vague.

Samstag, 3. September 2022

Ich erinnere mich (2/15)

Ich erinnere mich, dass die Dotterzwillinge, wenn sie sich eine Zigarette an einer zweiten, noch glühenden anzündeten, das "einen Kreisky machen" nannten. Erst Jahre später verstand ich, dass es sich um eine Anspielung auf Bruno Kreiskys jüdische Herkunft gehandelt hatte.

Ich erinnere mich, dass die Dotterzwillinge fragten, wie viele Juden in einen VW Käfer passen. Um dann grinsend "5001" zu sagen: "Einer am Lenkrad, 5000 im Aschenbecher."

Ich erinnere mich, dass es irgendwann über die Dotterzwillinge hieß, sie seien beide an einer Überdosis gestorben.

Ich erinnere mich an die Vornamen der Schinkokinder: Helwig, Gunhild und Adelheid.

Ich erinnere mich an die Aist.

Ich erinnere mich an kurze Hosen. Und wie sehr ich sie hasste.

Ich erinnere mich, dass in Neuseeland fast alle Männer kurze Hosen trugen. Auch in der Sauna.

Ich erinnere mich, dass die Berliner Sommer so heiß wurden, dass ich nur noch kurze Hosen trug.

Ich erinnere mich an die in Seidenpapier verpackten Schokoladentafeln, die Frau Krischke jedes Mal mitbrachte, wenn sie uns babysittete. Und dass sie für uns Orangen so schälte, dass sie wie aufgeblühte Seerosen aussahen.

Ich erinnere mich an die Malerinnen-Serie in der Brigitte meiner Mutter, die ich alle zwei Wochen ausschnitt.

Ich erinnere mich an die Courage.

Ich erinnere mich an unsere körper unser leben. In kleinbuchstaben.

ich erinnere mich an kleinbuchstaben. eine zeitlang waren sie richtig schick, ein protest gegen Großbuchstaben.

ICH ERINNERE MICH, DASS GROSSBUCHSTABEN BEDEUTETEN, DASS MAN ANGEBRÜLLT WURDE.

Ich erinnere mich an die Rechtschreibreform.

Ich erinnere mich, dass ich mir vornahm, niemals Tunfisch zu schreiben. Und es bis gerade eben nie getan zu haben.

Ich erinnere mich an Märtyrerbilder.



Märtyrer.

Ich erinnere mich, dass ich mich bei der Minderheitenfeststellung als slowenischsprachig deklarierte.

Ich erinnere mich an die Angst im Gesicht des Mannes, den ich auf einem Belfaster Friedhof nach dem Weg fragte.

Ich erinnere mich an meine Angst, wenn ich in Belfast an den Checkpoints von Soldaten abgetastet wurde, die kaum älter als ich und mit Maschinenpistolen bewaffnet waren.

Ich erinnere mich an das Karaoke der Thainutten beim Nuttenthai in der Großen Freiheit.

Ich erinnere mich an Montauk.

Ich erinnere mich an Montauk.

Ich erinnere mich an Fafa. Das Haus in Bellport. Die Hummer am Abend, auf der Rückfahrt von Montauk an einem Stand entlang der Straße gekauft.

Ich erinnere mich an David Hockney.

Ich erinnere mich, wie sehr ich David Hockney auf der Stelle mochte, weil er noch großartiger war als meine Vorstellungen über David Hockney.

Ich erinnere mich an minus Delta t.

Ich erinnere mich, dass minus Delta t von mir verlangte, nachts nackt eine Stunde lang ein Lagerfeuer zu umkreisen und dabei ein Lied zu singen.

Ich erinnere mich, dass ich mich auszog und nachts eine Stunde lang ein Lagerfeuer umkreiste, während ich Strangers in the Night trällerte.

Ich erinnere mich, dass minus Delta t mich dabei alleine ließ.

Ich erinnere mich an die Armut meiner Großeltern. Und dass es bei ihnen immer Tee und Grammastettner Krapfen gab.

Ich erinnere mich an den Eiffelturm.



Eiffelturm.

Ich erinnere mich an Vinzenz Murr.

Ich erinnere mich an den Tofuhauttrockner in einem Hinterhof in Kyoto.

Ich erinnere mich an die gegen Regen überdachten Straßen in Kyoto.

Ich erinnere mich an mein Erschrecken, als der Lackschalenmeister sagte, dass die Porzellanschale, aus der ich den Sake trank, aus dem sechsten Jahrhundert stammte.

Ich erinnere mich an die japanischen Familien, die mich darum baten, mich mit ihnen fotografieren zu lassen.

Ich erinnere mich, dass ich gehört hatte, in Tokio gebe es Drehscheiben, auf denen Frauen mit gespreizten Beinen saßen, damit man an ihnen schnuppern konnte, wenn sie an einem vorbeirotierten. Oder Lokale mit verspiegelten Fußböden, damit man den Kellnerinnen, die keine Unterwäsche trugen, zwischen die Beine sehen konnte. Und dass mir das irgendwie einfallsreich vorkam.

Ich erinnere mich, dass ich in Tokio manchmal nach der Schönheit der Schriftzeichen bestellte. Und etwas anderes bestellte, wenn der Kellner mich skeptisch ansah.

Ich erinnere mich an das Camelot.

Ich erinnere mich an das Front.

Ich erinnere mich an das U4.

Ich erinnere mich an die Stadtwerkstatt.

Ich erinnere mich an Violent Femmes. Und wie toll ich es fand, dass man Femmes wie "Femms" aussprach und nicht wie "Famm".

Ich erinnere mich an die Leerräume.

Ich erinnere mich an Elfriede Gerstl.

Ich erinnere mich an Kurt Rudolf Fischer.

Ich erinnere mich an "April is a cruel month".

Ich erinnere mich an den Suizidversuch Friederikes.

Ich erinnere mich, wie Gabi erzählte, jemand in ihrer Verwandtschaft habe sich umgebracht und einen völlig unleserlichen Abschiedsbrief hinterlassen.

Ich erinnere mich an den Mann, der mit mir im Zimmer lag und ununterbrochen darüber zeterte, dass er nach seiner Hämorrhoiden-OP eine Binde tragen musste, er sei schließlich keine Frau.

Ich erinnere mich an Kirschblüten.



Kirschblüten.

Ich erinnere mich an Stempelmarken.

Ich erinnere mich an die Spex.

Ich erinnere mich an modale Logik.

Ich erinnere mich, dass wir in der Fabrik langsamer wurden, wenn jemand aus den Anzugabteilungen auftauchte.

Ich erinnere mich an "Paul Valery / Earned a meagre salary / Walking in the Bois / Observing his Moi".

Ich erinnere mich an "Auf dem Scheißhaus sitzt ein Geist / Der jedem, der zu lange scheißt / Von unten in die Eier beißt".

Ich erinnere mich an Cortison-Spritzen gegen Heuschnupfen.

Ich erinnere mich an Marillen.

Ich erinnere mich an den Marillenschnaps in meiner Schreibtischschublade, für den Fall, dass jemand Trost brauchte.

Ich erinnere mich an den Brief, in dem I. schrieb, jemand habe ihr erzählt, ich sei fett geworden und wie sehr sie das gefreut habe.

Ich erinnere mich an das Nachtpostamt.

Ich erinnere mich an das Interview mit Katrin Achinger von den Kastrierten Philosophen, das nach zehn Minuten zu Ende war, weil die Hafenstraße geräumt werden sollten und wir deswegen zur Hafenstraße mussten.

Ich erinnere mich, dass ich mal Haare hatte.

Ich erinnere mich an die in der Pfanne gerösteten Brotscheiben in der Küche von Nika Brettschneider und Ludvík Kavín, die wir mit aufgeschnittenen Knoblauchzehen einrieben.

Ich erinnere mich, wie ich ein Jahr lang fast jeden Tag in der Kelle schwamm, ehe ich nach Hause ging, bis ich endlich 100 Bahnen am Stück schaffte.

Ich erinnere mich an meine Erleichterung, als ich erfuhr, dass auch Fritz Josef Raddatz in der Kelle schwamm, allerdings immer nur morgens.

Ich erinnere mich an Gebete.



Gebet.

Ich erinnere mich an Thomas Klestil.



Die Aufbahrung Thomas Klestils in der Hofburg.

Ich erinnere mich an die Lebenserinnerungen von Jože Javoršek.

Ich erinnere mich an das Manuskript mit den Lebenserinnerungen von Florence.

Ich erinnere mich, wie glücklich wir im Haus von Alison und Pat in London waren.

Ich erinnere mich an selbstgedrehte Zigaretten mit geriebener Muskatnuss oder getrockneten Bananenschalenfasern, weil wir gehört hatten, dass man davon high werden konnte.

Ich erinnere mich an "high".

Ich erinnere mich an meine Verwirrung nach meinem allerersten Orgasmus. Und dass sie mich nicht davon abhielt, gleich wieder verwirrt sein wollen.

Ich erinnere mich an Kirchschlag.

Ich erinnere mich an die Alkoholvergiftung meines Bruders. Und dass er, als er im Krankenhaus aufwachte und bemerkte, wo er gelandet war, im Krankenhaus-Nachthemd abzuhauen versuchte.

Ich erinnere mich an die Großzügigkeit meiner Eltern bei Geschenken.

Ich erinnere mich an die Kleinlichkeit meiner Eltern bei Gefühlen.

Ich erinnere mich an Anne Urbauers Text über den Dresscode von Selbstmordattentätern.

Ich erinnere mich an den Elektroschmid.

Ich erinnere mich an fancy grüne Cocktails.

Ich erinnere mich an Farben.

Ich erinnere mich, dass ich Punk erst ein Jahr nach seiner Entstehung mitbekam.

Ich erinnere mich, wie groß die Sex Pistols waren.

Ich erinnere mich, wie enttäuschend ich Nirvana fand.

Ich erinnere mich an Madonna, eine gelangweilt herumsitzende Frau, die sich ansehen, aber kein Wort mit sich sprechen ließ.

Ich erinnere mich an Drew Barrymore, eine Stimme am Telefon, die wie ein Sturzbach fröhlich vor sich hinplapperte.

Ich erinnere mich an Cher, eine Erscheinung, die sich selbst erschaffen hatte.

Ich erinnere mich an mein Glück jedes Mal, wenn ich eine Frau zum ersten Mal nackt sah.

Ich erinnere mich, dass ich immer lieber erst lange geschaut hätte, es aber nie dazu kam, weil sie, jedenfalls nicht von mir, nicht so lange angeschaut werden wollte.

Ich erinnere mich, dass Ebba erzählte, wie ihr Vater immer auf ihre Brüste gestarrt hatte.

Ich erinnere mich, dass es Zigaretten auch in 10er-Packungen gab.

Ich erinnere mich an Namen österreichischer Zigarettensorten: Hobby, Flirt Filter, Dames, Smart Export.

Ich erinnere mich, dass ich mir in Zürich alle Gauloises-Sorten kaufte, sicher mehr als Dutzend. Sogar mit Maispapier.

Ich erinnere mich, dass ich keine Ahnung hatte, was Maispapier war. Und noch immer keine habe.

Ich erinnere mich, wie ich in der Druckerei der NZZ darum bat,"Stop the press!" sagen zu dürfen. (Die Antwort lautete: nein.)

Ich erinnere mich an die Ferraris von Hermann Burger. Einen echten und ein halbes Dutzend Modelle.

Ich erinnere mich an Abendsonne.



Abendsonne.

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