vague.

Samstag, 3. Januar 2015

90.

Im Sommer bin ich im 9/11 Memorial Museum gewesen, das ein paar Wochen zuvor eröffnet worden war, an meinem freien Tag während unserer zweieinhalb Wochen in New York, & fast hätte ich auf ihn verzichtet, weil ich mit abscheulichen Kopfschmerzen aufgewacht war, dann aber wollte ich doch wissen, wie das Museum geworden war, & erst dort wurde mir klar, dass das auch ein Grab war, ungeborgene, nicht mehr zuordenbare Leichenteile, Reposed behind this wall are the remains / of many who perished at the / World Trade Center site on September 11, 2001 hieß es auf einer Tafel, einen Augenblick lang wollte mein linker Arm schon ein Kreuzzeichen schlagen, die Geste, die mir als einzige jedes Mal einfällt, wenn ich Toten nahe komme (auf Friedhöfen, vor Gedenktafeln, in Paris vor den Rosen, die jemand für einen umgekommenen Maquisard dagelassen hatte), ich hielt mich dann zurück (weil ich nicht glaube), senkte bloß den Kopf, ging den Weg entlang, in die Tiefe hinunter, wo bis zum 11. September 2001 die Untergeschosse eines Turms des WTCs gewesen waren, verbogene Stahlträger, die Reste einer Treppe, über die Menschen aus den Türmen geflohen waren, eine Wasserschutzwand, die standgehalten hatte, ein wenig wie in Ubahn-Stationen, in denen hinter Glas Zeugnisse der Römer ausgestellt werden,

[ein anderes Imperium, das von Arabern angegriffen wurde; im Herbst 2014 dann mein plötzliches, mir selbst nicht erklärliches Interesse am Untergang des Oströmischen Reiches, plötzlich musste ich unbedingt auch die Geheimgeschichte von Prokopios lesen, in der er die First Lady Theodora I. als eine Frau zu diffamieren versucht, die es gerne mag, mit dem Dienstpersonal zu schlafen und es bedauert, dass ihre Brüste keine Öffnungen haben, die penetriert werden könnten

On the field of pleasure she was never defeated. Often she would go picnicking with ten young men or more, in the flower of their strength and virility, and dallied with them all, the whole night through. When they wearied of the sport, she would approach their servants, perhaps thirty in number, and fight a duel with each of these; and even thus found no allayment of her craving. Once, visiting the house of an illustrious gentleman, they say she mounted the projecting corner of her dining couch, pulled up the front of her dress, without a blush, and thus carelessly showed her wantonness. And though she flung wide three gates to the ambassadors of Cupid, she lamented that nature had not similarly unlocked the straits of her bosom, that she might there have contrived a further welcome to his emissaries.<Quelle>]

saß dann sicher eine Stunde lang in einem dunklen Raum, in dem Fotos von Menschen, die beim Einsturz der Türme ums Leben gekommen waren, auf eine Wand projeiziert wurden, ein Kellner im Windows of the World, eine Frau, die ihre Mutter zum Lunch eingeladen hatte, ein Bankangestellter aus New Jersey, & kein Gedenken würde sie je wieder zum Leben erwecken können, ehe ich schließlich dem Unglück nachging, einer Zeitleiste entlang, die es zu rekonstruieren versuchte, Wände mit Bildschirmen, auf denen sich in Endlosschleifen zuerst das eine, dann das andere Flugzeug in die Zwillingstürme bohrten oder auf denen die Moderatoren einer Frühstücksfernsehen-Sendung die Nachricht erhielten, dass am WTC etwas passiert war, Tafeln mit den Protokollen von Funksprüchen, Radiomeldungen, Notrufen, Botschaften auf Anrufbeantworten, ein Zeitstrahl, auf dem alle paar Sekunden etwas Neues, immer noch Schrecklicheres geschah (das ich 13 Jahre danach noch immer nicht glauben konnte). Später las ich, dass es bei der Eröffnung des Memorial Museums Kritik gegeben hatte; der Condenast Verlag hatte zu einem Cocktailempfang eingeladen, im Museumshop waren fragwürdige Souvenirs angeboten worden, eine Käseplatte zum Beispiel, auf der die Absturzstellen der vier entführten Flugzeuge markiert waren, Zorn gegen den Versuch, das Sterben & Verschwinden zu trivialisieren (ein Zorn, für den ich längst zu müde geworden war, & zu unwillig, anderer Menschen Weisen, sich zu erinnern, abzusnobben; dachte, dass F., wenn ich sie mitgenommen hätte, mich sicher um eine Tasse mit einem Rettungshund angegangen wäre, & an Gespräche, in denen ich ihr von Hunden erzählt hätte, die in Trümmern nach Überlebenden suchen, & dass wir das dann sicher spielen hätten müssen, weil sie alles spielen muss, was sie verstehen will), fuhr hoch zum Union Square, kaufte mir bei Barnes & Noble (einem Ort, dem ich ansah, dass er sich nicht mehr lange gegen das Amazon-Imperium wehren würde können) Rebecca Solnits Men Explain Things To Me, bei Whole Foods ein Sandwich, das ich nach einem Bissen wieder wegwarf, eine große Flasche Orangensaft, die ich auf dem Rasen sitzend in einem einzigen Zug austrank, als wäre ich am Verdursten gewesen.

88.

Der zweite Traum dieses Jahres. Ich war mit einer Frau, die ich nicht kannte, in einem Haus, wir suchten nach Gefäßen, in denen wir die Farbe anmischen konnten, mit der wir die Wände streichen wollten, ich fand eines, das wie ein Katzenkorb aussah (an der Vorderseite eine Klappe mit einem Gitter, durch das die Katze hinaussehen kann1), ich griff von oben (wo keine Öffnung war) hinein und räumte Zeug aus, im allerletzten Moment bemerkte ich, dass da auch Klamotten waren, dann goss ich von oben himmelblaue Farbe in den Katzenkorb, indessen hatte sich einer der Handwerker (?) verkrümelt, ich schickte mich gerade an, meine Walze in das Himmelblau zu tauchen, als, zum ersten Mal seit zwei Wochen, der iPhone-Wecker losging, weil ich mich für heute vormittags mit einer Frau verabredet hatte, um in der Kita aufzuräumen, die zwischen den Jahren neu gestrichen worden ist & mit der ich gestern spätabends noch gesimst hatte, ich darf nicht vergessen, hatte ich noch vor dem Einschlafen gedacht, Fannys rote Kiste mit ihren Wechselsachen mitzunehmen.

Bis vor kurzem habe ich jedem & selbst Patti Smith erzählt, dass ich nie träume, jetzt, während ich den zweiten Traum dieses Jahres notiere, denke ich, dass ich angefangen habe, wie eine Hausfrau zu träumen (& wie ich an Patti Smith immer gemocht habe, dass sie ein paar Jahre Hausfrau & Mutter gewesen ist, jeden Morgen in aller Früh aufstehend, hatte sie mir erzählt, um zu schreiben, ehe die Kinder aufwachten, [ich solle das doch auch versuchen, sagte sie], & [ irgendwann habe ich mich sogar darauf gefreut, so früh aufzustehen, sagte sie].

[She had only one sin; she was without beauty, das andere Überbleibsel aus dieser Nacht, ein Satz aus Patrick Hamiltons Twenty Thousand Streets Under the Sky.]


1 In Brooklyn die Frau, die mit einem Kaninchen an der Leine spazieren ging.

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