vague.

Sonntag, 4. Januar 2015

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Im Dezember hatte Claus Lutterbeck auf seiner Website eine Erinnerung an den Fotografen Wilfried Bauer veröffentlicht, der vor zehn Jahren sein Archiv angezunden und dann aus einem Fenster seiner Hamburger Wohnung gesprungen war & danach fragte ich mich zwei Tage lang, ob ich in meiner Stern-Zeit eigentlich je mit Bauer für eine Geschichte unterwegs gewesen war, bis ich mir einbildete, mit ihm 1989 für ein Gartenjournal in Peper Harow gewesen zu sein, einer therapeutic community für delinquente Jugendliche in der Nähe Londons, zu deren Methoden es auch gehört hatte, die Kids Blumenbeete anlegen zu lassen. Es war ein schöner Tag damals, Cirruswolken in einem stahlblauen Himmel, der Garten des 1765 errichteten Herrenhauses stammte von Capability Brown, der Libanon-Zeder, die er gepflanzt hatte, war im Herbst 1987 von einem Sturm über Südengland die Krone gebrochen worden & niemand hatte sie wieder symmetrisch geschnitten, ramponiert war sie immer noch schön, vielleicht schöner denn je, & auf jeden Fall ein Inbild für das pädagogische Programm Peper Harows, das darin bestand, sich Ramponierter anzunehmen, 13-, 15-, 18-jähriger, die bis zu ihrer Rettung durch diese Schule verprügelt, gequält, gefoltert, ausgestoßen, herumgeschoben, auf alle erdenkliche Arten drangsaliert worden waren & ihrerseits sich selbst und andere auf alle erdenkliche Arten quälten. Nun hatten sie Fotostudios, Malateliers, Vollversammlungen, in denen sie erzählen konnten, was in ihnen rumorte, Lehrer, die ihnen zuhörten & ihnen sagten, wie sie in der Dreckswelt, in der sie gelandet waren, überleben konnten, ohne sich & andere kaputtzumachen, und zu "funktionierenden Exzentrikern" zu werden, wie der Therapeut nannte, worauf sie aus waren. & sie hatten Gärten, Blumen, Kräuter, Gemüse, etwas, das sich lieben ließ, dem sie beim Wachsen zusehen konnte, das Fürsorge belohnte, so jedenfalls erklärte es uns Della, mit der wir sprachen & die uns von einem Jungen erzählte, der alles über Kürbisse zu wissen schien, er wurde ganz sanft, während er sich um sie Kümmerte. Im Netz erfuhr ich dann, dass es Peper Harow nicht mehr gab, warum?, warum müsst ihr immer die Orte abschaffen, an denen man zu sich kommen & endlich panikfrei werden kann, & fand auf YouTube zwei BBC-Filme über Peper Harow: eine Dokumentation aus dem Jahr 1973 und eine zweite, zwanzig Jahre später gedreht, das Erwachsenenleben einiger jener Jungs beobachtend, um die es 1973 gegangen war.

So ist Erziehung, gesellschaftliche Empathie, Fernsehen einmal gewesen - ein Ort, an dem ein Junge, der eigentlich keine Chancen mehr hat, entdeckt, dass er Homer mag, Dokumentationen, die ihren Zusehern zeigen wollen, was ginge, wenn man sich Mühe gäbe mit den Ramponierten statt ihrer bloß müde und überdrüssig zu sein. Ob ich damals wirklich mit Wilfried Bauer dort gewesen bin, weiß ich nicht.

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