vague.

Mittwoch, 21. September 2011

19. Schlaf.

Das Kind hat einen Schlaf, dem man anmerkt, es hätte lieber keinen. Es wehrt sich gegen das Einschlafen, so lange es kann. Es dreht noch einmal auf. Es zieht sich hoch und steht dann da. Es muss noch einmal den Wecker untersuchen, es muss noch einmal auf die Snooze-Taste patschen. Oder es greift sich den Babyphone-Sender und drückt auf den Knopf, der das Schlaflied-Programm anwirft, Schlaf Kindlein schlaf, Der Mond ist aufgegangen. Es zetert los. Es will noch einmal die Brust. Nicht wirklich. Bloß einmal kurz saugen. Oder beißen. Oder es beißt mich, ungefähr da, wo meine Brust ist, nicht so genau wie bei ihr, bei mir kommt ja nichts, also ist es egal, ob es gut zielt. Bei einem Erwachsenen wüsste man: ist noch nicht müde, hat keinen Sinn, so zu tun, als könnte das Einschlafen klappen. Einem Erwachsenen würde man sagen: lass’ locker, dann schläfst du schon ein. Oder steh' halt wieder auf. Beim Kind weiß man, man hat es lange genug beobachtet: Jetzt schläft es gleich ein, zwei, drei Minuten noch. Es ist schon auf der Zielgeraden ins Schlafland, genau deswegen muss es noch ein wenig um sich schlagen. Warum es sich so wehrt? Man weiß es nicht. Man hat nur Vermutungen. Aber es sind Vermutungen, die nur bei Erwachsenen Sinn haben. Zum Beispiel, dass es Angst vor dem Schlafen hat. Vor dem Zustand, in dem es ist, wenn es schläft, das Alleinsein, Aus-der-Welt-Fallen. Man rekonstruiert sich ein Babybewusstsein, indem man behelfsmäßig Schlüsse aus seinem eigenen Erwachsenenbewusstsein ableitet. Es kommt einem vor, als hätte es Angst, einen Widerwillen, als wäre der Schlaf für es mit einem Schrecken verbunden. Schon weiß man ein Dutzend und mehr Gründe, warum Schlaf etwas Grauenhaftes ist, sein muss. Nicht für einen selbst, für ein Kind. Es selbst kann dazu nichts sagen. Es gibt Auskünfte, aber in einer Fremdsprache, der man hinterherrät. Es korrigiert die Geschichten nicht, die man sich über seinen Schlaf erzählt. Man kann ihm alles nachsagen. Träumt es? Aber ja. Manchmal seufzt es, quietscht es, es hat sogar schon gelacht, zwei, drei Mal. Sein Gehirn wird auch im Schlaf schuften, es wird nicht anders sein als bei einem selbst. Aber wovon träumt es? Es hat ja keine Sprache. Rede ich in seinen Träumen? Kann es eine Sprache träumen, die es selbst noch nicht sprechen kann? Oder spreche ich in seinen Träumen auf seine Art; brabbelnd? Was sieht es? Wie tauchen in seinen Träumen seine Tageserlebnisse auf? Zieht es sich am Bücherregal hoch und räumt Bücher aus? Stürzt es, fällt es hin? Ißt es Brei? In der letzten »Nido« sagte eine Kindertraum-Forscherin, im Unterschied zu Erwachsenen, die Geschichten träumen, sehen Kinder im Traum Standbilder, wie Fotografien. Aber wie stellt man so etwas fest? Oft lasse ich das Kind auf mir einschlafen. Es liegt auf meinem Oberkörper, seinen Kopf in meiner Schlüsselbeinkuhle, sein Atem manchmal ein leises Schnarchen; das kommt von der Milch, die es noch bekommen hat, glaube ich. Anderthalb, zwei Stunden halte ich das leicht aus, es macht mich jetzt schon fertig, dass das irgendwann nicht mehr möglich sein wird, das Kind wächst ja so rasend schnell, dass man ihm dabei fast zusehen kann. Ein Kind zu haben, ist seltsam, weil man ununterbrochen Abschied nimmt, davon, wie es gerade ist; ständig hat man ein neues Kind, wenn Erwachsene so wären, würde man das sicher nicht aushalten können. Manchmal summe ich es in den Schlaf, es muss sich dabei fühlen wie auf einem vibrierenden Tier liegend (es weiß allerdings nicht, was ein »vibrierendes Tier« ist). Oder ich singe ihm Lieder, Ad-hoc-Texte über alles Mögliche. Oder ich erzähle ihm Romane nach. Moby Dick, Ulysses, Rot und Schwarz undsoweiter, in Babyzusammenfassungen, einem Baby muss man ja alles erläutern, was ein Wal, eine Niere, eine Liebe ist. Nach ein paar Stunden wacht es auf, seltener als bei ihr, bei ihr weiß es, dass es an die Brust gehoben und gestillt wird, überall steht, Stillkinder wachen nachts häufiger auf. Aber wie kann es in seinem Schlaf wissen, dass es neben mir seltener aufwachen muss, weil es von mir keine Brust gibt? Sowieso: Diese ungeheuren Operationen, die Kindergehirne bewältigen, immer wieder kommt es einem vor, als könne man ihnen beim Arbeiten zusehen. Der Rhythmus jetzt: vier Stunden Schlafen, 20 Minuten wach, drei Stunden schlafen, eine Viertelstunde wach, danach noch eine Stunde Schlaf, die letzte Runde. Dann ist es ungefähr sieben. Das Kind ist wach. So wach, wie man es schon lange nicht mehr gewesen ist. Nur zehn Minuten, bitte, zehn Minuten noch. Aber das Kind lacht darüber nur.

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