vague.

Montag, 18. März 2013

73. So letzter Sommer.

Zwei Wochen Paris, fast nur auf Spielplätzen gewesen. Ein paar in der Nähe unserer Urlaubswohnung hatte ich als Lesezeichen auf der Google Map meines iPhones gespeichert, dankbar, dass man Spielplätze per Navigationssystem ansteuern kann, obwohl es mich wieder und wieder mit dem Kinderwagen in die Steilwandtreppen zum Sacre Coeur hoch schicken wollte. Als mir die Umgehungsschleifen zu lange wurden (die Autofahrerroute, wie ich später bemerkte), nahm ich für das allerletzte Stück doch noch die Stufen, ein paar hundert, kam mir vor, das Kind in seinem Wagen wie in einer Art Sänfte vor mir hertragend. Die anderen Montmartre-Touristen trotteten durch die Kirche, die zur Abbüßung der Verbrechen der Kommunarden errichtet worden war, ich patschte im fast leeren Parc de la Turlure an der Rückseite von Sacre Coeur auf den Knopf eines Wasserspenders. Nochmal, nochmal, nochmal, nochmal, nochmal, nochmal, sagte Fanny, nochmal, nochmal, nochmal. Je mehr sie mich scheuchte, desto schwerer wurde mir die Vergänglichkeit, es war der letzte Sommer, ahnte ich, in dem sie das tat. Ein paar Tage später zündete ich doch noch in der Kirche Kerzen an, zwei große für je zehn Euro, fünf kleine für zwei Euro das Stück, flüsterte Wünsche, die keinen etwas angehen, und dass endlich die Kommune anbreche, nicht nur in Paris.

Ich bin so glücklich gewesen in diesen zwei Wochen. Ich saß auf Spielplatzbänken und in Sandkästen und sah zu, dass Fanny nichts passierte. Ich half ihr Rutschen hoch und applaudierte, wenn sie unten ankam, ich hielt mich bereit, sie aufzufangen, falls sie von der Schaukel fiele, wackeln, sagte sie, wackeln, nochmal. Ich setzte sie in Karussellkutschen, winkte ihr bei jeder Runde zu, nochmal, sagte sie, nochmal. Ich setzte sie bei Monoprix in den Einkaufswagen und überreichte ihr feierlich den Käse, die Nudeln, die Entenrillettes, damit sie alles hinter sich in den Wagen legen konnte, danke, sagte ich und sie lachte. Ich ging mit ihr zum Bäcker an der Ecke, jeden Morgen bekam sie eine Chouquette geschenkt, dake, sagte sie. Ich lag mit ihr im Bett, Trotro, sagte sie, dann sahen wir uns auf meinem Ipad Trotro-Folgen an, sie kannte sie alle so gut, dass sie wusste, was gleich geschehen würde. Aua, sagte sie ein paar Augenblicke, ehe das Fahrrad Trotros zerbrach, Papa, sagte sie, und ein paar Sekunden später kam Trotros Vater mit Blumen nach Hause, Nana, sagte sie, schon saß Nana im Sandkasten, und Trotro, der ein wenig verliebt ist, tanzte für sie. Manchmal spielte sie nach, was sie sah. Dann warf sie den Puppenwagen Louises um, des Mädchens, deren Spielzeug sie für zwei Wochen übernommen hatte, und sich selbst neben ihn auf den Boden - der Fahrradunfall, den sie gerade gesehen hatte. Oder sie tanzte, wie Trotro vor Nana tanzte, drehte sich und ließ sich fallen, so wie Trotro vor Nana in den Sand fiel, weil er, um sie zu beeindrucken, die Tänze, die sein Papa und seine Mama ihm beigebracht hatten, zu einem einzigen kombinierte, nicht mit dem Schwindel rechnend, der ihn dabei überkam. Sie versteht jetzt Geschichten, dachte ich, und wie jedes Mal, wenn ich bemerke, dass sie plötzlich etwas Neues kann, ohne dass es ihr jemand beigebracht hätte, tat mir mein Glücklichsein fast weh, ein Schmerz, von dem ich mir oft einrede, dass ich ihn nicht verstehe, obwohl ich weiß, wo er herkommt; ein Kind zu lieben, verlangt, es so weit zu bringen, dass es einen irgendwann verlassen kann. Aber das wird zu sentimental jetzt.

Abends saßen wir zusammen und aßen frische Baguette, Käse, weiße Pfirsiche, auf dem Eurosportplayer liefen die Olympischen Spiele mit französischem Kommentar, dann legte ich mich zu ihr ins Bett, bis sie einschlief. Ich erzählte ihr Geschichten, Arm, sagte sie, weil sie in meinen Arm wollte, manchmal begann sie noch zu reden, Erzählungen zusammengesetzt aus den vielleicht 60, 80, 100 Wörtern, die sie jetzt kennt, Anni Rutsche, sagte sie, weil sie das F in ihrem Namen noch nicht aussprechen kann, oder Hops Hops. Ich hörte ihrem Atmen und den Geräuschen zu, die sie beim Trinken machte, dann war sie weg. Wenn ich eine halbe Stunde später nach ihr sah, hatte sie sich meistens um 90 Grad gedreht, manchmal hörten wir im Nebenzimmer, wie sie träumte, Bär, sagte sie, oder sie lachte im Schlaf.

Jeden Tag sah ich im Internet nach, ob sich Assad sich noch hielt und ob sie beschlossen hatten, Griechenland endgültig fertig zu machen (als erstes würden sie die Grenzen absperren, bildete ich mir ein). Es tat sich nicht viel, auch die Politiker waren in den Ferien. So dringend waren ihre Geschäfte auch wieder nicht, als dass sie sich nicht ein wenig Zeit zum Durchschnaufen nehmen konnten, sie würden es im Winter machen, sagte ich mir.

Doch in Wahrheit dachte ich nicht mehr sehr oft darüber nach,

es war wie immer, wenn sie lange genug über die Punkte auf ihren To-Do-Listen geredet hatten, Griechenland, Syrien, Vorhäute, fiel mir auf, wie völlig egal es war, was ich dachte, ob ich überhaupt etwas dachte,

eine Art moralischer Ermüdungsbruch,

vielleicht war es ihre Taktik, einen so lange zu beschallen, bis man nicht mehr konnte, und das war der Punkt, an dem sie loslegen konnten, weil man schon längst alle Dagegenseingefühle verbraucht hatte. Macht doch euren Kram, wenn er euch so wichtig ist, dachte man, vielleicht gebt ihr dann endlich Ruhe.

Ohnehin hielt das Kind uns in Trab, wollte rutschen statt mit Louises Spielzeug zu spielen, während ich mit dem Laptop auf dem Schoß daneben saß und irgendwelche Söder-Meldungen las. Rutsche, sagte sie, Rutsche, Rutsche. Ich packte meine Tasche, setzte sie in den Buggy und fuhr sie zum Square Léon Serpollet, wo es einen Spielplatz auf zwei Ebenen gab, dazwischen lag ein Garten mit Kräutern, Lavendel, Disteln, struppige südfranzösische Vegetation, erst in diesem Sommer habe ich durch das Kind bemerkt, wie viele solcher Lehr-Gärten es in Paris gibt, neben dem Le Bal wuchsen sogar wilde Himbeeren. Jenseits der Umzäunungen lag eine Stadt, von der ich kaum etwas mitbekam, am ehesten noch den Rhythmus von Parisern, die Kinder hatten und im Sommer nicht ans Meer gefahren waren. Abends um sechs, halb sieben kamen Väter von der Arbeit, mit Baguettes unterm Arm, die sie für das Abendessen gekauft hatten, spielten noch eine halbe Stunde, Stunde mit den Kindern, ehe alle nach Hause abzogen. Tagsüber fast nur Frauen, viele Nannies, manchmal Mütter von Großfamilien, Immigrantinnen aus dem Maghreb mit vier, fünf, sechs Kindern, lachende Pulks, Tüten voller Sandförmchen, unfassbar schöne Gewänder. Sonst hatte ich nicht genug davon bekommen können, stundenlang durch die Stadt zu gehen, war oft nachts noch losgezogen, ohne Ziel, bis ich nicht mehr konnte; jetzt tat ich kaum etwas anderes, als das Kind zu behüten.

Nicht aufhören, dachte ich idiotischerweise, es war ja absehbar, wie bald es wieder aufhören würde, sah uns schon wieder in Berlin mit Wintergesichtern, ein halbes Jahr Depression, mit einem Kind noch schwerer erträglich, sie hatten oft genug erzählt, wie schwer es ihnen im Winter fiel, die Kinder bei Laune zu halten, wurden immer wilder, gingen aufeinander los vor lauter Langeweile, sie kamen kaum an dagegen, die Großen gegen die Kleinen, die sich nicht wehren konnten, im Weg standen, umgeschmissen wurden, Pläne, die Kita so umzubauen, dass eine Art Pufferraum zwischen den Sechsjährigen und den Zweijährigen lag, bis endlich wieder die Sonne schien und alle wieder hinauskonnten, ein Pulk lachender Kinder,

mochte, wie sie in Paris Kinder zu mögen schienen, nichts Besonderes, nur dass jedes Mal, wenn wir mit dem Kind unterwegs waren, jemand es anlächelte, beflirtete, grüßte, gleich am ersten Tag hatten sich im Treppenhaus die Nachbarn begeistert, wie heißt du denn, Fanny sagte ich, ah! Fanny, sagte die alte Dame, ich bin Françoise und das ist Cem, wann hatte sich in Berlin je jemand beim Kind namentlich vorgestellt? So ging das zwei Wochen, und ich vergaß, wie in Berlin immer zwei, drei dabei waren, die ihre Genervtheit signalisierten, Augenrollen, Lippenspannung, Mikrobewegungen, die man dennoch nie übersah, wenn man mit dem Kinderwagen in ein Restaurant kam, Präventivbelästigtheit, weil das Kind weinen könnte, es genügte, dass zwei, drei das machten, damit man sich unerwünscht vorkam. In Paris kein einziger, nicht einmal in den Bussen, berührten das Kind, ein Betrunkener, der eben noch zeternd hinter seiner Frau hergelaufen war, blieb stehen, lachte und malte ihr mit seinen Fingern etwas auf den Kopf, ein Kreuz, einen Stern, irgendein Schutzzeichen, in der Mont Cenis ein alter Vietnamese, der in die Tasche griff und ein Bonbon für sie hervorzog und ihr auf der flachen Hand präsentierte. Wenn du ein alter Mann bist, schwor ich mir, hast du immer Bonbons für die Kinder dabei.

In der Wohnung ein Buch über Kindererziehung, ich las mich in das Kapitel über Zweijährige hinein, "wenn Sie sich dabei beobachten, Ihrem Kind zu häufig zu sagen, dass etwas schmutzig ist, sollten Sie sich prüfen, ob Sie von einem Reinlichkeitszwang befallen sind", ein Abschnitt über Einschlafschwierigkeiten, Sie müssen jetzt mit einigen Ängsten rechnen, mit cauchemars, mit der Angst vor dem Verlust der Freunde, mit peur du noir, Angst vor der Dunkelheit.

Sofort Erleichterung, wie immer, wenn ich den Eindruck hatte, dass jemand Kinder beschreiben, erzählen, verstehen wollte, statt einem zu sagen, wie man sie formen und fürs Leben fit machen könne; der merkwürdige Umstand, der mir irgendwann aufgefallen war, dass wahrscheinlich die Hälfte aller Bücher für kleine Kinder auf die eine oder andere Weise vom Einschlafen und Nichteinschlafenkönnen handelt, als wäre das Wichtigste an ihnen, dass sie einschlafen, sich beim Einschlafen nicht allzuviel Zeit lassen, durchschlafen, die ständigen Hinweise, wie wichtig es sei, Rituale und Rhythmen zu schaffen, Fütterungsstunden, Kuschelminuten, gleichbleibende Abläufe, an denen sie erkennen könnten, dass es nun aber wirklich Zeit für sie sei, Programmierung von Tagesabläufen, "Schläft es schon durch?"-Fragen, die irgendwann eingesetzt hatten, rätselhaft, warum das so wichtig war.

[Geschichte der Erziehungsobsessionen. Sauberkeit. Durchschlafen. Synapsenbildung. Solangewiemöglich-Kindheit. Irreparable-Gehirnschäden-Vermeidung. Persönlichkeit. Fluortabletten. Aufmerksamkeitsdefizitsyndrombekämpfung. &tc.]

[… sich nicht daran erinnern können, welcher Kleinkindgeneration man selbst angehörte…]

[…Geschichte der Wahrnehmungsstörungen von Erwachsenen, Kinder betreffend…]

[erwachsen werden: lernen, ein Langeweiler zu werden]

[Stillsitzenlernen]

[Stilllebenlernen]

[dieser Schmerz jetzt, mitten im Glücklichsein. Mag nicht, dass du größer wirst. Mag nicht, dass du auf diese Weise größer werden musst wie die Großen, ich inklusive, sich das Großsein ausgedacht haben.]

[die Rutschen, die es in Paris nicht gab: von denen man ganz zum Schluss ein Stück fallen, sich den Hinterkopf anschlagen kann, falls man nicht rechtzeitig die Beine ausfährt ("genau diesen Bewegungsablauf sollen sie lernen"); auf den Beinen statt auf dem Hintern landen; eine Zweijährige soll da auch noch nicht hinauf; versuchte mir, den Designer dieser Rutschen vorzustellen, an dem Punkt, an dem er der Rutsche noch einen rechten Winkel gibt statt sie sanft in den Sand auslaufen zu lassen, es muss diesen Punkt ja geben, an dem er so eine Gestaltungs-Entscheidung trifft: jetzt baue ich noch einen Abgrund…]

[DIN DIN EN 1176-1 bis 1176-7]

[Geschichte des Spielplatzes]

[Geräte, die nur einen einzigen Gebrauch zulassen wollen, & wie Kinder sich sofort weitere Verwendungen ausdachten, sobald sie verstanden hatten, was das Gerät und die Erwachsenen, die es gestaltet und gebaut hatten, von ihnen wollten: die Rutsche hoch, vor dem Rutschen einen Ball hinunterrollen lassen, nach dem Rutschen applaudieren, sich nach dem Rutschen in den Sand werfen und aua sagen, Ad-Hoc-Maschinen, die sie immer wieder bauen, ständig neue Choreografien; die Erwachsenen, die ihnen dabei zusehen und nicht wissen, ob sie bloß zusehen oder eingreifen sollen, "eine Rutsche ist zum Rutschen da", "das andere Mädchen will auch rutschen"; auf dem Eurosportplayer dagegen, auf dem die Olympischen Spiele liefen: lauter Menschen, die den einen einzigen Bewegungsablauf raus hatten, Körper, die an ihn angepasst, für ihn optimiert worden waren; der irre Moment meiner Kindheit, in dem es plötzlich den Fosbury-Flop gab, die Aufregung damals, das geht?, ist das erlaubt?; wahrscheinlich sind deswegen die Paralympics so viel besser als die Olympics: lauter Menschen mit unterschiedlichen Tricks statt alle mit demselben. Manchmal Gedankenexperimente, wie die Welt wäre, wenn von Kinder-Bewusstsein mehr übrig bliebe: Hundertmeter-Läufer, die zu tanzen beginnen, stehenbleiben und sich umsehen, zu krabbeln versuchen, gleich noch einmal rennen wollen; das geht doch nicht… ]

[… meine Begeisterungen noch immer, wenn ich Kindern zusehe: wie groß ist das denn alles!, die Augenblicke immer wieder, in denen ich denke, wie großartig sie sind, alle paar Tage ein neuer Trick, eine neue Methode, neue Lust, Wortschatzexplosionen, Charakter, "wie von selbst"; & wie blind es ist, Kleinkinder als langweilig abzutun, wir: die den ganzen Tag, jeden Tag dasselbe tun, reden, denken, empfinden;]

["Das kann doch jedes Kind". – Aber ich nicht mehr.]

[Dieses beängstigende Foto gesehen, Schädel eines Kindes, ging herum im Internet, sagte zu Okka: schau dir das an, so sieht es auch bei Fanny aus, und sie ohgottohgottohgottete, will so etwas gar nicht sehen, weil ich es mir dann vorstellen muss, ihr Empathiemitleiden immer, während ich mir das immer so genau wie möglich vorstellen muss, meine Art von Empathie: alles wissen zu wollen; und dann umzurechnen in meine Erwachsenenwelt, die Versuche, mir vorzustellen, wie es mir ginge, wenn ich in einer Welt lebte, in der man mit mir so umginge wie Erwachsene mit Kindern umgehen, "wie das wohl auf Kinder wirkt?", vielleicht deswegen immer wieder diese Erleichterung, wenn ich das Gefühl habe, dass jemand versucht, Kinder zu verstehen ("wie ginge es Ihnen, wenn Sie monatelang auf dem Rücken liegend herumgefahren würden und nur den Himmel sehen könnten und Gesichter, die sich über Sie beugen?")]

[aber was heißt es, "ein Kind zu verstehen"?]

[… wenn sie doch nur erzählen könnte…]

[abgebrochen]

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