vague.

Samstag, 3. September 2022

Ich erinnere mich (5/15)

Ich erinnere mich an die Gemeinschaftsaktionen in der Schule. Wandertage. Weltspartag. Filmring der Jugend. Gemeinsam zur Beichte vor der Ersten Heiligen Kommunion. Schularzt-Untersuchungen.

Ich erinnere mich, dass mich in München ein Taxifahrer urplötzlich beschimpfte: "Ihr nehmts uns die Frauen weg" tobte er und hörte gar nicht mehr auf.

Ich erinnere mich an die deprimierende aufblasbare Matratze in der Einzimmerwohnung in der Schulgasse, die ich im Einkaufszentrum Neuperlach gekauft hatte und auf der ich ein Jahr lang schlief, weil nichts in mir damit einverstanden war, Möbel für einen Ort anzuschaffen, an dem ich nicht sein wollte.

Ich erinnere mich an Steffis Hochzeit auf Sylt.

Ich erinnere mich an den Satz "Detlef, schwitz nicht so" auf Ullas Hochzeit.

Ich erinnere mich an Rindssuppn.

Ich erinnere mich, dass ich manchmal nur für mich Wörter österreichisch aussprach, weil ich die Sehnsucht hatte, österreichisch ausgesprochene Wörter zu hören.

Ich erinnere mich das Knirschen von Streu im Winter.

Ich erinnere mich an Blitzeis.

Ich erinnere mich an die Krähen während der Wintermonate in Wien.

Ich erinnere mich an Hydra.

Ich erinnere mich, wie toll ich es fand, dass man manche Orte nur per Schiff erreichen konnte.

Ich erinnere mich an Seekrankheit.

Ich erinnere mich, wie hundeelend sie unter Deck lag, während wir den Begeisterungsrufe über die Wale zuhörten.

Ich erinnere mich, dass die Exkursion zu den Polarlichtern ein Totalflop war.

Ich erinnere mich an Leute, die sich bei Buffets die Teller vollluden, statt sich Nachschlag zu holen.

Ich erinnere mich, wie Sonja die Tschechow-Monologe für ihre Aufnahmeprüfung bei mir ausprobierte.

Ich erinnere mich, dass ich oft so viel erzählte, dass niemandem auffiel, dass ich die wichtigen Dinge nicht erzählte.

Ich erinnere mich an Landdeppen.

Ich erinnere mich an das Gefühl, ein Landdepp zu sein.

Ich erinnere mich an meinen Unglauben, dass Menschen, die ich kannte, zurück nach Linz wollten, weil ihnen Wien zu groß war.

Ich erinnere mich an die Pöstlingbergbahn.



Pöstlingbergbahn.

Ich erinnere mich, dass ich als Kind einmal von zu Hause abhauen wollte, es mit meinem Rucksack aber nur bis in den Keller schaffte und nach einer Viertelstunde wieder zurück war.

Ich erinnere mich, dass ich nach einem Kinobesuch mit meinem Vater auf der Straße meine Kinderhand in die Hand eines Fremden schob und wir beide nach einer Sekunde erschraken.

Ich erinnere mich, dass ich mich danach noch jahrelang fragte, was aus mir geworden wäre, wenn der Fremde mich mitgenommen hätte.

Ich erinnere mich an "Was macht eigentlich?"-Rubriken.

Ich erinnere mich an Fernsehsendungen, in denen ehemalige Popstars ihre ehemaligen Hits vorspielten.

Ich erinnere mich an die Beschreibung "ein flächiges Gesicht".

Ich erinnere mich, dass mir selten einfiel, wie man Menschen oder Landschaften beschreiben konnte.

Ich erinnere mich, dass ich bei Fotos von Sybille Berg und Moritz von Uslar manchmal das Gefühl hatte, jemand hätte ihren Kopf gequetscht.

Ich erinnere mich, dass mich immer wieder der Impuls überkam, Claus Kleber den Hals einzurenken.

Ich erinnere mich, dass ich es jedes Mal, wenn ich Harriett von Waldenfels im Frühstücksfernsehen sah, irritierend fand, wie ihre Haare auf der einen Seite nach vorne und auf der anderen nach hinten fielen.

Ich erinnere mich an den Jojo-Effekt bei Joschka Fischer.

Ich erinnere mich an die kollektive Kohlsuppendiät in der Amica-Redaktion.

Ich erinnere mich an die Reisebilder von Edoardo Sanguinetti.



Aus "Reisebilder" von Edoardo Sanguinetti.

Ich erinnere mich an Gerard Manley Hopkins.

Ich erinnere mich an die Kindheit meiner Kinder.

Ich erinnere mich an das Jucken, wenn nach dem Schwimmen in der Sonne langsam das Salzwasser auf der Haut trocknete.

Ich erinnere mich an oben ohne.

Ich erinnere mich an Texte, in denen Journalistinnen berichteten, wie sie sich fühlten, wenn sie oben ohne baden gingen.

Ich erinnere mich, dass ich jedes Mal dachte, dass oben ohne früher kein Problem war.

Ich erinnere mich, dass oben ohne immer ein Problem gewesen ist.

Ich erinnere mich an Skinny Dipping.

Ich erinnere mich an Showgirls in einem Kino in New York, und hinter uns sagte jemand "the nails of death".

Ich erinnere mich an den Friedhof in Sha Tin, auf dem die Menschen auf den Gräbern ihrer verstorbenen Angehörigen picknickten.

Ich erinnere mich an die Gräber auf dem Friedhof von Menton, Dramen in Stein.

Ich erinnere mich an Aidstests.

Ich erinnere mich, wie schick ich den Namen "Tropenkrankenhaus" fand.

Ich erinnere mich an den Affenfelsen.

Ich erinnere mich an das Sozialchappi jeden Donnerstag abends für alle, die die aktuelle Stern-Ausgabe fertig machen mussten. Manche blieben, obwohl sie nichts zu tun hatten, um ein Gratis-Abendessen zu bekommen. Und dann aßen wir zusammen, zu dritt oder viert in einem der Büros, in denen sonst höchstens zwei saßen, und es war in diesen Momenten, als gehörten wir zusammen.

Ich erinnere mich an das Hurenkind und dass es unbedingt zu vermeiden war.

Ich erinnere mich an Flattersatz.

Ich erinnere mich an den Satz "Hauptsache, die Scheisse blockt".

Ich erinnere mich an meine Bemerkung, die allerschlimmste Überschrift für den Artikel über Annie Lennox in Venedig wäre wohl "Wenn die Gondeln Power tragen". Woraufhin Langenkamp das sofort zur Headline machte.

Ich erinnere mich an das Museum of Broken Relationships in Zagreb.

Ich erinnere mich an das Kriegsmuseum in Zagreb.



In Zagreb.

Ich erinnere mich an den Raum im Imperial War Museum in London, in dem man darüber informiert wurde, wie die Londoner den Blitz erlebt hatten.

Ich erinnere mich an Glenn Branca.

Ich erinnere mich an den Anfang von Gravity Rainbow.

Ich erinnere mich an Tippex.

Ich erinnere mich an Tintenkiller.

Ich erinnere mich an Farbbänder.

Ich erinnere mich an zweifarbige Farbbänder.

Ich erinnere mich an Kassettenrecorder.

Ich erinnere mich an Radiorecorder.

Ich erinnere mich an C60, C90 und C120.

Ich erinnere mich an das Fernsehen.

Ich erinnere mich an das Schichtarbeiterprogramm.

Ich erinnere mich an das Messeprogramm.

Ich erinnere mich an die Tour de France.

Ich erinnere mich an Heli Köglberger.

Ich erinnere mich an Almdudler.

Ich erinnere mich an Maisfelder.

Ich erinnere mich an mich.



Selfie.

Ich erinnere mich ans Genähtwerden.

Ich erinnere mich an Schluckimpfungen in der Schule.

Ich erinnere mich, dass ich mit jemandem in die Klasse ging, der hinkte, weil er Kinderlähmung gehabt hatte.

Ich erinnere mich an Websites, auf denen die groteskesten Vorschläge von Autokorrekturen gesammelt wurden.

Ich erinnere mich an meine Dankbarkeit, als ich Panko entdeckt hatte und endlich in Berlin wieder Schnitzel mit einer anständigen Panier machen konnte.

Ich erinnere mich an Weltraumkugelschreiber. Auf dem Kopf schreiben! Ohne dass die Tinte ausläuft!

Ich erinnere mich an den alten Chinesen in Paris, der für Fanny ein Bonbon aus der Jackentasche zog, als wir an ihm vorübergingen.

Ich erinnere mich, wie Okka jedes Mal, wenn sie jemanden mit einem Baby getroffen hatte, sagte, dass sie noch gerne etwas Kleines hätte.

Ich erinnere mich, dass sich Hunde und Babies immer sofort bei ihr wohlfühlten.

Ich erinnere mich an Weihnachtsfilme.

Ich erinnere mich, dass ich mir manchmal Kultfilme wie Brazil oder Ferris Buehler macht blau ansah und nicht verstand, warum sie Kultfilme geworden waren.

Ich erinnere mich an die Tanzeinlagen im Publikum bei den Open Air-Kinovorstellungen im Bryant Park.



Open Air-Kino im Bryant Park.

Ich erinnere mich an das Bedauern des Taxifahrers in San Francisco, dass ich zu Thanksgiving im Flugzeug sitzen musste.

Ich erinnere mich an Hans Dieter Gütt.

Ich erinnere mich, wie Hans Dieter Gütt mit einer Herald Tribune in seiner Jackentasche immer erst zu Mittag in die Redaktion kam und sich erst einmal auf sein Chippendale Sofa legte, um über seinen wöchentlichen Kommentar nachzudenken.

Ich erinnere mich, wie Hans Dieter Gütt mir eine Korrespondenz mit einem seiner Leser übergab, er habe das nun schon lange genug gemacht. Und dass ein paar Tage später die Nachricht von seinem Suizid kam.

Ich erinnere mich, dass es hieß, Hans Dieter Gütt habe sich wegen der deutschen Wiedervereinigung umgebracht. Und ich das sofort glaubte.

Ich erinnere mich an Lackschuhe.

Ich erinnere mich an beschlagene Schuhe, in denen man steppen konnte.

Ich erinnere mich an spitze Schuhe.

Ich erinnere mich an zu klein gewordene Schuhe.

Ich erinnere mich an Skischuhe.

Ich erinnere mich, dass Sandalen "Klapperl" hießen, weil sie beim Rennen klapperten.

Ich erinnere mich an das Geräusch, wenn Frauen in Flip Flops gingen.

Ich erinnere mich an den bedauernden Gesichtsausdruck von Schuhverkäufern, wenn ich "Größe 47" sagte.

Ich erinnere mich an die Erleichterung, dass es keine Schlittschuhe in Größe 47 zum Ausleihen gab.

Ich erinnere mich an Barack Obama.



Barack Obama.

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