alles Falsettige mich sofort kriegt, Prince die Neville Brothers Klaus Nomi früher, sogar die Bee Gees. Vielleicht hatte meine Schwermut ja auch damit zu tun, dass mein imaginiertes Ich (eine Falsett-Stimme in einem Körper, der Vintage-YSL-Hemden trägt) von meinem tatsächlichen Ich (eine Barry White-Stimme in einem Körper, der glücklich war, als ihm die XXL-Uniqlo-Polos zu passen begannen) deprimierend weit entfernt ist. Tragischerweise lässt sich das durch keinen Beschluss ändern. Tragischerweise werde ich nie als der gelesen werden, der ich eigentlich bin. Tragischerweise werde ich weiter darüber fluchen, dass Identität so etwas Doofes und Subalternes ist. Tragischerweise werde ich beim Fluchen genau wissen, dass ich es nur tue, weil mir meine Identität nervig am Hals hängt.
Beim Gehen und Musikhören und Lippensynchronisieren denke ich viel nach, kein wirkliches Nachdenken, sondern etwas Vageres, das gleich wieder zurückbleibt. Warum Tätowierern nichts Besseres einfällt, dass ich endlich wieder mehr Fisch essen sollte (ich lebe mit Fischphobikern zusammen), dass ich mich endlich mal wieder sturzbetrinken sollte (ich habe schon Jahre keinen Alkohol mehr getrunken, ohne Grund, Absicht und Zweck, hat sich so ergeben), wie schön es wäre, wieder mehr für mich zu schreiben.
Vielleicht mache ich das.
all i know we are going up on a river can you feel it moving
alex63
Ja, bitte mach das. Und was das Sturzbetrinken angeht, auch keine schlechte Idee, ist zu zweit amüsanter, sag einfach Bescheid. Auch nicht die schlechteste Art, sich in real life kennenzulernen.
alex63
Das ist kein gutes Gefühl, wenn solch ein Angebot im digitalen Nichts verhallt. Wenn Feedback wirkungslos zu bleiben scheint.
praschl Besitzerin
? (ich hab doch bloß 24 stunden und 12 minuten lang nicht reagiert...). jedenfalls: danke. gerne.
alex63
Das sind 87.120 Sekunden! ;-) Und schön, dass es hier weitergeht. :-)
argh
late to the game, aber - wow, uff, danke.