vague.

Montag, 4. Juli 2022

Hot. Or not.

Wie du 1995 in deinem Stern-Einachserbüro endlich als erster in der Redaktion deinen Internetanschluss bekamst. Und dir als erstes irgendein Kaffeemaschinenfüllstand in irgendeiner kalifornischen Universität gezeigt wurde, auf dem Internet. Wie du das sofort euphorisch erzähltest. Und sie sagte: Was soll der Scheiss. Woraufhin du dich wahnsinnig vornedran fühltest. Weil du wusstest, was der Scheiss sollte und worauf er hinauslaufen würde. Und sie nicht. Du aber schon. Sie hatte recht. Und du nicht. Euphorie hat nie recht. Nicht auf lange Sicht.

Wie du neulich völlig geflashst davon warst, als sie mit ihrem simkartenlosen, am WLAN hängenden alten Iphone zu dir kam und dir zeigte, wo ich das Ladybug-Kostüm bestellen konnte, das sie haben wollte. Und du dadurch bemerktest, dass sie zu googeln angefangen hatte. Per Sprachsuche, die du ihr nie gezeigt hattest, weil du noch nie per Sprachsuche gegoogelt und wahrscheinlich zwar gewusst hast, dass es so etwas gibt, aber das war totes Wissen, irgendwo weit unten in der Geröllhalde des toten Wissens. Krass, dachtest du. Mit fünf! Wie toll ist das denn! Und warst wieder einmal euphorisch. Über das Internet und dass sich ein fünfjähriges Kind darin zurechtfindet. Du kriegst es einfach nicht mit. Euphorie hat nie recht. Google schon.

Wie du dich an viele Internetverrücktheiten nur noch erinnern kannst, wenn du dich anstrengst und nachdenkst, was damals so war. Hot or not, bei dem du bewerten konntest, ob jemand attraktiv oder scheiße aussah, dass da Menschen ihre Fotos hochluden, um ihre Gesichter bewerten zu lassen, und wie du dann allen 10 Punkte gabst, aus Trotz und dich super fühltest. Aber die Typen, die das erfunden hatten, hatten ziemlich sicher einen Millionendollar-Exit, und es war völlig egal, wie irgendjemand irgendjemanden fand. Oder dieses Eiswürfelüberdenkopfschütten, um angeblich auf irgendeine Krankheit aufmerksam zu machen, und wie das in deiner Wahrnehmung das erste war, bei dem diese ganzen C-D- und E-Promis, die sonst nur in der Gala oder in der Bunten vorkamen, sich bei etwas im Netz beteiligten – niemand ist zu blöd, um sich Eiswürfel über den Kopf zu schütten und dabei filmen zu lassen. Die dicken Hintern in Pellwurstleggins. Die Milchschaumfotos. Die Restaurant-Reviews auf längst nicht mehr existierenden Websites, selbst du hast welche geschrieben und dir Mühe gegeben, sie irgendwie "besonders" zu machen, dabei hast du da schon kapiert, dass es nur darum ging, Geschäftsideen mit so viel Content zu füttern, dass für irgendwelche Typen ein Exit möglich wurde. Diese Listicals auf Buzzfeed und weiß Gott wo noch, mit ihren Klickbait-Headlines. Und immer noch klickst du das an, wenn so etwas in deinem FB-Feed auftaucht. Oder diese Stampeden immer wieder. Dass sich plötzlich jeder bei dieser FB-Alternative anmeldete. Oder, jeder, der reden konnte, einen Podcast machen musste. Oder statt auf seinem Weblog zu schreiben bei Twitter war. Wie viele Leute dir abhanden gekommen sind dadurch. Plötzlich waren sie weg. Du hast sie noch vermisst, manche ziemlich lange, aber du hättest dich bei ihnen melden können, um sie zu fragen, wie es ihnen geht. Hast du aber nicht. Das Netz hat dich zu einem Konsumenten gemacht: Wenn du deinen Laptop aufklappst, erwartest du, dass alle da sind, und falls nicht, ist es eben so; wäre ja zu anstrengend, nicht alles delivered zu bekommen.

Wie du, wie alle anderen, irgendwann damit begonnen hast, ständig Updates von allem haben zu wollen. Weil es schließlich ständig Updates von allem zu geben begann. Die Frontverläufe in den Kriegen, bei der Verbreitung von Viren, in den Regionalzügen mit den 9-Ticket-Besitzern. Wie du, es hat ein paar Jahre gedauert, damit aufgehört hast, Texte darüber zu lesen, was das (die "Echtzeit", die "Live-Ticker") mit "uns" macht. Weil ja völlig klar war, was das mit uns macht: zu leuten, die ständig irgendwelche Klick-Zähler betätigen.

Wie du dich dennoch manchmal fragst, was "das alles" mit "uns" macht. Kognitiv, mental, emotional, moralisch, sozial. Irgendetwas MUSS es ja mit uns machen. Manchmal versuchst du dich daran zu erinnern, wie es war, bevor dir jemand den Kaffeemaschinenfüllstand in irgendeiner kalifornischen Universität gezeigt hat. Als du noch Zeitungen gelesen hast. Als du noch niemanden geliked, kommentiert, bewertet, blockiert hast. Als du noch nicht wusstest, was du tun solltest, wenn du mal 20 Minuten irgendwo saßst und keine Lust auf ein Buch hattest. Als du in Tokio standest mit einem Falk-Stadtplan, der dir nicht weiterhalf, weil es so irre mühsam war, die Schriftzeichen an irgendwelchen Blocks mit den Schriftzeichen im Stadtplan abzugleichen. Oder als du noch nicht wusstest, wie Creampies in Großaufnahme aussehen. Oder ältere Menschen bei mutueller Masturbation. Als du dich noch nicht bei Wikipedia darüber informieren konntest, was es über den "Anstandsrest" zu wissen geben könnte und du noch nicht googlen konntest, wo man ein Ladybug-Kostüm bekommt oder was Alberghi diffusi sind. Du bist sicher, dass das irre viel mit dir gemacht hat. Und mit allen anderen. Selbst mit denen, die immer noch nicht am Netz hängen, den Abgehängten.

Aber du kannst dich nicht einmal mehr wirklich daran erinnern, wie das Leben für dich war, ehe dir jemand den Kaffeemaschinenfüllstand in irgendeiner kalifornischen Universität gezeigt hat - wie es WIRKLICH war, in seinen Konkretionen.

Manchmal würdest du gerne wissen, was aus dir geworden wäre, wenn es das Internet nicht gegeben hätte. Und hättest gerne so einen Klon von dir, in einer Welt, in der es nie ein Netz gegeben hat. Nur, um das vergleichen zu können. Eine Art medialer alternative history.

Als ob ich mir das vorstellen könnte.

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