vague.

Samstag, 3. September 2022

Ich erinnere mich (1/15)

Ich erinnere mich an die Piniennadeln in Istrien, so weich, als ginge man auf Teppichen.

Ich erinnere mich an Raureifblüten an Fenstern.

Ich erinnere mich an Bessy und Andy.

Ich erinnere mich an Plattenspieler. Maschinen, um das Hier und Jetzt hinter sich zu lassen.

Ich erinnere mich an Schallplatten, die ich so oft gespielt habe, bis sie hängen blieben.

Ich erinnere mich, auf meine Schallplatten nie gut genug achtgegeben zu haben.

Ich erinnere mich, dass ich manche Schallplatten ein zweites Mal kaufen musste.

Ich erinnere mich an Lieber Onkel Bill.

Ich erinnere mich an die Erdnussbuttersandwiches mit Marmelade in Lieber Onkel Bill.

Ich erinnere mich an meine Sehnsucht nach Erdnussbuttersandwiches.

Ich erinnere mich an das Glück, als ich endlich zum ersten Mal Erdnussbutter aß.

Ich erinnere mich an das befriedigende Gefühl, mit einem langstieligen Löffel die Erdbeermarmelade in der Sauermilch von Frufru zu verrühren.

Ich erinnere mich, dass ich der Köchin beim Hagenwirt zusah, wie sie eine Scheibe Brot vom Laib schnitt, mit Grammelschmalz bestrich, mit Zwiebeln belegte, salzte und eine Prise Paprika über alles streute.

Ich erinnere mich an Grammelknödel.

Ich erinnere mich an den Geruch von frisch gemähtem Rasen in der Merkursiedlung.

Ich erinnere mich an Bernd Begemanns Solange die Rasenmäher singen.

Ich erinnere mich an das Knattern des schwachmotorigen Mopeds, auf dem sich der Briefträger unserem Haus auf halber Höhe des Pöstlingbergs näherte, jetzt ist er gleich da, jetzt ist er fast schon da, jetzt ist er da.

Ich erinnere mich an die unterirdische Bahn in der Tropfsteinhöhle von Postojna.

Ich erinnere mich an das Natural History Museum.



Natural History Museum.

Ich erinnere mich an das blaue Leuchten des Meeres.

Ich erinnere mich, mit zehn oder elf im Meer mit Taucherbrille und Schnorchel einer nackten Frau hinterher geschwommen zu sein. Und nichts gesehen zu haben.

Ich erinnere mich an den Gesang der Zikaden.

Ich erinnere mich an die Benzingutscheine meines Vaters.

Ich erinnere mich an dicken, süßen, leuchtend orangen, völlig undurchsichtigen Pfirsichnektar. Opakes sämiges Glück.

Ich erinnere mich, dass ich mir bei He Loved Him Madly wünschte, die Welt könnte sein wie dieses Stück von Miles Davis.

Ich erinnere mich an die Erzählung, mein Vater habe Porgy and Bess "mit in die Ehe gebracht".

Ich erinnere mich an die Frau, die in einer Kneipe auf der Marktstraße My Favourite Things in der 57 Minuten langen Version von John Coltrane Live in Japan auflegte. Corinna, die ich an diesem Abend zum ersten Mal getroffen hatte, und ich standen bloß da und hörten zu, bis es vorüber war.

Ich erinnere mich, dass ich mir in Mittagspausen die Zeit vertrieb, indem ich mir in Schallplattenläden etwas auflegen ließ.

Ich erinnere mich an den Turnlehrer, der uns in STIRNREIHE antreten ließ, mich im Parkbad vom Zehner scheuchte und die Aula las.

Ich erinnere mich an das Gefühl des Zurechtgestutztseins, nachdem ein noch Größerer in unsere Klasse gekommen und ich nicht mehr der erste in der Stirnreihe war.

Ich erinnere mich an das Schaben der Rasierklinge, wenn mein Vater auf dem Transparentpapier, auf dem er die Pläne von Bahnbaumaschinen zeichnete, etwas wieder löschte.

Ich erinnere mich an das Plakat im Konstruktionsbüro, das darüber informierte, wie viele Arbeiter von einer einzigen Bahnbaumaschine überflüssig gemacht wurden.

Ich erinnere mich an meinen Wunsch, im Alter wie Heimrad Bäcker auszusehen.

Ich erinnere mich an ein Treffen des Kommunistischen Bundes, bei dem darüber gesprochen wurde, was nach der Revolution mit den Bankiers geschehen solle.

Ich erinnere mich, dass damals noch niemand „Banker“ sagte.

Ich erinnere mich an die Unruhe der Erwachsenen nach der Ermordung von Robert Kennedy.

Ich erinnere mich an Polaroidfotos.



Polaroid.

Ich erinnere mich an die beiden glatzköpfigen Frauen von der Mühl-Kommune, die plötzlich in der Linzer Altstadt neben mir herliefen und mir irgendetwas über ihre Futs erzählten.

Ich erinnere mich an die Wörter "aufreißen", "stehenlassen", "ausgreifen" und "Fut". Und daran, dass "Fut" wie "Fud" ausgesprochen wurde.

Ich erinnere mich an meine Belustigung, wenn Deutsche Rapid Wien wie Rappid Wien und Pala-tschinken wie Palat-Schinken aussprachen.

Ich erinnere mich, dass ich dachte, malerisch spräche man so ähnlich wie "Galeere" aus, und dass der Mastkorb so heißt, weil in ihm Schiffjungen gemästet werden.

Ich erinnere mich an Danica, die auf dem Linzer Hauptplatz an mir gezupft und, als ich mich umdrehte, gesagt hatte, sie würde sich gerne mit mir verabreden. Und dass wir uns noch am selben Nachmittag am Pleschinger See trafen.

Ich erinnere mich, wie Hubert im Badcafé von der Nacht erzählte, in der er davon aufwachte, dass sein Vater seine Schwester erschoss.

Ich erinnere mich an das Badcafé. Und an Julius. Der mir erst zwei Jahre zuvor verängstigt von seinem Schwulsein erzählt hatte, von dem sowieso jeder wusste. Und danach im Hochgeschwindkeitstempo zu einer Institution im Nachtleben geworden war.

Ich erinnere mich an Die Andere Avantgarde im Brucknerhaus.

Ich erinnere mich an die Schallplatte mit Inuit-Gesängen, die ich bei Katzenmusik gekauft habe.

Ich erinnere mich an das Begräbnis meiner Mutter.



Die Urne meiner Mutter.

Ich erinnere mich an Netscape.

Ich erinnere mich an Diskokaiser's und daran, wie enttäuscht ich jedes Mal war, wenn an Freitagabenden niemand zwischen den Supermarktregalen tanzte.

Ich erinnere mich an die Käsetoasts im Cafe Conny.

Ich erinnere mich an Gabelbissen.

Ich erinnere mich an Pusztasalat.

Ich erinnere mich an die Flamingos in der Provence.

Ich erinnere mich an Heizölkanister, die ich von der Tankstelle nach Hause schleppen musste, um die Ölöfen in der Kreitnergasse zu heizen.

Ich erinnere mich an „E pericoloso sporgersi“.

Ich erinnere mich an mit Bambus eingerüstete Hochhäuser in Hongkong.

Ich erinnere mich an den Pichlinger See.

Ich erinnere mich an das Skifahren.

Ich erinnere mich an die Spice Girls.

Ich erinnere mich an AOL.

Ich erinnere mich an Lutte Ouvrière.

Ich erinnere mich, dass ich Als ich im Sterben lag las, als ich krank im Bett lag.

Ich erinnere mich an Peter Handkes Text über La Défense.

Ich erinnere mich an Reykjavik.

Ich erinnere mich an meine Angst.

Ich erinnere mich an das Speedy.

Ich erinnere mich an Tilt.

Ich erinnere mich an Marc Fischer.



Marc Fischer.

Ich erinnere mich an die DDR.

Ich erinnere mich an "poste restante".

Ich erinnere mich an die zum Oxford English Dictionary mitgelieferte Lupe.

Ich erinnere mich an das Gefühl, nackt in frisch gewaschener Bettwäsche zu liegen und zu warten, bis es warm wurde.

Ich erinnere mich, dass ich nur bis zum Bund der Badehose ins Wasser ging und danach eine Zeitlang wartete, bis ich losschwamm.

Ich erinnere mich an meine Bewunderung für alle, die sich ohne Zögern ins kalte Wasser warfen.

Ich erinnere mich an Kuhaugen, die wir im Unterricht zerschneiden mussten, und wie sehr ich das hasste.

Ich erinnere mich, dass ich es erst bei meinem vierten Kind schaffte, die Nabelschnur zu durchschneiden, weil ich eine schier unüberwindliche Angst davor hatte, sie zu verletzen.

Ich erinnere mich an meine Verwunderung darüber, wie fest die Nabelschnur war. Wie ein Tau.

Ich erinnere mich an die fast nicht zu ertragende Trauer, nachdem Renées Baby bei der Geburt von seiner eigenen Nabelschnur erdrosselt wurde.

Ich erinnere mich, wie Renée uns die Fuß- und Handabdrücke ihres toten Babies zeigte.

Ich erinnere mich, dass mir nicht einfiel, was man zu Hand- und Fußabdrücken eines toten Babies sagen konnte.

Ich erinnere mich, in Frau Klepp verschossen gewesen zu sein, selbst nachdem sie gesagt hatte: "Wir diskutieren jetzt. Es diskutiert die erste Reihe von links nach rechts."

Ich erinnere mich, dass der Englischlehrer in der Schulbibliothek von mir verlangte, ihm "in die Hand zu schwören", nie zur RAF zu gehen.

Ich erinnere mich, dass ich es ihm schwor. Aber nicht in die Hand.

Ich erinnere mich an Wassertanks.



Wassertank.

Ich erinnere mich an Words don't Come Easy.

Ich erinnere mich, dass mir Alena Stulik tschechische Lieder vorsang.

Ich erinnere mich daran, es bei keinem der Flüchtlinge, die ich kennengelernt habe, geschafft zu haben, sie nach ihren Fluchtgeschichten zu fragen, weil ich sie nicht daran erinnern wollte.

Ich erinnere mich daran, dass ich Trotzkisten immer toller als Maoisten fand.

Ich erinnere mich, dass ich bei meiner ersten Reise nach Paris mit 17 zwei Tage lang nicht aus dem Hotelzimmer kam, weil ich erst noch die Autobiografie Trotzkis zu Ende lesen musste.

Ich erinnere mich, dass ich mich von Trotzki, ein paar Jahrzehnte zuvor mit einem Eispickel getötet, verraten fühlte, nachdem ich vom Kronstädter Matrosenaufstand gelesen hatte.

Ich erinnere mich, dass Daniel von der Lutte Ouvrière mich durch das Schloss von Versailles führte und dabei gegen Deng Xiao Ping wetterte, um mich hinterher zu seiner Mutter einzuladen, die uns Pferdesteak servierte.

Ich erinnere mich, dass Gundula mich fragte, ob sie in Hamburg bleiben solle, und ich ihr antwortete, Krenz sei sicher bald Geschichte. Als ob ich Ahnung gehabt hätte.

Ich erinnere mich an blackandwhiteandblue.

Ich erinnere mich an Salman Rushdie.



Salman Rushdie.

Ich erinnere mich an den Satz "Dieses Chaos frisiert sich nicht" auf dem Cover einer Zeitschrift namens Springinkal.

Ich erinnere mich, wie mich einer der Bauer-Vorstände rundmachte, weil die Frauen in den Matador-Pictorials zu kleine Brüste hätten, und von mir verlangte, sie müssten "naturgeil" wirken.

Ich erinnere mich an den Nokia Communicator.

Ich erinnere mich, dass mir Ilona eine Woche vor meiner Matura ein Taschenbuch von Sartre mit der Widmung "zur erfolgreich bestandenen Matura" schenkte und für mich das der Anfang vom Ende war (während niemand sonst mir etwas zur erfolgreich bestandenen Matura schenkte).

Ich erinnere mich an "Sie werden platziert".

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