Wir sind am Leben, scheint es
Ich muss wieder schreiben. Ich muss endlich wieder schreiben. Ich muss hier endlich wieder etwas schreiben. Ich muss endlich wieder hier etwas schreiben.Eine Zeitlang hat das Schreiben mir den Arsch gerettet. Glaube ich. Dann ist etwas schiefgelaufen. Immer schon bin ich jemand gewesen, der sich nicht retten lassen wollte. Ich hätte nur bitten müssen. Aber ich habe es nie getan. Das ist bei mir eine dumme Kombination aus Stursein und Feigheit. Manchmal wird mir ganz grauselig, wenn ich mir meine Kinder anschaue. Sie haben bis jetzt kein einziges Mal ein Problem damit gehabt, zu sagen, wenn sie Hilfe brauchten. Standen mitten in der Nacht neben meinem Bett, sagten meinen Namen, bis ich aufgewacht war, sagten, sie hätten schlecht geträumt, Angst, seien zu aufgeregt, um einschlafen zu können, ich hob die Decke hoch, sie legten sich in meinen Arm und schliefen ein, alles war gut. Ich weiß nicht, ob ich je so gewesen bin. Ich glaube, ich habe eher in mich hineingewimmert, und wenn es doch jemand gehört hat, ist es mir peinlich gewesen.
„Im zweiten Jahr der Pandemie“.
Gestern ist mir urplötzlich ein Geruch wieder eingefallen, der ungefähr 47 Jahre nicht in mir gewesen ist. Genauer gesagt, ist er meinem Körper eingefallen. Irgendetwas in meinem Körper konnte einen bestimmten Geruch über ein paar Jahrzehnte speichern und ihn dann freigeben, so dass irgendeine Instanz in meinem Körper diesen Geruch identifizieren, chronologisch einordnen, riechen konnte, als wäre er gerade.jetzt in meiner Nase gewesen, in einem Augenblick, in dem dieser Geruch mit Sicherheit nicht vorkam. Ich saß auf einem kleinen Hocker vor dem Café, in dem ich immer doppelten Espresso trinke, nachdem ich Hedi in der Kita abgeliefert habe, es war kalt, es roch nach gar nichts, ich dachte über nichts besonderes nach, urplötzlich roch es in mir wie in dem Sommer, in dem ich das erste Mal in einem Pinienwald in der Nähe des Meeres stand. Wie Proust in seiner Madeleine-Passage hätte ich auf der Stelle Erinnerungsbilder beschwören können, die Wärme dieses Tages, die spitzen Piniennadeln auf dem Boden, die Seeigel, das Frösteln auf der Haut nach dem Schwimmen, das Vierzehnjährigen-Glück, das Zusammenkneifen der Augen vor der blendenden Sonne: Es war alles da, nach viereinhalb Jahrzehnten. Aber es gab in meinem Fall nicht einmal eine Madeleine. Irgendein um einen Geruch kristallisierten Speicher in meinem Körper hatte sich geöffnet, entleert, wie immer man es nennen will. Es macht mich fertig, dass ich nicht weiß, wie so etwas geht, keine Ahnung habe, was es überhaupt bedeutet, sich an einen Geruch zu erinnern, weil ich mich ja nicht wirklich an einen Geruch erinnere, sondern eher an Bilder, die mit diesem Geruch verbunden sind. Wie geht so ein Erinnerungsspeichern? Was geschieht da zwischen Zellen? Wo ist das all die Jahre gewesen? Es macht mich fertig, mit 62 Jahren mir nicht die allereinfachsten Dinge erklären zu können. Und genauso fertig macht es mich, dass es völlig egal ist, ob man sich so etwas erklären kann oder nicht, es kommt ja für das Funktionieren des Lebens nicht darauf an.
Seit einigen Tagen lese ich David Graebers und David Wengrows The Dawn of Everything, in dem die beiden den Versuch unternehmen, eine neue Version der Vorgeschichte zu erzählen, aus dem, was man mittlerweile weiß, zusammenzutragen, wie und in welchen gesellschaftlichen Organisationsformen Menschen gelebt haben, als sie noch nicht die Angewohnheit hatten, alles aufzuschreiben. Es ist nämlich nicht so gewesen, wie die meisten, auch ich, sich das vorstellen. Es gab keine linearen, überall auf der Welt einander ähnelnden Fortschritte, es gab keinen von der Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsweisen bestimmten Masterplan, dem die Menschen, ob sie nun in Asien, Afrika oder Europa lebten, sich unterwerfen mussten. Die Neolithische Revolution, also die Erfindung von Ackerbau, Viehzucht und Sesshaftigkeit, erzwang keine bestimmte Einrichtung der Gesellschaft. Gesellschaften hatten immer ziemlich viele Wahlmöglichkeiten – wer hat Macht, soll überhaupt jemand Macht haben, gibt es Privateigentum, wie werden Ressourcen und Produkte verteilt, wie werden Entscheidungen für alle verhandelt und getroffen, wie geht man mit jenen um, die sich nicht an Regeln, Beschlüsse, Werte halten, usw. Jäger/Sammler- und frühe Ackerbau/Viehzucht-Kulturen haben all diese Fragen völlig unterschiedlich beantwortet, wird von Graeber und Wengrow mit einer Unzahl von Beispielen erzählt. Es gab und gibt in der Geschichte kein Universal-Skript, beim Lesen habe ich manchmal eher den Eindruck: Je länger sie zurückliegt, desto einfallsreicher haben Menschen ihr Zusammenleben organisiert. Aber aus welchen Gründen auch immer (Faulheit, Desinteresse, der Versuch, die Gegenwartspolitik unbezweifelbar aussehen zu lassen, indem man tut, als hätte sie sich mit naturgesetzlicher Unausweichlichkeit entwickelt), nehmen wir supertollen Gegenwartsmenschen das nicht zur Kenntnis und glauben immer noch an die Erzählungen von den noblen Wilden (der Rousseau-Thread) oder den einander an die Gurgel gehenden Wilden, die durch den Staat gebändigt werden müssen (die Hobbes-Erzählung). Die Erzählungen von Graeber/Wengrow, die ihren Ausgang bei Funden und Erkenntnissen von Archäologen, Ethnologen, Anthropologen und anderen Frühgeschichtsforschern nehmen, sind sehr viel diverser und reicher. Und laufen nicht auf die immer gleichen Schlussfolgerungen (früher war es gewalttätiger / friedlicher) hinaus. Sondern eher darauf, dass es sehr viel mehr Möglichkeitssinn und Möglichkeitslust im Umgang mit der Wirklichkeit gegeben hat, als wir von unserer eigenen Wirklichkeit umzingelte Schisser es wahrnehmen. Ein fettes Buch, 704 Seiten, alleine das Literaturverzeichnis ist über 60 Seiten stark, ständig noch eine Abschweifung, ständig noch eine Kultur, von der man nichts wusste, ständig noch ein begeisterndes Wissenspartikel.
[ & während ich es lese, lerne ich mit Fanny GEWI, Antike, Entstehung der Demokratie bei den Athenern. Alles daran ist genauso und genauso schlecht wie in meiner eigenen Schulzeit, Daten- und Fakten-Haufen, die eigentlich nur dazu da sind, bei Tests reproduziert zu werden, damit die gesellschaftliche Selektion eine Zahlengrundlage bekommt, und selbstverständlich anmaßendes Europäergepose, das klingt, als wäre bis zu Solon, Kleisthenes, Perikles niemand je auf die Idee gekommen, dass Menschen keine Tyrannis brauchen. Immerhin wird erwähnt, dass die Frauen und die Sklaven von der Volksherrschaft ausgeschlossen waren (also praktisch alle), aber das ist bloß eine Nebenbemerkung, die nichts am Eindruck der gloriosen Demokratieerfindung durch das gloriose Athen ändert. Man könnte den Kids auch erzählen, dass es schon vor Attika Gesellschaften gegeben hat, in denen niemand versklavt war und in denen Menschen so lange geredet haben, bis ihnen klar war, was sie machen wollten, & dass nicht wenige dieser Gesellschaften von people like us vernichtet worden sind, aber so etwas geschieht nicht. Völlig verrücktes Beharrungsvermögen eines Wissens, das der Überprüfung eher nicht standhält. Und keine wirkliche Ahnung, wie ich damit umgehen soll, will ja nicht der alte Zausel sein, der ihr sagt, dass sie ihr in der Schule Zeug beibringen, das nicht stimmt... ]
Das andere Buch, das ich gerade lese, ist
Man bekommt sie unter diesem Link [pdf].
AnnekeW
Schön, Dich zu lesen.