Ich erinnere mich (3/15)
Ich erinnere mich, dass ich als Kind fürs Fotografiertwerden stillhalten musste.
Ich erinnere mich, dass man nicht ins Badezimmer durfte, wenn mein Vater seine Filme entwickelte.
Ich erinnere mich, dass Filme teuer waren.
Ich erinnere mich, dass sich die Fotografen beim Stern immer eine Taschenladung Filme geben ließen, ehe sie loszogen.
Ich erinnere mich, dass Volker "Sicherheitsschüsse" aufnahm, ehe er wirklich loslegte.
Ich erinnere mich, dass Karin Querformate fotografierte, um Doppel- statt Einzelseiten zu bekommen.
Ich erinnere mich an Dias.
Ich erinnere mich, dass Behnken „zeig mir die Restbilder“ sagte, schon bevor er sich die Diavorführung mit der Auswahl des Fotografen zu Ende angesehen hatte.
Ich erinnere mich an die Freundlichkeit Thomas Höpkers.
Ich erinnere mich an Elizabeth Biondi. Und wie glamourös ich es fand, dass sie beim New Yorker gearbeitet hatte.
Ich erinnere mich an fest angestellte Fotografen.
Ich erinnere mich, dass sowohl Fanny als auch Hedi irgendwann damit begannen, sich auf meinem Iphone immer wieder die Babyfotos ansehen zu wollen, die ich von ihnen gemacht hatte. Ihr Entzücken, wenn sie sich selbst als Baby sahen.
Ich erinnere mich, wie irritierend ich es lange fand, wenn Leute in Konzerten die Band auf der Bühne fotografierten, statt ihr zuzuhören.
Ich erinnere mich an Lomografie.
Ich erinnere mich, dass ich als Kind davon überzeugt war, blind zu werden und deswegen die Schrittzahlen für die Wege in unserer Wohnung auswendig lernte.
Ich erinnere mich immer noch an Teile der Telefonnummer dieser Wohnung, während ich Okkas Handynummer immer noch nicht auswendig kenne.
Ich erinnere mich, dass meine erste Brille unbedingt eine John-Lennon-Brille sein sollte. Die Erwachsenen nannten sie Nickelbrille.
Ich erinnere mich, wie nah die Welt wirkte, als ich meine John-Lennon-Brille zum ersten Mal aufsetzte.
Ich erinnere mich an das Institut für künstliche Augen.
Ich erinnere mich, wie erschrocken wir waren, als wir bei einem Interview mit einer Blinden merkten, wie grauenhaft die Wohnung aussah, die ihr Freund für sie eingerichtet hatte. Hinterher fragten wir uns, ob wir es ihr sagen hätten sollen.
Ich erinnere mich an meine Fantasie, mir ein Theaterstück über Kurzsichtige auszudenken, für das die Schauspieler Brillen tragen sollten, die ihre Sicht unscharf machten.
Ich erinnere mich, dass ich meine Brillenfassung mit Isolierband kleben musste, nachdem Fanny mir die Brille aus dem Gesicht gefischt hatte.
Ich erinnere mich an Carmen.
Ich erinnere mich, dass F. mir erzählte, er wisse, dass G. mit einem anderen geschlafen habe, ich ihm aber nicht, dass ich das gewesen war.
Ich erinnere mich, dass man für das Telefonieren zu Hause sein musste.
Ich erinnere mich, dass es Viertelanschlüsse gab.
Ich erinnere mich, dass ich Nachbarn hasste, die ständig telefonierten, weil ich dann selbst nicht anrufen oder angerufen werden konnte.
Ich erinnere mich, dass ich erfuhr, man könne die Telefonate der Leute, mit denen man sich einen Viertelanschluss teilte, abbrechen, indem man mit einer Stecknadel in sein eigenes Telefonkabel steche.
Ich erinnere mich, wie großartig ich es fand, dass das stimmte.
Ich erinnere mich, dass man zwischen Ortsgesprächen und Ferngesprächen unterschied. Und Ferngespräche teuer waren.
Ich erinnere mich, dass bei vielen Telefonaten meine Eltern im selben Raum waren und ich deswegen in Umschreibungen und Anspielungen sprechen musste.
Ich erinnere mich, dass man Gespräche in die DDR anmelden musste.
Ich erinnere mich, wie sehr es in Ostberlin stank.
Ich erinnere mich, wie irritierend es war, dass es kaum Werbung gab. Wie bei uns auf dem Land, dachte ich.
Ich erinnere mich an den leer stehenden Raum in der riesigen Wohnung Gundulas, in dem es durchs Dach regnete.
Ich erinnere mich, dass ich mich im Taxi von Ostberlin nach Dresden fahren ließ, weil das am schnellsten ging.
Ich erinnere mich, dass sich der Taxifahrer an der Stadtgrenze von Berlin bei einem Polizeiposten abmelden musste.
Ich erinnere mich, dass es in Dresden noch schlimmer stank als Ostberlin.
Ich erinnere mich an Angkor Wat.
Ich erinnere mich, wieviel Stress die Spesenabrechnungen von S. waren, wenn er wieder einmal behauptet hatte, sein Interviewpartner hätte sich nur unter der Bedingung eines mehrgängigen Essens in einem teuren Restaurant zu sprechen bereit erklärt. Mit Weinbegleitung zu jedem einzelnen Gang.
Ich erinnere mich, wie viel Freude es mir machte, aus Spesenabrechnungen ein paar Mark herauszustreichen, weil der Typ, wenn er schon die Bild lesen wollte, selbst dafür bezahlen sollte.
Ich erinnere mich an das Wort "Kostenstellenstellenleiter".
Ich erinnere mich, wie protzig sich dieses Hotel in Dresden gab. Mit eigenem Südsee-Restaurant!
Ich erinnere mich an Tupperware.
Ich erinnere mich an Schultaschen aus Leder.
Ich erinnere mich an Kindergartentaschen aus Leder.
Ich erinnere mich an Lederhosen. Und wie sehr ich sie hasste. Und dass ich es schaffte, nie eine tragen zu müssen.
Ich erinnere mich, wie grauenhaft ich jedes Foto fand, auf dem ein Bayern-Spieler, bayerischer Prominenter oder bayerischer Politiker Lederhosen anhatte.
Ich erinnere mich an die Lederflicken meines Großvaters.
Ich erinnere mich an Krokodilleder.
Ich erinnere mich an Schlangenleder.
Ich erinnere mich an das Regal mit den Schuhleisten bei meinem Großvater.
Ich erinnere mich, dass wir bei meinen Großeltern bei einer Schweinegeburt achtgeben mussten, die Ferkel zu retten, weil die Sau sie totbeißen wollte. Jedenfalls wurde es so erzählt.
Ich erinnere mich an Manifeste.
Ich erinnere mich an Rei Kawakubo.
Ich erinnere mich an Michaela.
Ich erinnere mich, wie glücklich ich oft darüber gewesen bin, dass Michaela die erste Frau war, die mit mir geschlafen hat.
Ich erinnere mich an die Zeit, die wir uns ließen, bis es soweit war. Monate.
Ich erinnere mich, dass sie sich danach von mir zur Fähre begleiten ließ, die sie zurück nach England brachte, während ich noch zwei Wochen in Irland blieb.
Ich erinnere mich an den Phoenix Park in Dublin.
Ich erinnere mich an den total verfetteten Amerikaner in Dublin, der von seinem Einsatz in Vietnam erzählte und sich mit Parfüm regelrecht übergoss.
Ich erinnere mich an Praschl & Preschl, das Theaterkritikerpaar des Wiener.
Ich erinnere mich an Baumeister Solness in der Inszenierung von Peter Zadek.
Ich erinnere mich an meine Theaterkritiker-Fantasie, mit den Worten "Ihr spielt das doch nur" die Bühne zu stürmen.
Ich erinnere mich an Crispy Fish in der Sailors Thai Canteen.
Ich erinnere mich an mein Interview mit Mick Jagger, das so zäh war, dass ich nach 20 Minuten statt nach der vereinbarten Stunde aufstand, um ihn nicht noch länger zu nerven.
Ich erinnere mich, dass ich ihm im Hinausgehen eine Frage über den Cricketclub stellte, den er unterstützte, und wir danach eine Dreiviertelstunde über Cricket sprachen, genauer gesagt er, ich hatte ja keine Ahnung.
Ich erinnere mich an Geschäftsreisen.
Ich erinnere mich an Pressereisen.
Ich erinnere mich an Chioggia.
Ich erinnere mich an die Leihsegelsboote im Jardin du Luxembourg.
Ich erinnere mich an SelfHTML.
Ich erinnere mich an Textism. Weblog eines in Südfrankreich lebenden ungemein sympathischen Kanadiers namens Dean Allen, der nicht nur sein umwerfendes Weblog betrieb, sondern sich auch eine Markup-Sprache (Textile) und ein Weblogsystem (Textpattern) ausgedacht hatte, von dem seltenen Bedürfnis getrieben, etwas richtig zu machen. Und dann hieß es, er sei gestorben.
Ich erinnere mich an die Sowjetunion.
Ich erinnere mich an das 20. Jahrhundert.
Ich erinnere mich, dass Roger Willemsen mich einen „Publizisten“ nannte.
Ich erinnere mich, dass Hans Söllner im Interview sagte: "I brauch kan Jugoslawienkriag, i hob a Familie".
Ich erinnere mich an Lancelot du Lac.
Ich erinnere mich an Let Love Rumpel.
Ich erinnere mich an Ilhan Mimaroglu.
Ich erinnere mich an die Arena-Besetzung.
Ich erinnere mich, dass ich im Kindergarten der besetzten Arena arbeitete, weil ich für Erwachsene zu schüchtern war.
Ich erinnere mich an Smash Hitler!
Ich erinnere mich an Diagonal – Radio für Zeitgenossen.
Ich erinnere mich an mein erstes Thai-Curry. In Tokio. Mit Walter Vogl. Mit dem ich danach noch in einem Irish Pub war.
Ich erinnere mich an meine ersten Scampi. In Trieste. Mit meinen Eltern. Die mir danach leider nie wieder Scampi bestellten.
Ich erinnere mich an: "If in doubt grill fish".
Ich erinnere mich, dass Knuth und ich in Siam Reap gesagt bekamen, die sinnvollste Unterstützung für das Dorfes sei es, um 100 Dollar Reis zu kaufen. Und dass wir für diese 100 Dollar eine ganze Lastwagenladung Reis bekamen.
Ich erinnere mich, wie glücklich ich jedes Mal nach 100 Kilometern auf dem Fahrrad im Gym gewesen bin.
Ich erinnere mich an die Konditorei in Windhuk, in der es Schwarzwälder Kirschtorte gab.
Ich erinnere mich an die Elefantenherde, die in der Namib vor uns auftauchte.
Ich erinnere mich an Meringues.
Ich erinnere mich an Fiorucci.
Ich erinnere mich an die Jungle World.
Ich erinnere mich an Jonathan Newhouses Brief mit dem Satz "In business, as in life, there are victories and there are defeats. We did our best". Nachdem er uns ein paar Tage zuvor versichert hatte: "We are publishers. We publish".
Ich erinnere mich an das New York Magazine.
Ich erinnere mich an den Camel Air Rave.
Ich erinnere mich an den 28.5.2005.