Ich erinnere mich (8/15)
Ich erinnere mich an die Frau, die am Nebentisch sagte:"Ich hab so baby hairs. Da stehen die Enden so crazy ab, da machen die keinen Splissschnitt. Dafür haben sie gar nicht die Zeit."
Ich erinnere mich an die dicken Frauen vor den Kabanen im Gänsehäufel.
Ich erinnere mich an das Kasperltheater im Gänsehäufel.
Ich erinnere mich an das Karussell im Jardin du Luxembourg, bei dem die Kinder im Vorbeireiten mit einem Stock Ringe sammeln konnten, die ihnen der Karussell-Angestellte hinhielt.
Ich erinnere mich an den Sommer, an dem das Karussell im Jardin du Luxembourg "wegen eines Unglücksfalls" geschlossen war.
Ich erinnere mich an "I've got six things on my mind. You're no longer one of them."
Ich erinnere mich an Rätselhefte.
Ich erinnere mich an Fortsetzungsromane.
Ich erinnere mich, dass wir Wörter in die Folgen des Fortsetzungsromans schmuggelten, die nicht hineingehörten.
Ich erinnere mich, dass niemand je bemerkte, dass im Fortsetzungsroman Wörter standen, die dort hineingehörten.
Ich erinnere mich an meine Phantasie, nachts eine geheime Redaktion ins Büro zu lassen, um eine zweite Zeitschrift zu produzieren.
Ich erinnere mich an meine Schüchternheit immer wieder.
Ich erinnere mich an Menschen, die sich von meiner Schüchternheit nicht abhalten ließen.
Ich erinnere mich, dass mir nicht geglaubt wurde, wenn ich sagte, ich sei schüchtern.
Ich erinnere mich an Inga.
Ich erinnere mich an den Typen in Dresden, der mir aufgeregt mitteilte, er habe eine super Geschäftsidee für Gruner+Jahr und enttäuscht war, als ich ihm antwortete, ich sei für Geschäftsideen leider nicht zuständig.
Ich erinnere mich, wie die Kellnerin in München sofort die 20 Mark einsteckte, die ich ihr irrtümlich als Trinkgeld gegeben hatte, weil ich von der Schilling/D-Mark-Umrechnung noch überfordert war.
Ich erinnere mich an das Beef tartare im Café Paris und mein Glück jedes Mal über das damit verbundene Zeremoniell.
Ich erinnere mich an "ihr Vlies".
Ich erinnere mich an "ihre Scham".
Ich erinnere mich an "ihr Nektar".
Ich erinnere mich an "ihr Medaillon".
Ich erinnere mich an "Ich war endlich ich selbst, indem ich aufhörte, es zu sein.“
Ich erinnere mich an eimerweise Ribisel in Wieselburg.
Ich erinnere mich an das Glücksgefühl, Zucker in Eimern mit Ribisel zu verrühren.
Ich erinnere mich, dass ich in Wieselburg so lange am Fensterkitt pulte, bis sich das Fenster lockerte.
Ich erinnere mich, dass ich mir in Tokio einen tragbaren CD-Player kaufte, um mir die Prefab Sprout-CD anhören zu können, die ausgerechnet in der Woche herauskam, als ich in Tokio war.
Ich erinnere mich, dass bei Tower Records in Tokio die Platten zwar alphabetisch geordnet waren, aber nach einem seltsamen Prinzip, das ich erst dechiffrieren musste.
Ich erinnere mich, dass ich mir die Prefab Sprout-CD, auf die ich mich sehr so gefreut hatte, erst schönhören musste, ehe ich sie dann doch reinen Herzens schön fand.
Ich erinnere mich an den Knick in meinem Unterarm, nachdem ich ihn mir gebrochen hatte.
Ich erinnere mich, welchen Eindruck ich bei Kindern machte, wenn ich ihnen den Knick in meinem Unterarm zeigte.
Ich erinnere mich an das Wiener Tagebuch.
Ich erinnere mich an meine aus dem Nichts kommende Panikattacke auf dem Flughafen von Nizza. Ich schaffte es nicht einmal ins Abfertigungsgebäude.
Ich erinnere mich an die Schachspieler in Paris.
Ich erinnere mich an den Morgen, an dem mich Hans Eichhorn zum Fischen im Attersee mitnahm.
Ich erinnere mich, dass irgendwann bei Artikeln die voraussichtliche Lesezeit anzugeben begonnen wurde.
Ich erinnere mich, dass ich viel zu ungeduldig war, um mir Podcasts und Hörbücher anhören zu können.
Ich erinnere mich, dass es irgendwann möglich wurde, die Abspielgeschwindigkeit von Filmen zu erhöhen. Und wie schrecklich ich das fand.
Ich erinnere mich, dass ich mir manchmal beim Einschlafen selbst aus Romanen vorlas.
Ich erinnere mich, dass ich den Volos manchmal riet, sich ihre Texte selbst laut vorzulesen, damit sie bemerkten, was an ihnen noch nicht stimmte.
Ich erinnere mich, wie falsch ich Sascha Lobos Roman fand.
Ich erinnere mich, wie hinreißend ich Sascha Lobo fand, als sich herausstellte, dass er bei seinem Abgang schon für uns alle bezahlt hatte.
Ich erinnere mich an Interrail.
Ich erinnere mich an das Glühen in den Fotos von Josef Szabo.
Ich erinnere mich an Sararahitze.
Ich erinnere mich an die Skaterhalle, in der ich Fanny zusah.
Ich erinnere mich, dass ich immer "Krapkrap" sagte, wenn Fanny bei mir auf der Brust lag, um zu schlafen.
Ich erinnere mich, wie schlecht es bei Bogocz ankam, als ich ihm sagte, ich hätte keine Lust, aufs Oktoberfest mitzukommen.
Ich erinnere mich, wie muffig ich auf dem Oktoberfest saß.
Ich erinnere mich, wie großartig ich die Enthauptung bei Auf gehts beim Schichtl fand.
Ich erinnere mich an Gin Tonic. Und dass ich es irgendwie interessant fand, dass man in America Gin and Tonic sagte.
Ich erinnere mich an die Witze darüber, wie wenig Wermut in einen Martini gehört (laut Churchill tat es eine Verbeugung in Richtung Frankreich).
Ich erinnere mich an den mürrischen Kriegsinvaliden.
Ich erinnere mich, dass man in der Mittagspause nicht Fußball spielen durfte.
Ich erinnere mich an Schichtarbeiter, die tagsüber schliefen und in den Hof brüllten, die Kinder sollten endlich still sein.
Ich erinnere mich an die Kärtchen, die meine Mutter schrieb, um mir das Lesen beizubringen. HAUS, BAUM, AUTO.
Ich erinnere mich, wie ungehalten sie werden konnte, wenn ich statt HAUS BAUM las.
Ich erinnere mich, dass ich mir die kleinen Druckbuchstaben selbst beibrachte.
Ich erinnere mich, dass ich in der ersten Klasse zurechtgewiesen wurde, weil ich behauptete, die Buchstaben schon zu kennen und "eff", "es" oder "em" sagte, obwohl sie ffff, ssss oder mmmmm ausgesprochen wurden.
Ich erinnere mich an Mimi und Edi in Wir lernen lesen.
Ich erinnere mich an Ann and Pat im Englischbuch.
Ich erinnere mich an die Weberschule.
Ich erinnere mich, dass es Noten für Unterrichtssprache statt für Deutsch gab. Ich erinnere mich, dass ich am allerersten Schultag nachsitzen musste, weil ich trotz Ermahnung geschwätzt hatte.
Ich erinnere mich, dass es Noten für Schönschreiben und Äußere Form gab.
Ich erinnere mich, dass ich in Schönschreiben einen Dreier hatte, weil ich als Linkshänder rechts schreiben musste.
Ich erinnere mich an trunken und genau.
Ich erinnere mich, dass wir den Bassisten von Phoenix Lippe nannten. Weil er eine so eindrucksvolle Unterlippe hatte.
Ich erinnere mich, dass wir die Schmollgesichter von Kindern Schippe nannten.
Ich erinnere mich, dass der Internist sagte, er habe beim Ultraschall einen Nierenstein gesehen, und auf meine Frage, was ich tun solle, mit "dann wissen Sie jetzt, was Sie der Rettung sagen können" antwortete.
Ich erinnere mich, wie weh es tat, wenn ich im Sommer so enge Jeans trug, dass beim Gehen die Hoden aufgeschürft wurden.
Ich erinnere mich, dass ich mit einem Leistenbruch in Paris unterwegs war. Und Paul deswegen für mich ein Restaurant auftat, in dem man beim Essen liegen konnte.
Ich erinnere mich an die Hotelbesitzerin in Südfrankreich, die meine alten Wiener-Artikel kannte und mich beim Frühstück darauf ansprach.
Ich erinnere mich an Maleen Brinkmann.
Ich erinnere mich, dass mir Maleen Brinkmann ein Rolf Dieter Brinkmann-Manuskript mitgab und ich panische Angst hatte, es zu verlieren oder mit Kaffee zu überschütten.
Ich erinnere mich, dass ich wochenlang Taxi fuhr, weil ich viel zu müde war, um noch auf eine S-Bahn zu warten.
Ich erinnere mich an den Taxifahrer, der in sein Navi "Schal" statt "Charles de Gaulle" eingab.
Ich erinnere mich an Neuperlach.
Ich erinnere mich an das Brotzeitstüberl in Neuperlach.
Ich erinnere mich, dass ich das Wort "Hosenstall" sehr deutsch fand.
Ich erinnere mich, dass ich das Wort "tüchtig" sehr deutsch fand.
Ich erinnere mich an, dass mir München oft wie ein Dorf vorkam. Die Menschen trugen Lederhosen und Dirndl, tranken Unmengen von Bier und gerieten dauernd miteinander in Streit.
Ich erinnere mich, dass ich deutsche Städte oft zu ausgedehnt fand, um in ihnen gerne zu Fuß zu gehen.
Ich erinnere mich, dass ich nachts oft kilometerweit zu Fuß nach Hause ging.
Ich erinnere mich an meinen Stolz jedes Mal, wenn die Health App auf dem Iphone angab, ich sei über 10.000 Schritte gegangen.
Ich erinnere mich, dass ich manchmal noch in der Wohnung auf und ab ging, um auf über 10.000 Schritte zu kommen.
Ich erinnere mich, dass ich es hin und wieder bereute, zu faul für den Führerschein gewesen zu sein.
Ich erinnere mich an die 55 Euro, dich bezahlen musste, weil ich mit dem Rad auf dem Gehsteig fuhr.
Ich erinnere mich an die tobsüchtigen Kommentare über auf dem Gehsteig fahrende Radfahrer unter Facebook-Postings.
Ich erinnere mich, dass ich immer verlor, wenn ich gegen Hedi oder Fanny Memory spielte.
Ich erinnere mich an das Schummeln von Fanny und Hedi, wenn sie mit mir spielten. Und wie toll ich es fand.
Ich erinnere mich daran, dass ich IQ-Tests im Internet begann, dann aber jedes Mal zu faul dafür war, mir die Fortsetzung von Zahlenreihen oder die Rotationen geometrischer Figuren zu überlegen.
Ich erinnere mich, dass ich glaubte, dass jemand die Tetris-Steine neu anordnete, während ich blinzelte. Obwohl ich genau wusste, dass das nicht möglich war.
Ich erinnere mich daran, dass immer wieder urplötzlich Trends ausbrachen. Wie Brainfuck, Flow oder Detox.
Ich erinnere mich an die Toten in der Formel 1.
Ich erinnere mich an die Stürze auf der Streif.
Ich erinnere mich an "den Bundeskanzler" im "Zielraum" der Streif.
Ich erinnere mich an "die Prominenten" im "Zielraum" der Streif.
Ich erinnere mich an "die Blumenspende" beim "Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker" im "Großen Musikvereinssaal".
Ich erinnere mich an Botschaften auf der Straße. Dass die Abschaffung von Bargeld die digitale Diktatur ermöglicht. Dass Coronaimpfungen töten. Oder dass man diese Ablenkung ignorieren solle.